Dieser magische Roman beginnt mit einer Beerdigung: Die 30-jährige Norma Ross hat soeben ihre Mutter Anita verloren. Während Norma auf ihr Taxi wartet, kondoliert ihr ein unbekannter Mann, der sich als Max Lambert, ein alter Freund ihrer Mutter, vorstellt. Doch Lambert ist kein alter Freund, sondern der Inhaber des Frisiersalons, in dem Anita arbeitete. Norma glaubt nicht daran, dass ihre Mutter Selbstmord begangen hat, und sucht in ihrer Wohnung nach Hinweisen auf das, was wirklich geschehen ist ...
»Ein spannender Roman voller Magie und Dramatik.« Der Spiegel
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017Die schwatzhafte Locke
Es geht ums Haar, und deshalb geht es ums Ganze: In ihrem Roman "Die Sache mit Norma" folgt Sofi Oksanen den Spuren der Leihmutter-Mafia.
Von Tilman Spreckelsen
Dass man die Beerdigung der eigenen, lange vor der Zeit und gewaltsam ums Leben gekommenen Mutter nicht aushält, ist verständlich. Dass man sich deshalb noch vor dem Leichenschmaus davonmacht, sicher auch. Und dass man einen aufdringlichen Fremden aus der Trauergesellschaft nicht sofort zuordnen kann, erstaunt dann nicht weiter. Irritierend ist aber, auf welche Weise Norma, die Tochter der Toten, jenen unbekannten Besucher wahrnimmt: Nachdem sie dessen zurückweichenden Haaransatz, die gealterte Gesichtshaut, die Tränensäcke und die geplatzten Äderchen registrierte, riecht sie im Stirnschweiß des Mannes das "Bier vom Vorabend", identifiziert das Rasierwasser ("von Kouros und frisch, keines, das jahrelang im Schrank gestanden hatte") und das Haarshampoo des Fremden. Geradezu argwöhnisch macht dann der auf diese Leistung folgende Satz: "Damit endete Normas Bestandaufnahme, ihre Nase war noch von den Medikamenten und der Trauer erschöpft."
So beginnt "Die Sache mit Norma", der fünfte Roman der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen, und diesen unterkühlten Anfang wird man erst nach der beendeten Lektüre des Romans ganz erfassen können, so wie überhaupt das Buch beim zweiten Lesen noch gewinnt. Sehr viel von dem, was "Die Sache mit Norma" prägen wird, ist darin angelegt, und zwar weniger in dem, was an handfesten Informationen zu den Figuren und ihrer Konstellation vermittelt wird, sondern viel mehr in den irritierenden Momenten - wenn die verblüffenden olfaktorischen Erkenntnisse Normas mit einer limitierten Nase erzielt werden, wozu wäre sie dann erst im vollen Besitz ihres Geruchssinns fähig?
Erst vor dem Hintergrund der gesamten Handlung zeigt sich, wie elegant und effizient die Autorin (und ihr deutscher Übersetzer Stefan Moster) Beiläufigkeit und Bedeutung verschränken. Die Zusammenhänge, die am Ende offenbar werden, haben jedenfalls von Beginn an ihre Vorzeichen. Erzählt wird die kurze Geschichte der nun verwaisten, etwas über dreißigjährigen Norma und das, was sie im Lauf des Romans über die vorangehenden drei Generationen ihrer Familie herausfindet. Außer dem Geheimnis, das den Tod ihrer Mutter Anita umgibt, nötigt sie dazu das Rätsel ihrer eigenen Existenz, das sich dem Leser schrittweise offenbart: Norma ist nicht nur äußerst sensibel, wenn es um Gerüche geht, ihr Haar wächst auch ungeheuer schnell, so dass sie es mehrmals täglich schneiden und in der Öffentlichkeit unter einer Art Turban tragen muss.
Zusammen kommen diese beiden Eigenschaften schließlich in Normas diagnostischem Talent. Da genügen ein paar fremde Haare im großen, beinahe leeren Koffer einer Bekannten, um Norma ein komplettes Bild der Frauen zu vermitteln, denen jene Marion auf ihren Reisen begegnet ist: "Alle über dreißig, zwei über fünfzig. Die Dritte und die Vierte könnten ihren Alkoholkonsum einschränken, die Sechste war eine Anorektikerin mit Laktoseintoleranz, die unter einem Mangel an Magnesium und anderen Spurenelementen litt. Insgesamt sieben Frauen und im Haar von jeder Spuren einer Kinderwunschbehandlung."
