Schamil, ein junger Dagestaner, der sich nach Verlust seines Verwaltungsjobs als Lokalreporter versucht, trifft die Redaktionskollegen in großer Aufregung an. Gerüchte über eine Mauer, die die Russen bauen, um den Kaukasus abzutrennen, machen die Runde. In der Stadt am Kaspischen Meer greift Unruhe um sich, täglich finden Versammlungen statt: Pro-islamische Demonstranten aus Kumykien und Streiter für ein "vereinigtes Lesgistan" debattieren über Grenzfragen, die Atmosphäre ist aufgeheizt. Angst liegt in der Luft.
Doch Schamil versucht, weiterzuleben wie bisher. Er treibt Kampfsport, rast mit Freunden im Auto durch die Stadt, tobt sich in der Disko aus. Wie betäubt sitzt er da, als Madina, seine Verlobte, ihm erklärt, sie werde den Schleier nehmen und einem salafistischen Kämpfer in die Berge folgen. Selbst nachdem es die ersten Toten gegeben hat und seine Kusine Assja, eine belesene junge Frau, ihn überreden will, mit ihr nach Georgien und weiter in den Westen zu fliehen, kann Schamil sein Zaudern nicht überwinden. Dann überstürzen sich die Ereignisse.
Mit feinem Gespür für die heraufziehende Katastrophe erzählt Alissa Ganijewa vom Zerfall und Untergang einer Gesellschaft, die zwischen ihren Extremen zerrissen wird. Doch inmitten des Albtraums zeigt sich, wie eine Vision, das Sehnsuchtsbild jenes "Berges der Freude", auf den sich rettet, wer der Intoleranz und Gewalt überdrüssig ist.
Doch Schamil versucht, weiterzuleben wie bisher. Er treibt Kampfsport, rast mit Freunden im Auto durch die Stadt, tobt sich in der Disko aus. Wie betäubt sitzt er da, als Madina, seine Verlobte, ihm erklärt, sie werde den Schleier nehmen und einem salafistischen Kämpfer in die Berge folgen. Selbst nachdem es die ersten Toten gegeben hat und seine Kusine Assja, eine belesene junge Frau, ihn überreden will, mit ihr nach Georgien und weiter in den Westen zu fliehen, kann Schamil sein Zaudern nicht überwinden. Dann überstürzen sich die Ereignisse.
Mit feinem Gespür für die heraufziehende Katastrophe erzählt Alissa Ganijewa vom Zerfall und Untergang einer Gesellschaft, die zwischen ihren Extremen zerrissen wird. Doch inmitten des Albtraums zeigt sich, wie eine Vision, das Sehnsuchtsbild jenes "Berges der Freude", auf den sich rettet, wer der Intoleranz und Gewalt überdrüssig ist.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Für die Schilderung der unruhigen sozialen und politischen Situation in der Republik Degestan in ihrem Roman kann die Debütantin Alissa Ganijewa auch aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz schöpfen, erklärt Katharina Granzin. Im Modus der indirekten Vermittlung erzählt sie die Geschichte eines jungen, orientierungslos durchs Leben ziehenden Mannes im Angesicht eines islamistischen Putsches, schreibt sie weiter: Die Ereignisse haben sich immer schon ereignet, oft wissen die Figuren erst im Nachhinein, was um sie herum geschehen ist. In einer ähnlich orientierungslosen Situation befindet sich auch das Lesepublikum, wenn es mit einer Vielzahl von Stimmen und Textsorten sowie einer überbordenden Anzahl von Charakteren hantieren muss, schreibt die Kritikerin, die aus ihrer Ermüdung darüber keinen Hehl macht: Diese könne man aber durchaus als beabsichtigt erachten, erklärt sie weiter: Es handele sich dabei womöglich "um die literarische Dekonstruktion einer dagestanischen Identität", die es im Vielvölkerstaat so überhaupt nicht geben kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2014Die radikale Entzauberung des romantischen Kaukasusbildes
Sondermülldeponie der sowjetischen Altlasten: In "Die russische Mauer" erzählt die dagestanische Schriftstellerin Alissa Ganijewa von der Gewaltspirale in ihrer Heimat.
