Die erregte Stimmung der Nachkriegszeit liegt über den Geschehnissen um Randow, dem "Al Capone Berlins". Vierzig Jahre später, inmitten der Wende-Aufregungen, wird ein damaliger Zeuge an die Geschichte erinnert. Er sieht sich wieder als Junge, sieht aber vor allem die Gewitztheit und den Elan der "kleinen" Leute, die im Spannungsfeld zwischen Ost und West lavieren müssen. - Ein farbiger Roman aus dem Prenzlauer Berg mit einer überraschenden Pointe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.1996Vierzig Jahre
Schlesinger und die Schukd / Von Gustav Seibt
In der Literaturkritik wird gern geklagt und gejammert daß es in deutscher Sprache das gegenständliche, unterhaltsame, handwerklich trainierte Erzählen nicht gebe, das in der englischschreibenden und -lesenden Welt nach wie vor floriere. Und daß es bei uns auch nichts gelte, daß es nicht mit dem Wohlwollen begossen werde, welches zarte Pflänzchen wachsen läßt. Letzteres ist nicht ganz richtig, denn wenn gute Konfektion zu einem ernsten Thema erscheint, wie vor einem Jahr die überaus spannende Erzählung "Der Vorleser" des Rechtsprofessors Bernhard Schlink, dann wird fast schon über Gebühr aufgeatmet und gelobt. Trotzdem stimmt natürlich, daß wir von Peter Handke den Balkan-Kriegsroman à la Hemingway nicht lesen werden und daß die literarischen Auseinandersetzungen mit dem Stand der deutschen Dinge, die zuletzt von Christa Wolf und Botho Strauß vorgelegt wurden, mythologisch angestrengt verschlüsselt waren, geschrieben mit der "Realencyclopedie des classischen Alterthums" neben der Tastatur.
Es gehört daher zu den Berichtspflichten des Kritikers, energisch auf den soeben erschienenen, sehr guten Unterhaltungsroman "Die Sache mit Randow" des Berliner Schriftstellers Klaus Schlesinger hinzuweisen. Der sechzigjährige, Ende der siebziger Jahre von Ost- nach West-Berlin übergesiedelte Schlesinger gehört nicht zu jenen Autoren, auf deren Bücher die Öffentlichkeit mit angehaltenem Atem wartet. Um so schöner ist jetzt die Überraschung, die dieses Buch auslöst. Auch "Die Sache mit Randow" hat übrigens einen mythologischen Kern, der aber gut in der Konstruktion versteckt ist. Es geht um einen Kriminalfall, genauer: um einen problematischen Justizfall aus der Frühzeit der DDR, dem der Ich-Erzähler, ein Fotoreporter, kurz vor ihrem Ende nachspürt. Der Ich-Erzähler kommt durch die Recherchen auch seiner eigenen verschütteten Erinnerung auf die Spur, die durch den Fall der Mauer wieder ganz frei wird. Dabei stellt sich heraus, daß er selbst als Halbwüchsiger in der "Sache mit Randow" schuldig geworden ist, durch eine Denunziation. Schlesingers detektivische Geschichte variiert also die Ödipus-Situation: Der forschende Detektiv muß erkennen, daß er selbst am Verbrechen beteiligt ist. Er hat einen der Morde begangen, die jeder begeht.
Randow ist ein junger Räuber, der bei einem seiner Überfälle einen Verfolger umbringt und geschnappt wird. Das Verfahren endet mit einem Todesurteil, das sich als rechtswidrig herausstellt, weil es aufgrund eines Nazi-Gesetzes gefällt wurde. Der Ich-Erzähler war Zeuge von Randows Auffindung und Verhaftung in der Ost-Berliner Dunckerstraße am Prenzlauer Berg, ja, er gab, wie ihm widerwillig klar wird, den entscheidenden Hinweis. So ist er schuld am rechtswidrigen Tod seines Altersgenossen, der in Schlesingers Erzählung eine Verkörperung des Lebens selbst ist, seiner strahlenden und verbrecherischen Schönheit.