Dabei bleibt es nicht: Unter Normas wachem Blick und unter ihrer Nase geben die Haare der anderen sogar preis, ob ihre Besitzer fröhlich oder ängstlich sind, ob sie die Wahrheit sagen oder lügen. Und Normas eigene Haare agieren derart selbständig, dass sie schon vor der jungen Frau wissen, zu wem sie sich hingezogen fühlt - und physisch genau diese Richtung einschlagen.
"Der Mensch hat mehr Haare auf dem Haupt als anderswo", heißt es im hochmittelalterlichen "Buch der Natur" des Konrad von Megenberg, "damit sein Gehirn vor übermäßiger Kälte oder Hitze geschützt sei." Dieser Perspektive, die das fühllose Haar rein funktional sieht, nämlich als eine Art körpereigene Schutzkleidung, steht im Volksglauben seit je her noch eine andere gegenüber: Demnach sind Haare so eng mit der jeweiligen Person verbunden, die sie hervorbringt, dass - wie im Fall des israelitischen Kriegers Samson - ihr Verlust deren Untergang bedeutet und umgekehrt schon das Tragen von fremden Zöpfen oder gar von Perücken aus dem Haar anderer Menschen ein Frevel ist. Diese Aneignung ist aber zugleich ein Mittel, dem - wegen des nicht zur Person passenden Haares verwirrten - Tod zu entgehen.
An diese kontroversen Vorstellungen knüpft Oksanen an, und es ist diese Dimension ihrer Geschichte, die aus dem Roman noch etwas mehr macht als einen zweifellos spannenden Thriller um eine international tätige Mafia, die in den armen Ländern der Welt Leihmuttergeschäfte betreibt, verbunden mit dem Import von Haaren für besonders schöne Extensions. Die beste Qualität liefert Anita, die Normas Haarwuchs zu Geld macht, um wiederum ihrer unwissenden Tochter eine Behandlung bei einem obskuren Wunderheiler zu finanzieren. Norma soll, so wünscht es sich Anita, ein normales Leben führen, ohne den Zwang zum ständigen Haareschneiden, während diese langsam entdeckt, dass der Familienstammbaum mehrere Frauen aufweist, die so sind wie sie selbst.
Normas Perspektive prägt den Roman, ihre mühselige Suche danach, was ihre eigentlich unauffällige Mutter offenbar unter großer Gefahr ermittelte, gibt dessen Handlung ihre Struktur. Im geheimen Zentrum steht aber eine andere: Helena, ehedem Anitas beste Freundin, inzwischen in einer Anstalt für psychisch Kranke verschwunden, seit sie das Baby ihrer Tochter vom Balkon fallen ließ, so wie sie ihren Sohn Alvar während ihrer Schübe mit dem Messer verletzte und einmal beinahe umgebracht hätte. Wie eine Person, die im Wahn lebt, ihre ganze Umwelt prägen kann, wird hier dezent, aber unmissverständlich gezeigt. Den Verheerungen gegenüber steht die Funktion, die sie für Anita einnimmt. Denn ob wahnhaft oder auf seltsame Weise wahrhaftig, vermittelt sie der Freundin Einblicke in die verschüttete Familiengeschichte; auf den Videos, die Anita von ihr aufnimmt und ihrer Tochter zuspielt, spricht Helena mit der Stimme einer längst Verschollenen - Anita jedenfalls nimmt das ernst, und Norma hat Mühe, sich dieser Faszination zu entziehen.
Das poetische Verfahren, das Sofi Oksanen hier anwendet, hält dem Romanstoff stand. Wo mit Säuglingen und Haaren gehandelt wird, als gehörten sie zu niemandem, schon gar nicht zu denen, von denen sie herrühren, da braucht es umgekehrt die diagnostische Intuition einer Norma, um diese Annahme energisch zu widerlegen.
Weit kommt sie damit allerdings nicht, am Ende befindet sie sich möglicherweise in einer schlimmeren Abhängigkeit als je zuvor, und auch der Handel mit den von Leihmüttern ausgetragenen Säuglingen wird trotz des großen Knalls ohne Einschränkung weitergehen. Wie in jedem Mafia-Epos macht die Geschäfte jetzt eben ein anderer.