Wir werden von Russland abgetrennt. Grenzer und so, die ganze Geschichte. Eine Berliner Mauer." Die verläuft in Alissa Ganijewas Romandebüt innerhalb Russlands, zwischen dem Mutterland und seiner ungeliebten Teilrepublik Dagestan. Das Buch liefert ein schockierendes Sittenbild über einen heruntergekommenen Teil des russischen Imperiums, in dem sich sowjetische Altlasten und globale Konflikte sammeln wie auf einer hochexplosiven Sondermülldeponie.
Der junge Schamil hat seinen Job im Büro verloren, jetzt versucht er sich als Lokalreporter. Doch für die Geschichte über ein altes Handwerkerdorf interessiert man sich wenig, in der am Kaspischen Meer gelegenen Hauptstadt Machatschkala hat man andere Sorgen. Dagestan ist ein multiethnisches Pulverfass. Salafisten treiben hier ebenso ihr Unwesen wie der russische Geheimdienst im Komplott mit der von ihm korrumpierten lokalen Regierungselite. Tagelang lässt sich Schamil, einem Ulysses gleich, durch die Stadt treiben, die immer mehr zum Schauplatz eines blutigen Bürgerkrieges wird.
Eine Cousine will mit ihm nach Georgien fliehen und von dort weiter gen Westen, die Landeselite hat sich längst abgesetzt oder ist, dieses Gerücht hält sich hartnäckig, von den Islamisten auf eine einsame Insel im Kaspischen Meer entführt worden. In den Behörden des Landes feilt man sich gelangweit die Nägel, gearbeitet wird hier schon lange nicht mehr. Für Brot bilden sich lange Schlangen wie in den schlechtesten kommunistischen Zeiten. Polizisten werden ermordet, und junge Muslime oder solche, die man dafür hält, verschwinden spurlos, als hilflose Racheakte der korrupten Machthaber. Je mehr Einsätze die Sonderkommandos des russischen Geheimdienstes übernehmen, desto mehr Geld bekommen sie aus Moskau zugeteilt. Auf der anderen Seite endet der islamische Traum vom Kalifat, in dem es weder Musik noch Alkohol, noch Schönheitssalons oder weltliche Bildung gibt, in einer Orgie aus Gewalt, bei der aus den Fenstern der städtischen Konzerthalle fliegende Instrumente auf den Straßen zerschellen. Das Land wird zu einem Afghanistan an den Toren Europas.
Mit dem Namen Dagestans verbindet man heute vor allem eins: militanten Islamismus. Während der Winterspiele in Sotschi zittert derzeit die ganze Welt, ob sich sogenannte schwarze Witwen oder fanatische junge Wahhabiten zusammen mit Sportlern und Zuschauern in die Luft jagen werden oder ob der starke Mann Russlands, dessen Vorname nichts anderes heißt als einer, der groß in seiner Macht ist, die Sache in den Griff bekommt.
Wer wüsste aber im Westen, dass es gar keine Dagestaner gibt, sondern dass die größte dortige Volksgruppe, die gut siebzehn Prozent der knapp drei Millionen Bewohner in der russischen Teilrepublik stellt, Darginer heißt. Sie teilen sich das kleine bergige Land zwischen Kaspischem Meer und Kaukasus - etwa so groß wie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zusammen - mit Awaren, Aserbaidschanern, Lesgiern, Kumyken, Laken, Nogiern, Tabassaranen und vielen anderen Ethnien, womit man bei einem der vielen Probleme dieser Notstandszone am Rande Europas wäre. In Ganijewas Roman schreien sich die Vertreter der unterschiedlichen Volksgruppen auf einem öffentlichen Platz in der Hauptstadt gegenseitig an. Schuld am Elend sind immer die anderen.
In der russischen Literatur und mehr noch in der in der Sowjetunion hochgezüchteten Nationalliteratur der Kaukasusvölker wurden diese Landstriche und die in sie einziehende sozialistische Moderne gern romantisch verklärt. Ganijewa, eine 1985 in Moskau geborene awarische Autorin und Absolventin des hauptstädtischen Literaturinstituts, liefert nun eine radikale Entzauberung. Bereits 2009 hatte sie für ihre Erzählung "Salam, Dalgat", in der vieles schon auf ihren jetzt auf Deutsch erschienenen Roman verbindet, den renommierten Debüt-Literaturpreis erhalten. Dass eine junge Frau aus Dagestan aus einer radikal männlichen Perspektive schreibt und gleichzeitig ihre Heimat schonungslos seziert, war eine Sensation (F.A.Z. vom 21. August 2013).