Man darf den Kriminalfall so knapp zusammenfassen, ohne damit dem Leser viel an Spannung zu rauben. Denn er ist nur das Skelett der Geschichte. Ihr lebendiges Fleisch sind die Schicksale der Menschen in der Dunckerstraße, vor allem die Lebenswege der dem Krieg entkommenen Jugendlichen, von denen Randow nur einer ist. Diesen Stoff hat Schlesinger mit großer Liebe, großer Kenntnis und wunderbaren Details ausgestaltet. Da stehen Schmuggelgeschichten neben den ersten Fluchtdramen, da werden die ewigen jugendlichen Typen, der Aufschneider, der Petzer, der Bandenchef, der Beschützer, das Muttersöhnchen, durch die pathetische Berliner Ruinenlandschaft gejagt. Später sieht man sie wieder, im Westen, bei der Stasi, angepaßt, in der Opposition.
Klaus Schlesingers Roman überspannt vierzig Jahre. Am Ende ergibt sich, durchaus vorhersehbar, aber geschickt inszeniert, das Zusammentreffen von Mauerfall und Aufklärung des Falles Randow. Schlesinger hat seine Geschichte nicht chronologisch aufgebaut, sondern mosaikartig auf die Zeitschichten verteilt. Der Bau der Mauer beendet die Jugend der Helden und stellt im Roman das Leben still. Es liegt unter einem Betonmantel, als sei es erstarrt wie die Pompeijaner unter dem Aschenregen des Vesuv. Beim Aufgehen der Mauer gewinnt es wieder an Fahrt, und ganz alte Geschichten kommen zu ihrem Ende.
Klaus Schlesinger hat aber nicht nur eine politische Geschichte erzählt. Ihr Rhythmus folgt gleichermaßen den historischen Ereignissen wie einem Gesetz der Biologie: Erst passiert ganz viel, dann kommt eine Art Starrwerden, schließlich bricht das Sterben die hartgewordene Kruste des Daseins wieder auf und bringt etwas von der Dramatik der Jugend zurück. Weil Schlesinger nicht Historie nachbuchstabiert, sondern einen symbolischen Fall konstruiert hat, konnte er ein Sinnbild für die vierzig Jahre der DDR schaffen, in das die Trauer über alles vergehende Leben eingegangen ist. Die Schuld, um die es geht, erscheint weniger als politische Verfehlung denn als Verhinderung von Lebendigkeit. Die Trauer aber erstickt alles aufdringliche Moralisieren und macht die Erzählung schön.
Klaus Schlesinger: "Die Sache mit Randow". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 1996. 318 Seiten, geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlesinger und die Schukd / Von Gustav Seibt
In der Literaturkritik wird gern geklagt und gejammert daß es in deutscher Sprache das gegenständliche, unterhaltsame, handwerklich trainierte Erzählen nicht gebe, das in der englischschreibenden und -lesenden Welt nach wie vor floriere. Und daß es bei uns auch nichts gelte, daß es nicht mit dem Wohlwollen begossen werde, welches zarte Pflänzchen wachsen läßt. Letzteres ist nicht ganz richtig, denn wenn gute Konfektion zu einem ernsten Thema erscheint, wie vor einem Jahr die überaus spannende Erzählung "Der Vorleser" des Rechtsprofessors Bernhard Schlink, dann wird fast schon über Gebühr aufgeatmet und gelobt. Trotzdem stimmt natürlich, daß wir von Peter Handke den Balkan-Kriegsroman à la Hemingway nicht lesen werden und daß die literarischen Auseinandersetzungen mit dem Stand der deutschen Dinge, die zuletzt von Christa Wolf und Botho Strauß vorgelegt wurden, mythologisch angestrengt verschlüsselt waren, geschrieben mit der "Realencyclopedie des classischen Alterthums" neben der Tastatur.