So ist "Die Sache mit Norma" auch kein hoffnungsvolles Buch. Aber es zeichnet hellwach und mit Sinn für das Irrationale zugleich, illusionslos und doch vom Bewusstsein getragen, dass der Zustand der Welt kein Schicksal ist, mit großer Konsequenz ein Bild unserer Zeit, in dem die Haare der Beteiligten überraschend effizient zum Medium der Erkenntnis geraten.
Sofi Oksanen: "Die Sache mit Norma". Roman.
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 352 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es geht ums Haar, und deshalb geht es ums Ganze: In ihrem Roman "Die Sache mit Norma" folgt Sofi Oksanen den Spuren der Leihmutter-Mafia.
Von Tilman Spreckelsen
Dass man die Beerdigung der eigenen, lange vor der Zeit und gewaltsam ums Leben gekommenen Mutter nicht aushält, ist verständlich. Dass man sich deshalb noch vor dem Leichenschmaus davonmacht, sicher auch. Und dass man einen aufdringlichen Fremden aus der Trauergesellschaft nicht sofort zuordnen kann, erstaunt dann nicht weiter. Irritierend ist aber, auf welche Weise Norma, die Tochter der Toten, jenen unbekannten Besucher wahrnimmt: Nachdem sie dessen zurückweichenden Haaransatz, die gealterte Gesichtshaut, die Tränensäcke und die geplatzten Äderchen registrierte, riecht sie im Stirnschweiß des Mannes das "Bier vom Vorabend", identifiziert das Rasierwasser ("von Kouros und frisch, keines, das jahrelang im Schrank gestanden hatte") und das Haarshampoo des Fremden. Geradezu argwöhnisch macht dann der auf diese Leistung folgende Satz: "Damit endete Normas Bestandaufnahme, ihre Nase war noch von den Medikamenten und der Trauer erschöpft."
So beginnt "Die Sache mit Norma", der fünfte Roman der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen, und diesen unterkühlten Anfang wird man erst nach der beendeten Lektüre des Romans ganz erfassen können, so wie überhaupt das Buch beim zweiten Lesen noch gewinnt. Sehr viel von dem, was "Die Sache mit Norma" prägen wird, ist darin angelegt, und zwar weniger in dem, was an handfesten Informationen zu den Figuren und ihrer Konstellation vermittelt wird, sondern viel mehr in den irritierenden Momenten - wenn die verblüffenden olfaktorischen Erkenntnisse Normas mit einer limitierten Nase erzielt werden, wozu wäre sie dann erst im vollen Besitz ihres Geruchssinns fähig?
Erst vor dem Hintergrund der gesamten Handlung zeigt sich, wie elegant und effizient die Autorin (und ihr deutscher Übersetzer Stefan Moster) Beiläufigkeit und Bedeutung verschränken. Die Zusammenhänge, die am Ende offenbar werden, haben jedenfalls von Beginn an ihre Vorzeichen. Erzählt wird die kurze Geschichte der nun verwaisten, etwas über dreißigjährigen Norma und das, was sie im Lauf des Romans über die vorangehenden drei Generationen ihrer Familie herausfindet. Außer dem Geheimnis, das den Tod ihrer Mutter Anita umgibt, nötigt sie dazu das Rätsel ihrer eigenen Existenz, das sich dem Leser schrittweise offenbart: Norma ist nicht nur äußerst sensibel, wenn es um Gerüche geht, ihr Haar wächst auch ungeheuer schnell, so dass sie es mehrmals täglich schneiden und in der Öffentlichkeit unter einer Art Turban tragen muss.
Zusammen kommen diese beiden Eigenschaften schließlich in Normas diagnostischem Talent. Da genügen ein paar fremde Haare im großen, beinahe leeren Koffer einer Bekannten, um Norma ein komplettes Bild der Frauen zu vermitteln, denen jene Marion auf ihren Reisen begegnet ist: "Alle über dreißig, zwei über fünfzig. Die Dritte und die Vierte könnten ihren Alkoholkonsum einschränken, die Sechste war eine Anorektikerin mit Laktoseintoleranz, die unter einem Mangel an Magnesium und anderen Spurenelementen litt. Insgesamt sieben Frauen und im Haar von jeder Spuren einer Kinderwunschbehandlung."
Dabei bleibt es nicht: Unter Normas wachem Blick und unter ihrer Nase geben die Haare der anderen sogar preis, ob ihre Besitzer fröhlich oder ängstlich sind, ob sie die Wahrheit sagen oder lügen. Und Normas eigene Haare agieren derart selbständig, dass sie schon vor der jungen Frau wissen, zu wem sie sich hingezogen fühlt - und physisch genau diese Richtung einschlagen.