Das große Problem, sagt Alissa Ganijewa, sei die Marginalisierung ihres Landes. Über Jahrhunderte habe sich in der Abgeschiedenheit seiner Bergdörfer die archaische Kultur erhalten, die aus einer Mischung aus Stammestraditionen und Islam bestand. Diese Isolation war ein Garant fürs Überleben. Was jetzt an kultureller Vielfalt Einzug halte, seien billiger Wodka, das unerträglich stupide russische Fernsehen, Drogen, Diskomusik und Korruption. Die nationalen Sprachen beherrschten heute die wenigsten, dem aufbrechenden Nationalismus leiste dies keinen Abbruch. Was aus dem Westen und aus Russland komme, werde als Bedrohung empfunden. Neuankömmlinge aus Pakistan oder Saudi-Arabien haben leichtes Spiel bei der enttäuschten Jugend. Wo es kein Recht und keine Ordnung mehr gebe, erscheine die Scharia manchem biederen Dorfbewohner als Rettungsanker. Lieber die Scharia als gar kein Recht.
Mittels einer konsequent durchgehaltenen Polyphonie der Stimmen findet solches gesellschaftliche Chaos im Buch sein Echo. Schamil, der zu Beginn dem Wahnsinn noch einen Hauch von Vernunft entgegensetzen möchte, verstummt immer mehr und wird schließlich mit in die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt, die kein Gut und Böse kennt, gerissen.
Nicht jedes erschütternde Buch ist aber gleichzeitig ein Meisterwerk, und so kämpft man sich streckenweise ebenso mühselig durch diesen in salopper Jugendsprache geschriebenen Roman wie sein Held durch die dagestanische Realität. Ein Glossar für die vielen auch in der Übersetzung im Awarischen, Darginischen oder einer kaukasischen Mischsprache belassenen Idiome wäre sinnvoller gewesen als die endlosen Anmerkungen auf den Seiten, und manchmal ist es wohl auch einfach zu viel des sprachethnologischen Eifers. Zwar weiß man nun, das "Sagraj" auf Lesgisch "Mach's gut!" heißt, aber das deutsche Äquivalent hätte es hier und an vielen anderen Stellen auch getan.
SABINE BERKING
Alissa Ganijewa: "Die russische Mauer". Roman.
Aus dem Russischen von Christiane Körner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 232 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sondermülldeponie der sowjetischen Altlasten: In "Die russische Mauer" erzählt die dagestanische Schriftstellerin Alissa Ganijewa von der Gewaltspirale in ihrer Heimat.
Wir werden von Russland abgetrennt. Grenzer und so, die ganze Geschichte. Eine Berliner Mauer." Die verläuft in Alissa Ganijewas Romandebüt innerhalb Russlands, zwischen dem Mutterland und seiner ungeliebten Teilrepublik Dagestan. Das Buch liefert ein schockierendes Sittenbild über einen heruntergekommenen Teil des russischen Imperiums, in dem sich sowjetische Altlasten und globale Konflikte sammeln wie auf einer hochexplosiven Sondermülldeponie.
Der junge Schamil hat seinen Job im Büro verloren, jetzt versucht er sich als Lokalreporter. Doch für die Geschichte über ein altes Handwerkerdorf interessiert man sich wenig, in der am Kaspischen Meer gelegenen Hauptstadt Machatschkala hat man andere Sorgen. Dagestan ist ein multiethnisches Pulverfass. Salafisten treiben hier ebenso ihr Unwesen wie der russische Geheimdienst im Komplott mit der von ihm korrumpierten lokalen Regierungselite. Tagelang lässt sich Schamil, einem Ulysses gleich, durch die Stadt treiben, die immer mehr zum Schauplatz eines blutigen Bürgerkrieges wird.