Es gehört daher zu den Berichtspflichten des Kritikers, energisch auf den soeben erschienenen, sehr guten Unterhaltungsroman "Die Sache mit Randow" des Berliner Schriftstellers Klaus Schlesinger hinzuweisen. Der sechzigjährige, Ende der siebziger Jahre von Ost- nach West-Berlin übergesiedelte Schlesinger gehört nicht zu jenen Autoren, auf deren Bücher die Öffentlichkeit mit angehaltenem Atem wartet. Um so schöner ist jetzt die Überraschung, die dieses Buch auslöst. Auch "Die Sache mit Randow" hat übrigens einen mythologischen Kern, der aber gut in der Konstruktion versteckt ist. Es geht um einen Kriminalfall, genauer: um einen problematischen Justizfall aus der Frühzeit der DDR, dem der Ich-Erzähler, ein Fotoreporter, kurz vor ihrem Ende nachspürt. Der Ich-Erzähler kommt durch die Recherchen auch seiner eigenen verschütteten Erinnerung auf die Spur, die durch den Fall der Mauer wieder ganz frei wird. Dabei stellt sich heraus, daß er selbst als Halbwüchsiger in der "Sache mit Randow" schuldig geworden ist, durch eine Denunziation. Schlesingers detektivische Geschichte variiert also die Ödipus-Situation: Der forschende Detektiv muß erkennen, daß er selbst am Verbrechen beteiligt ist. Er hat einen der Morde begangen, die jeder begeht.
Randow ist ein junger Räuber, der bei einem seiner Überfälle einen Verfolger umbringt und geschnappt wird. Das Verfahren endet mit einem Todesurteil, das sich als rechtswidrig herausstellt, weil es aufgrund eines Nazi-Gesetzes gefällt wurde. Der Ich-Erzähler war Zeuge von Randows Auffindung und Verhaftung in der Ost-Berliner Dunckerstraße am Prenzlauer Berg, ja, er gab, wie ihm widerwillig klar wird, den entscheidenden Hinweis. So ist er schuld am rechtswidrigen Tod seines Altersgenossen, der in Schlesingers Erzählung eine Verkörperung des Lebens selbst ist, seiner strahlenden und verbrecherischen Schönheit.
Man darf den Kriminalfall so knapp zusammenfassen, ohne damit dem Leser viel an Spannung zu rauben. Denn er ist nur das Skelett der Geschichte. Ihr lebendiges Fleisch sind die Schicksale der Menschen in der Dunckerstraße, vor allem die Lebenswege der dem Krieg entkommenen Jugendlichen, von denen Randow nur einer ist. Diesen Stoff hat Schlesinger mit großer Liebe, großer Kenntnis und wunderbaren Details ausgestaltet. Da stehen Schmuggelgeschichten neben den ersten Fluchtdramen, da werden die ewigen jugendlichen Typen, der Aufschneider, der Petzer, der Bandenchef, der Beschützer, das Muttersöhnchen, durch die pathetische Berliner Ruinenlandschaft gejagt. Später sieht man sie wieder, im Westen, bei der Stasi, angepaßt, in der Opposition.
Klaus Schlesingers Roman überspannt vierzig Jahre. Am Ende ergibt sich, durchaus vorhersehbar, aber geschickt inszeniert, das Zusammentreffen von Mauerfall und Aufklärung des Falles Randow. Schlesinger hat seine Geschichte nicht chronologisch aufgebaut, sondern mosaikartig auf die Zeitschichten verteilt. Der Bau der Mauer beendet die Jugend der Helden und stellt im Roman das Leben still. Es liegt unter einem Betonmantel, als sei es erstarrt wie die Pompeijaner unter dem Aschenregen des Vesuv. Beim Aufgehen der Mauer gewinnt es wieder an Fahrt, und ganz alte Geschichten kommen zu ihrem Ende.
Klaus Schlesinger hat aber nicht nur eine politische Geschichte erzählt. Ihr Rhythmus folgt gleichermaßen den historischen Ereignissen wie einem Gesetz der Biologie: Erst passiert ganz viel, dann kommt eine Art Starrwerden, schließlich bricht das Sterben die hartgewordene Kruste des Daseins wieder auf und bringt etwas von der Dramatik der Jugend zurück. Weil Schlesinger nicht Historie nachbuchstabiert, sondern einen symbolischen Fall konstruiert hat, konnte er ein Sinnbild für die vierzig Jahre der DDR schaffen, in das die Trauer über alles vergehende Leben eingegangen ist. Die Schuld, um die es geht, erscheint weniger als politische Verfehlung denn als Verhinderung von Lebendigkeit. Die Trauer aber erstickt alles aufdringliche Moralisieren und macht die Erzählung schön.
Klaus Schlesinger: "Die Sache mit Randow". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 1996. 318 Seiten, geb., 39,80 DM.
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