"Der Mensch hat mehr Haare auf dem Haupt als anderswo", heißt es im hochmittelalterlichen "Buch der Natur" des Konrad von Megenberg, "damit sein Gehirn vor übermäßiger Kälte oder Hitze geschützt sei." Dieser Perspektive, die das fühllose Haar rein funktional sieht, nämlich als eine Art körpereigene Schutzkleidung, steht im Volksglauben seit je her noch eine andere gegenüber: Demnach sind Haare so eng mit der jeweiligen Person verbunden, die sie hervorbringt, dass - wie im Fall des israelitischen Kriegers Samson - ihr Verlust deren Untergang bedeutet und umgekehrt schon das Tragen von fremden Zöpfen oder gar von Perücken aus dem Haar anderer Menschen ein Frevel ist. Diese Aneignung ist aber zugleich ein Mittel, dem - wegen des nicht zur Person passenden Haares verwirrten - Tod zu entgehen.
An diese kontroversen Vorstellungen knüpft Oksanen an, und es ist diese Dimension ihrer Geschichte, die aus dem Roman noch etwas mehr macht als einen zweifellos spannenden Thriller um eine international tätige Mafia, die in den armen Ländern der Welt Leihmuttergeschäfte betreibt, verbunden mit dem Import von Haaren für besonders schöne Extensions. Die beste Qualität liefert Anita, die Normas Haarwuchs zu Geld macht, um wiederum ihrer unwissenden Tochter eine Behandlung bei einem obskuren Wunderheiler zu finanzieren. Norma soll, so wünscht es sich Anita, ein normales Leben führen, ohne den Zwang zum ständigen Haareschneiden, während diese langsam entdeckt, dass der Familienstammbaum mehrere Frauen aufweist, die so sind wie sie selbst.
Normas Perspektive prägt den Roman, ihre mühselige Suche danach, was ihre eigentlich unauffällige Mutter offenbar unter großer Gefahr ermittelte, gibt dessen Handlung ihre Struktur. Im geheimen Zentrum steht aber eine andere: Helena, ehedem Anitas beste Freundin, inzwischen in einer Anstalt für psychisch Kranke verschwunden, seit sie das Baby ihrer Tochter vom Balkon fallen ließ, so wie sie ihren Sohn Alvar während ihrer Schübe mit dem Messer verletzte und einmal beinahe umgebracht hätte. Wie eine Person, die im Wahn lebt, ihre ganze Umwelt prägen kann, wird hier dezent, aber unmissverständlich gezeigt. Den Verheerungen gegenüber steht die Funktion, die sie für Anita einnimmt. Denn ob wahnhaft oder auf seltsame Weise wahrhaftig, vermittelt sie der Freundin Einblicke in die verschüttete Familiengeschichte; auf den Videos, die Anita von ihr aufnimmt und ihrer Tochter zuspielt, spricht Helena mit der Stimme einer längst Verschollenen - Anita jedenfalls nimmt das ernst, und Norma hat Mühe, sich dieser Faszination zu entziehen.
Das poetische Verfahren, das Sofi Oksanen hier anwendet, hält dem Romanstoff stand. Wo mit Säuglingen und Haaren gehandelt wird, als gehörten sie zu niemandem, schon gar nicht zu denen, von denen sie herrühren, da braucht es umgekehrt die diagnostische Intuition einer Norma, um diese Annahme energisch zu widerlegen.
Weit kommt sie damit allerdings nicht, am Ende befindet sie sich möglicherweise in einer schlimmeren Abhängigkeit als je zuvor, und auch der Handel mit den von Leihmüttern ausgetragenen Säuglingen wird trotz des großen Knalls ohne Einschränkung weitergehen. Wie in jedem Mafia-Epos macht die Geschäfte jetzt eben ein anderer.
So ist "Die Sache mit Norma" auch kein hoffnungsvolles Buch. Aber es zeichnet hellwach und mit Sinn für das Irrationale zugleich, illusionslos und doch vom Bewusstsein getragen, dass der Zustand der Welt kein Schicksal ist, mit großer Konsequenz ein Bild unserer Zeit, in dem die Haare der Beteiligten überraschend effizient zum Medium der Erkenntnis geraten.
Sofi Oksanen: "Die Sache mit Norma". Roman.
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 352 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main