Eine Cousine will mit ihm nach Georgien fliehen und von dort weiter gen Westen, die Landeselite hat sich längst abgesetzt oder ist, dieses Gerücht hält sich hartnäckig, von den Islamisten auf eine einsame Insel im Kaspischen Meer entführt worden. In den Behörden des Landes feilt man sich gelangweit die Nägel, gearbeitet wird hier schon lange nicht mehr. Für Brot bilden sich lange Schlangen wie in den schlechtesten kommunistischen Zeiten. Polizisten werden ermordet, und junge Muslime oder solche, die man dafür hält, verschwinden spurlos, als hilflose Racheakte der korrupten Machthaber. Je mehr Einsätze die Sonderkommandos des russischen Geheimdienstes übernehmen, desto mehr Geld bekommen sie aus Moskau zugeteilt. Auf der anderen Seite endet der islamische Traum vom Kalifat, in dem es weder Musik noch Alkohol, noch Schönheitssalons oder weltliche Bildung gibt, in einer Orgie aus Gewalt, bei der aus den Fenstern der städtischen Konzerthalle fliegende Instrumente auf den Straßen zerschellen. Das Land wird zu einem Afghanistan an den Toren Europas.
Mit dem Namen Dagestans verbindet man heute vor allem eins: militanten Islamismus. Während der Winterspiele in Sotschi zittert derzeit die ganze Welt, ob sich sogenannte schwarze Witwen oder fanatische junge Wahhabiten zusammen mit Sportlern und Zuschauern in die Luft jagen werden oder ob der starke Mann Russlands, dessen Vorname nichts anderes heißt als einer, der groß in seiner Macht ist, die Sache in den Griff bekommt.
Wer wüsste aber im Westen, dass es gar keine Dagestaner gibt, sondern dass die größte dortige Volksgruppe, die gut siebzehn Prozent der knapp drei Millionen Bewohner in der russischen Teilrepublik stellt, Darginer heißt. Sie teilen sich das kleine bergige Land zwischen Kaspischem Meer und Kaukasus - etwa so groß wie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zusammen - mit Awaren, Aserbaidschanern, Lesgiern, Kumyken, Laken, Nogiern, Tabassaranen und vielen anderen Ethnien, womit man bei einem der vielen Probleme dieser Notstandszone am Rande Europas wäre. In Ganijewas Roman schreien sich die Vertreter der unterschiedlichen Volksgruppen auf einem öffentlichen Platz in der Hauptstadt gegenseitig an. Schuld am Elend sind immer die anderen.
In der russischen Literatur und mehr noch in der in der Sowjetunion hochgezüchteten Nationalliteratur der Kaukasusvölker wurden diese Landstriche und die in sie einziehende sozialistische Moderne gern romantisch verklärt. Ganijewa, eine 1985 in Moskau geborene awarische Autorin und Absolventin des hauptstädtischen Literaturinstituts, liefert nun eine radikale Entzauberung. Bereits 2009 hatte sie für ihre Erzählung "Salam, Dalgat", in der vieles schon auf ihren jetzt auf Deutsch erschienenen Roman verbindet, den renommierten Debüt-Literaturpreis erhalten. Dass eine junge Frau aus Dagestan aus einer radikal männlichen Perspektive schreibt und gleichzeitig ihre Heimat schonungslos seziert, war eine Sensation (F.A.Z. vom 21. August 2013).
Das große Problem, sagt Alissa Ganijewa, sei die Marginalisierung ihres Landes. Über Jahrhunderte habe sich in der Abgeschiedenheit seiner Bergdörfer die archaische Kultur erhalten, die aus einer Mischung aus Stammestraditionen und Islam bestand. Diese Isolation war ein Garant fürs Überleben. Was jetzt an kultureller Vielfalt Einzug halte, seien billiger Wodka, das unerträglich stupide russische Fernsehen, Drogen, Diskomusik und Korruption. Die nationalen Sprachen beherrschten heute die wenigsten, dem aufbrechenden Nationalismus leiste dies keinen Abbruch. Was aus dem Westen und aus Russland komme, werde als Bedrohung empfunden. Neuankömmlinge aus Pakistan oder Saudi-Arabien haben leichtes Spiel bei der enttäuschten Jugend. Wo es kein Recht und keine Ordnung mehr gebe, erscheine die Scharia manchem biederen Dorfbewohner als Rettungsanker. Lieber die Scharia als gar kein Recht.
Mittels einer konsequent durchgehaltenen Polyphonie der Stimmen findet solches gesellschaftliche Chaos im Buch sein Echo. Schamil, der zu Beginn dem Wahnsinn noch einen Hauch von Vernunft entgegensetzen möchte, verstummt immer mehr und wird schließlich mit in die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt, die kein Gut und Böse kennt, gerissen.
