Die Israelis sind die Täter, die Hisbollah das Opfer - so empfanden weite Teile der deutschen Bevölkerung die Ereignisse des Nahost-Krieges im Sommer 2006. Anna-Patricia Kahn will wissen, was damals geschehen ist - in Deutschland wie in Israel. In ihrer Familiengeschichte ist die Geschichte des europäischen Judentums stets präsent, sie selbst lebte und arbeitete in Jerusalem, München und Paris. Ende 2006 war Anna-Patricia Kahn drei Wochen lang im Norden Israels unterwegs und sprach mit Juden und Arabern, mit Soldaten und Zivilisten, mit jungen und alten Menschen über ihr Leben in der Kriegszone. Diese Reise war zugleich eine schmerzhafte Reise zu den Wurzeln ihres jüdischen Selbstverständnisses. Und so erzählt sie auch Geschichten aus Czernowitz und aus Auschwitz, aus München und aus Paris - Geschichten von gestern und Geschichten von heute. Es ist eine mutige und überzeugende Stimme, die da spricht. Von Verletzungen, Hoffnung und der Sehnsucht nach Frieden. Vor allem aber von jüdischen Ängsten - denn die Zukunft Israels steht auf dem Spiel.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2008Das Trauma bleibt
Porträts von Israelis, deren Vorfahren Holocaust-Opfer waren
Dazugehören und doch – irgendwie – anders zu sein. Immer eine Barriere zwischen sich und den meisten anderen Menschen zu spüren. Diesen inneren Spagat beschreibt Anna-Patricia Kahn. Sie ist eine französische Jüdin, deren Mutter als Deportierte in einem Kloster den Holocaust überlebt hat, und deren Vater in einem französischen Waisenhaus versteckt war. Beide waren noch Kinder – und beide sollten sterben wegen ihrer jüdischen Herkunft.
In diesem sehr persönlichen Buch beschreibt Kahn Facetten ihrer Kindheit und der Leidensgeschichte ihrer Eltern sowie ihren eigenen Berufsweg, der sie für Jahre nach Israel geführt hat. Sie war vier Jahre als Korrespondentin für das Nachrichtenmagazin Focus im Nahen Osten. Heute arbeitet sie vorrangig als Psychoanalytikerin in Paris. Ein halbes Jahr nach dem Libanonkrieg 2006 ist sie vier Wochen lang durch den Norden des Landes gereist – und hat dort mit den Menschen gesprochen.
Nicht zu den Politikern ist sie gegangen, sondern zu ganz normalen Frauen und Männern, zu Juden und Arabern. Israelis haben sie mit Freunden bekanntgemacht, die sie wegen ihrer Meinungen für bemerkenswert hielten. Sie hat einmal, zweimal oder sogar mehrmals mit diesen Menschen gesprochen – solange, wie ihre Gesprächspartner dies wollten. Das Ergebnis ihrer Recherchen: Neben der immer gegenwärtigen existentiellen Bedrohung im Alltag durch die Hisbollah, die die Menschen schilderten, kamen sie alle, auch die Araber, sehr schnell auf den Holocaust zu sprechen. Er stand sogar im Mittelpunkt der Begegnungen. Die Autorin schreibt allerdings in ihrem Buch bewusst von der Shoah, so wie es in Israel üblich ist. Das Wort Holocaust ist ihr zu plakativ, zu schrill. Sie befürchtet, damit könne man die ungeheure Bedeutung dieses Völkermordes zu schnell beiseite schieben, um wieder zum Alltäglichen überzugehen.
Sie berichtet von Miki, der gemeinsam mit anderen Spielzeug sammelte für die Kinder in den Luftschutzbunkern in Nordisrael, damit sie von der Lebensgefahr abgelenkt würden. Die Lehrer mussten den Schülern beibringen, sich Gasmasken aufzusetzen oder sich selbst ein Gegenmittel gegen Giftgas zu spritzen. Oder sie beschreibt den jungen Drusen Jad, der unbedingt Genaueres über die Shoah erfahren wollte, erzählt, wie er Zeuge wurde, als ein israelisches Auto von einer Rakete getroffen wurde und dabei der Fahrer ums Leben kam.