Nicht jedes erschütternde Buch ist aber gleichzeitig ein Meisterwerk, und so kämpft man sich streckenweise ebenso mühselig durch diesen in salopper Jugendsprache geschriebenen Roman wie sein Held durch die dagestanische Realität. Ein Glossar für die vielen auch in der Übersetzung im Awarischen, Darginischen oder einer kaukasischen Mischsprache belassenen Idiome wäre sinnvoller gewesen als die endlosen Anmerkungen auf den Seiten, und manchmal ist es wohl auch einfach zu viel des sprachethnologischen Eifers. Zwar weiß man nun, das "Sagraj" auf Lesgisch "Mach's gut!" heißt, aber das deutsche Äquivalent hätte es hier und an vielen anderen Stellen auch getan.
SABINE BERKING
Alissa Ganijewa: "Die russische Mauer". Roman.
Aus dem Russischen von Christiane Körner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 232 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2014Unpaarhufer mit Handy
Die junge Autorin Alissa Ganijewa lebt in Moskau – in ihrem ersten Roman kehrt sie
in ihre Herkunftswelt, die Kaukasus-Region, zurück
VON BURKHARD MÜLLER
Schon der allererste Satz lässt ahnen, was bevorsteht. „Anwar, hol den Korkenzieher!“, ruft Jussup gutgelaunt auf einer ad-hoc-Party. Noch weiß man weder, wer Anwar noch, wer Jussup ist, und von Dagestan samt seiner Hauptstadt Machatschkala braucht man ebenfalls nie gehört zu haben. Aber dass Anwar einen islamischen Namen darstellt und der Korkenzieher den Genuss eines alkoholischen Getränks vorbereitet, von dem Muslims sich kraft ihres Glaubens doch fernhalten sollten: hier liegt das Konflikt-Potential klar zutage.
Sogleich erhebt auch der sonst so schweigsame Dibir Einspruch: Der Koran verbietet nicht, wie die laxe heimische Praxis es gern hätte, sich zu b e trinken, er verbietet zu t r i n k e n. Das passt nun schlecht zu dem Umstand, dass aus dem muslimischen Dagestan 90 Prozent der russischen Kognak-Produktion stammen. Dibir nimmt keinen Tropfen zu sich und verdirbt den anderen die Stimmung. Die ist ohnehin angespannt. Die Frauen, im russisch-sowjetischen Laizismus aufgewachsen, befürchten, dass ihre ernsthaften Töchter den Schleier nehmen. Gulja zum Beispiel, die ihren Rock glatt streicht und von der Tochter erzählt: „Patja hat die urasa eingehalten, da kommt sie eines Tages bei Regen nach Hause und heult. Mir ist, sagt sie, Wasser ins Ohr gekommen, jetzt ist das Fasten gebrochen. Ich bin so wütend geworden! Schluss damit, sag ich zu ihr.“
Dabei geht es gerade erst los. Dem Leser auf farbige und unterhaltsame Weise vor Augen zu führen, wie die verwickelten sozialen und politischen Verhältnisse in dieser unruhigen russischen Teilrepublik liegen, das ist das Werk der jungen Autorin Alissa Ganijewa, 1985 in Dagestan geboren, die mit „Die russische Mauer“ ihren vielbeachteten ersten Roman vorlegt. Sie lebt heute in Moskau.
Von uns aus gesehen, ist Dagestan der entlegenste Winkel Europas, eingezwängt zwischen Kaspischem Meer und Kaukasus, mit Sandwüsten, subtropischen Wäldern und arktischem Hochgebirge, das ethnisch am meisten zersplitterte Gebiet unseres Kontinents. Dem Leser begegnen Awaren (die vor allem), Kumyken, Lasgen, Darginen, Russen natürlich, Aseri, Laken, Nogaier, insgesamt rund 30 Völkerschaften bei einer Gesamt-Bevölkerung von drei Millionen. Vom Ausland wenig beachtet, spielt sich hier ein Bürgerkrieg niedriger Intensität ab.