Es ist ein ehrliches, authentisches Buch, das tief in ein heutiges europäisches jüdisches Schicksal hineinsehen lässt. Es macht deutlich, wie der Holocaust die Familien der Überlebenden nicht nur in Israel, sondern weltweit beherrscht. Indem die Autorin sowohl autobiographischen Elementen wie Porträts von Israelis Raum gibt, zeigt sie, wie tief das Trauma auch bei der dritten, ja sogar noch bei der vierten Generation vorhanden ist. Die Autorin schreibt in einem anschaulichen Reportagestil – schließlich war sie lange als Journalistin tätig –, doch das bedeutet nicht, dass sie die menschliche und politische Schwere des Dargestellten vernachlässigt.
In Deutschland wie in Frankreich spürt die Autorin – sensibilisiert durch die eigene Familiengeschichte – einem meist latent vorhandenen Antisemitismus nach, der den Menschen oft gar nicht bewusst ist. Er äußert sich in Nebenbemerkungen; und gerade das macht ihn so gefährlich. Aber nicht nur dies lässt sie zur Vorsicht mahnen, sie geht davon aus, dass seit dem Libanonkrieg der Ton weltweit härter gegen Israel und Juden geworden sei, da diese plötzlich nicht mehr als Opfer, sondern als Täter gesehen werden. Das kann, so ihre Meinung, einem gefährlichen Antisemitismus zusätzlich Vorschub leisten.
Ein sehr lesenswertes Buch für alle, die sich für die sich ständig wandelnde Situation in Israel und die dort lebenden Menschen, die in ihrem Alltag mit der unaufhörlichen Krisensituation fertigwerden müssen, interessieren. Und für alle diejenigen, die Genaueres darüber erfahren wollen, wie es den Überlebenden des Holocaust und ihren Nachkommen ergeht. Anna-Patricia Kahn lässt ihr Fazit bewusst offen – sie hofft auf einen dringend notwendigen Neuanfang der Beziehungen zwischen Juden und Deutschen. Ein Neuanfang wohlbemerkt, der den Holcaust nicht verdrängt, sondern in das Verhältnis einbezieht.
Schade, dass der Verlag einen so allgemeinen Untertitel gewählt hat: „Israel, die Juden und die Deutschen”. Das Buch ist viel konkreter, es lebt von den anschaulichen Porträts und den Selbstreflexionen der Autorin – der Tochter von zwei Menschen, die, so jung sie auch damals waren, durch die Hölle des Nazirassimus gegangen sind. URSULA FREY
ANNA-PATRICIA KAHN: Die Sache zwischen uns. Israel, die Juden und die Deutschen. Droemer Verlag, München 2007. 192 Seiten, 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Porträts von Israelis, deren Vorfahren Holocaust-Opfer waren
Dazugehören und doch – irgendwie – anders zu sein. Immer eine Barriere zwischen sich und den meisten anderen Menschen zu spüren. Diesen inneren Spagat beschreibt Anna-Patricia Kahn. Sie ist eine französische Jüdin, deren Mutter als Deportierte in einem Kloster den Holocaust überlebt hat, und deren Vater in einem französischen Waisenhaus versteckt war. Beide waren noch Kinder – und beide sollten sterben wegen ihrer jüdischen Herkunft.
In diesem sehr persönlichen Buch beschreibt Kahn Facetten ihrer Kindheit und der Leidensgeschichte ihrer Eltern sowie ihren eigenen Berufsweg, der sie für Jahre nach Israel geführt hat. Sie war vier Jahre als Korrespondentin für das Nachrichtenmagazin Focus im Nahen Osten. Heute arbeitet sie vorrangig als Psychoanalytikerin in Paris. Ein halbes Jahr nach dem Libanonkrieg 2006 ist sie vier Wochen lang durch den Norden des Landes gereist – und hat dort mit den Menschen gesprochen.
Nicht zu den Politikern ist sie gegangen, sondern zu ganz normalen Frauen und Männern, zu Juden und Arabern. Israelis haben sie mit Freunden bekanntgemacht, die sie wegen ihrer Meinungen für bemerkenswert hielten. Sie hat einmal, zweimal oder sogar mehrmals mit diesen Menschen gesprochen – solange, wie ihre Gesprächspartner dies wollten. Das Ergebnis ihrer Recherchen: Neben der immer gegenwärtigen existentiellen Bedrohung im Alltag durch die Hisbollah, die die Menschen schilderten, kamen sie alle, auch die Araber, sehr schnell auf den Holocaust zu sprechen. Er stand sogar im Mittelpunkt der Begegnungen. Die Autorin schreibt allerdings in ihrem Buch bewusst von der Shoah, so wie es in Israel üblich ist. Das Wort Holocaust ist ihr zu plakativ, zu schrill. Sie befürchtet, damit könne man die ungeheure Bedeutung dieses Völkermordes zu schnell beiseite schieben, um wieder zum Alltäglichen überzugehen.