Um all das verständlich zu machen, benötigt nicht erst die deutsche Übersetzerin Christiane Körner, sondern schon die Autorin selbst eine Fülle von Fußnoten. Die urasa, erfährt man, ist die Enthaltung von Essen, Trinken und Rauchen während des Ramadan. „Le“ ist eine emotionale Partikel, die im Awarischen im Umgang mit Männern verwendet wird, „Yo“ die entsprechende für Frauen. Ein „Ai-ui“ ist ein „Affentanz, Theater, Tamtam“, während man beim Trinken mit „Sachli!“ anstößt. Die Darginen tun dasselbe mit „Derchab!“ Wenn die Kumyken ein „Tjus, tjus!“ von sich geben, dann weiß man, dass man es richtig gemacht hat, während „Zap“ aus dem Mund eines Lesgen den Ausdruck starker Missbilligung darstellt, bezeichnet es doch den „Mist von Unpaarhufern“.
Diese Art, einen Roman zu schreiben, hat ihren Reiz und ihre Gefahren. Die Vielfalt der Ethnien ermutigt zum ethnologischen, das heißt zum kolonial überlegenen Blick. Natürlich ist es amüsant, einem testosterongeladenen Jung-Awaren am Handy zuzuhören, wie er vor den Ohren seiner Kumpels eine seiner angeblich unzähligen willigen Tussis anruft; simultan versucht er, sie mit seinem Charme einzuwickeln und vor den anderen herunterzumachen, ein schwieriges double-bind. Aber die Figuren verwandeln sich dabei in Exponate, in einen exotischen Cocktail aus Schlitzohrigkeit, Gewaltbereitschaft und altertümlichen Tugenden wie Gastfreundschaft und Ehrenstolz. Der Protagonist, Schamil, Jungmann dagestanischen Stils, Journalist und manches andere noch dazu, bleibt in der Buntheit seiner Umwelt eigentümlich blass; man fiebert nicht wirklich mit ihm, wenn er seine fromm gewordene Verlobte zur Rede stellt und sie ihm eine rechthaberische Abfuhr erteilt.
Auch Plot und Pointe des Buchs verrauchen. Russland hat es satt mit seinen aufmüpfigen südlichen Provinzen und zieht eine Mauer, die Dagestan vom russischen Kernland abtrennt. Daraufhin übernimmt eine Art lokaler Taliban die Macht, die ihren gemütlichen Glaubensbrüdern und -schwestern die härteste Gangart des Islam aufzwingen. Prostituierte werden hingerichtet, unbegleiteten Frauen auf der Straße droht dasselbe Schicksal; Strom, Wasserversorgung, das gesamte Wirtschaftsleben brechen zusammen.
Für die verzwickte Liebe zu ihrer Herkunftsregion hat Ganijewa noch nicht die passende Form gefunden. Was sie einstweilen stattdessen liefert, hat verteufelte Ähnlichkeit mit einem Verrat. Ihr Buch, das ja vor allem ein russisches Ereignis bedeutet, wird jene Kreise des Mutterlandes in ihrer Meinung bestärken, die die muslimischen Kaukasier sowieso für Banditen und Terroristen halten. Sollte besagte Mauer demnächst wirklich gebaut werden – Ganijewa wäre daran nicht unschuldig. Wie sehr sie noch auf der Suche ist, deuten die ausgedehnten Schein-Zitate an (in Wahrheit ihre eigene Erfindung), die sie unter ironischem Vorwand einflicht: einen „Ankunfts“-Roman im Geist des Stalinismus, ein opportunistisches Tagebuch aus den Achtzigern, einen Heimat-Bergroman (Heidi auf kaukasisch, mit Drillingsgeburt und vielen Toten), ein Langgedicht nach dem Vorbild Puschkins. Die Ironie dient ihr als schützendes Gehäuse der Wünsche.
Das alles würde Ganijewa wahrscheinlich gern mal wirklich ausführen. Ihr plötzlicher Ruhm heißt nicht, dass hier etwas schon fertig wäre, sondern dass sie den Finger auf eine wunde Stelle gelegt hat. Zu deren Heilung beizutragen, könnte sich für sie als lockende literarische, und noch weit mehr als literarische Aufgabe erweisen.
Alissa Ganijewa: Die russische Mauer. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 232 Seiten, 22,95 Euro, E-Book 19,99 Euro.
Die Ironie dient dieser
jungen Autorin als
Gehäuse ihrer Wünsche
Heidi auf kaukasisch: In der russischen Teilrepublik Dagestan, einem der entlegensten Winkel Europas, spielt der Roman. Unser Bild zeigt die Ortschaft Kubatschi, berühmt vor allem für ihre Silber- und Goldschmiedekunst.
Foto: Reuters
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Die junge Autorin Alissa Ganijewa lebt in Moskau – in ihrem ersten Roman kehrt sie
in ihre Herkunftswelt, die Kaukasus-Region, zurück
VON BURKHARD MÜLLER
Schon der allererste Satz lässt ahnen, was bevorsteht. „Anwar, hol den Korkenzieher!“, ruft Jussup gutgelaunt auf einer ad-hoc-Party. Noch weiß man weder, wer Anwar noch, wer Jussup ist, und von Dagestan samt seiner Hauptstadt Machatschkala braucht man ebenfalls nie gehört zu haben. Aber dass Anwar einen islamischen Namen darstellt und der Korkenzieher den Genuss eines alkoholischen Getränks vorbereitet, von dem Muslims sich kraft ihres Glaubens doch fernhalten sollten: hier liegt das Konflikt-Potential klar zutage.
Sogleich erhebt auch der sonst so schweigsame Dibir Einspruch: Der Koran verbietet nicht, wie die laxe heimische Praxis es gern hätte, sich zu b e trinken, er verbietet zu t r i n k e n. Das passt nun schlecht zu dem Umstand, dass aus dem muslimischen Dagestan 90 Prozent der russischen Kognak-Produktion stammen. Dibir nimmt keinen Tropfen zu sich und verdirbt den anderen die Stimmung. Die ist ohnehin angespannt. Die Frauen, im russisch-sowjetischen Laizismus aufgewachsen, befürchten, dass ihre ernsthaften Töchter den Schleier nehmen. Gulja zum Beispiel, die ihren Rock glatt streicht und von der Tochter erzählt: „Patja hat die urasa eingehalten, da kommt sie eines Tages bei Regen nach Hause und heult. Mir ist, sagt sie, Wasser ins Ohr gekommen, jetzt ist das Fasten gebrochen. Ich bin so wütend geworden! Schluss damit, sag ich zu ihr.“
Dabei geht es gerade erst los. Dem Leser auf farbige und unterhaltsame Weise vor Augen zu führen, wie die verwickelten sozialen und politischen Verhältnisse in dieser unruhigen russischen Teilrepublik liegen, das ist das Werk der jungen Autorin Alissa Ganijewa, 1985 in Dagestan geboren, die mit „Die russische Mauer“ ihren vielbeachteten ersten Roman vorlegt. Sie lebt heute in Moskau.
Von uns aus gesehen, ist Dagestan der entlegenste Winkel Europas, eingezwängt zwischen Kaspischem Meer und Kaukasus, mit Sandwüsten, subtropischen Wäldern und arktischem Hochgebirge, das ethnisch am meisten zersplitterte Gebiet unseres Kontinents. Dem Leser begegnen Awaren (die vor allem), Kumyken, Lasgen, Darginen, Russen natürlich, Aseri, Laken, Nogaier, insgesamt rund 30 Völkerschaften bei einer Gesamt-Bevölkerung von drei Millionen. Vom Ausland wenig beachtet, spielt sich hier ein Bürgerkrieg niedriger Intensität ab.
Um all das verständlich zu machen, benötigt nicht erst die deutsche Übersetzerin Christiane Körner, sondern schon die Autorin selbst eine Fülle von Fußnoten. Die urasa, erfährt man, ist die Enthaltung von Essen, Trinken und Rauchen während des Ramadan. „Le“ ist eine emotionale Partikel, die im Awarischen im Umgang mit Männern verwendet wird, „Yo“ die entsprechende für Frauen. Ein „Ai-ui“ ist ein „Affentanz, Theater, Tamtam“, während man beim Trinken mit „Sachli!“ anstößt. Die Darginen tun dasselbe mit „Derchab!“ Wenn die Kumyken ein „Tjus, tjus!“ von sich geben, dann weiß man, dass man es richtig gemacht hat, während „Zap“ aus dem Mund eines Lesgen den Ausdruck starker Missbilligung darstellt, bezeichnet es doch den „Mist von Unpaarhufern“.