Sie berichtet von Miki, der gemeinsam mit anderen Spielzeug sammelte für die Kinder in den Luftschutzbunkern in Nordisrael, damit sie von der Lebensgefahr abgelenkt würden. Die Lehrer mussten den Schülern beibringen, sich Gasmasken aufzusetzen oder sich selbst ein Gegenmittel gegen Giftgas zu spritzen. Oder sie beschreibt den jungen Drusen Jad, der unbedingt Genaueres über die Shoah erfahren wollte, erzählt, wie er Zeuge wurde, als ein israelisches Auto von einer Rakete getroffen wurde und dabei der Fahrer ums Leben kam.
Es ist ein ehrliches, authentisches Buch, das tief in ein heutiges europäisches jüdisches Schicksal hineinsehen lässt. Es macht deutlich, wie der Holocaust die Familien der Überlebenden nicht nur in Israel, sondern weltweit beherrscht. Indem die Autorin sowohl autobiographischen Elementen wie Porträts von Israelis Raum gibt, zeigt sie, wie tief das Trauma auch bei der dritten, ja sogar noch bei der vierten Generation vorhanden ist. Die Autorin schreibt in einem anschaulichen Reportagestil – schließlich war sie lange als Journalistin tätig –, doch das bedeutet nicht, dass sie die menschliche und politische Schwere des Dargestellten vernachlässigt.
In Deutschland wie in Frankreich spürt die Autorin – sensibilisiert durch die eigene Familiengeschichte – einem meist latent vorhandenen Antisemitismus nach, der den Menschen oft gar nicht bewusst ist. Er äußert sich in Nebenbemerkungen; und gerade das macht ihn so gefährlich. Aber nicht nur dies lässt sie zur Vorsicht mahnen, sie geht davon aus, dass seit dem Libanonkrieg der Ton weltweit härter gegen Israel und Juden geworden sei, da diese plötzlich nicht mehr als Opfer, sondern als Täter gesehen werden. Das kann, so ihre Meinung, einem gefährlichen Antisemitismus zusätzlich Vorschub leisten.
Ein sehr lesenswertes Buch für alle, die sich für die sich ständig wandelnde Situation in Israel und die dort lebenden Menschen, die in ihrem Alltag mit der unaufhörlichen Krisensituation fertigwerden müssen, interessieren. Und für alle diejenigen, die Genaueres darüber erfahren wollen, wie es den Überlebenden des Holocaust und ihren Nachkommen ergeht. Anna-Patricia Kahn lässt ihr Fazit bewusst offen – sie hofft auf einen dringend notwendigen Neuanfang der Beziehungen zwischen Juden und Deutschen. Ein Neuanfang wohlbemerkt, der den Holcaust nicht verdrängt, sondern in das Verhältnis einbezieht.
Schade, dass der Verlag einen so allgemeinen Untertitel gewählt hat: „Israel, die Juden und die Deutschen”. Das Buch ist viel konkreter, es lebt von den anschaulichen Porträts und den Selbstreflexionen der Autorin – der Tochter von zwei Menschen, die, so jung sie auch damals waren, durch die Hölle des Nazirassimus gegangen sind. URSULA FREY
ANNA-PATRICIA KAHN: Die Sache zwischen uns. Israel, die Juden und die Deutschen. Droemer Verlag, München 2007. 192 Seiten, 14,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Beeindruckt berichtet Ursula Frey von diesem Buch, das ihr einen tiefen Einblick in heutige jüdisch-europäische Identitäten vermittelt hat. Über die Autorin informiert sie, dass Anna-Patricia Kahn mehrere Jahre für das Nachrichtenmagazin "Focus" aus Israel berichtet hat und heute als Psychoanalytikerin in Paris arbeitet. Ihre Eltern haben als Kinder den Holocaust überlebt. In dem Buch nun versammelt sie, wie wir der Rezension entnehmen, Erfahrung, Erzählungen und Reflexionen, die erkennen lassen, wie das Trauma des Holocaust auch in der dritten und vierten Generation fortwirkt. "Ein ehrliches, authentisches Buch."
© Perlentaucher Medien GmbH
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