Diese Art, einen Roman zu schreiben, hat ihren Reiz und ihre Gefahren. Die Vielfalt der Ethnien ermutigt zum ethnologischen, das heißt zum kolonial überlegenen Blick. Natürlich ist es amüsant, einem testosterongeladenen Jung-Awaren am Handy zuzuhören, wie er vor den Ohren seiner Kumpels eine seiner angeblich unzähligen willigen Tussis anruft; simultan versucht er, sie mit seinem Charme einzuwickeln und vor den anderen herunterzumachen, ein schwieriges double-bind. Aber die Figuren verwandeln sich dabei in Exponate, in einen exotischen Cocktail aus Schlitzohrigkeit, Gewaltbereitschaft und altertümlichen Tugenden wie Gastfreundschaft und Ehrenstolz. Der Protagonist, Schamil, Jungmann dagestanischen Stils, Journalist und manches andere noch dazu, bleibt in der Buntheit seiner Umwelt eigentümlich blass; man fiebert nicht wirklich mit ihm, wenn er seine fromm gewordene Verlobte zur Rede stellt und sie ihm eine rechthaberische Abfuhr erteilt.
Auch Plot und Pointe des Buchs verrauchen. Russland hat es satt mit seinen aufmüpfigen südlichen Provinzen und zieht eine Mauer, die Dagestan vom russischen Kernland abtrennt. Daraufhin übernimmt eine Art lokaler Taliban die Macht, die ihren gemütlichen Glaubensbrüdern und -schwestern die härteste Gangart des Islam aufzwingen. Prostituierte werden hingerichtet, unbegleiteten Frauen auf der Straße droht dasselbe Schicksal; Strom, Wasserversorgung, das gesamte Wirtschaftsleben brechen zusammen.
Für die verzwickte Liebe zu ihrer Herkunftsregion hat Ganijewa noch nicht die passende Form gefunden. Was sie einstweilen stattdessen liefert, hat verteufelte Ähnlichkeit mit einem Verrat. Ihr Buch, das ja vor allem ein russisches Ereignis bedeutet, wird jene Kreise des Mutterlandes in ihrer Meinung bestärken, die die muslimischen Kaukasier sowieso für Banditen und Terroristen halten. Sollte besagte Mauer demnächst wirklich gebaut werden – Ganijewa wäre daran nicht unschuldig. Wie sehr sie noch auf der Suche ist, deuten die ausgedehnten Schein-Zitate an (in Wahrheit ihre eigene Erfindung), die sie unter ironischem Vorwand einflicht: einen „Ankunfts“-Roman im Geist des Stalinismus, ein opportunistisches Tagebuch aus den Achtzigern, einen Heimat-Bergroman (Heidi auf kaukasisch, mit Drillingsgeburt und vielen Toten), ein Langgedicht nach dem Vorbild Puschkins. Die Ironie dient ihr als schützendes Gehäuse der Wünsche.
Das alles würde Ganijewa wahrscheinlich gern mal wirklich ausführen. Ihr plötzlicher Ruhm heißt nicht, dass hier etwas schon fertig wäre, sondern dass sie den Finger auf eine wunde Stelle gelegt hat. Zu deren Heilung beizutragen, könnte sich für sie als lockende literarische, und noch weit mehr als literarische Aufgabe erweisen.
Alissa Ganijewa: Die russische Mauer. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 232 Seiten, 22,95 Euro, E-Book 19,99 Euro.
Die Ironie dient dieser
jungen Autorin als
Gehäuse ihrer Wünsche
Heidi auf kaukasisch: In der russischen Teilrepublik Dagestan, einem der entlegensten Winkel Europas, spielt der Roman. Unser Bild zeigt die Ortschaft Kubatschi, berühmt vor allem für ihre Silber- und Goldschmiedekunst.
Foto: Reuters
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"Alissa Ganijewa führt ihre LeserInnen in eine Welt, die von Zerrisseriheit geprägt ist ...Es sind nicht zuallererst die bewaffneten Auseinandersetzungen, die im Fokus stehen. Sondern die feinen Trennlinien zwischen Menschen, die an einem gemeinsamen Küchentisch sitzen."
Katrin Rönicke, Missy Magazine 1/2014
Katrin Rönicke, Missy Magazine 1/2014