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Ein hartnäckiger Meinungsstreit der letzten Jahrzehnte dreht sich um die Frage, welchen Ursprungs die Idee der Menschenrechte ist. Verdanken wir sie unserem christlich-jüdischen Erbe oder ist sie eine Erfindung der Aufklärung? Weder das eine noch das andere, behauptet der Sozialtheoretiker Hans Joas und erzählt in seinem Buch eine ganz andere Geschichte der Menschenrechte.Im Stile einer »historischen Soziologie« fördert er dabei eine überraschende dritte Sicht der Dinge zutage: Der Glaube an die universale Menschenwürde ist das Ergebnis eines Prozesses der Sakralisierung, in dessen Verlauf…mehr

Produktbeschreibung
Ein hartnäckiger Meinungsstreit der letzten Jahrzehnte dreht sich um die Frage, welchen Ursprungs die Idee der Menschenrechte ist. Verdanken wir sie unserem christlich-jüdischen Erbe oder ist sie eine Erfindung der Aufklärung? Weder das eine noch das andere, behauptet der Sozialtheoretiker Hans Joas und erzählt in seinem Buch eine ganz andere Geschichte der Menschenrechte.Im Stile einer »historischen Soziologie« fördert er dabei eine überraschende dritte Sicht der Dinge zutage: Der Glaube an die universale Menschenwürde ist das Ergebnis eines Prozesses der Sakralisierung, in dessen Verlauf jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr als heilig angesehen wurde. Diesen Prozeß zeichnet Joas in exemplarischen Studien etwa über die Abschaffung der Sklaverei sowie anhand der Genese paradigmatischer »Erklärungen der Menschenrechte« nach und analysiert ihn als eine komplexe kulturelle Transformation: Erfahrungen von Gut und Böse mußten vor dem Hintergrund unterschiedlicher Werttraditionen diskursiv artikuliert, in Rechten kodifiziert und in Praktiken gelebt werden.Die Menschenrechte, so zeigt sich, sind eben nicht das Ergebnis eines bloßen Konsenses über ein universalistisches Prinzip, sondern entstammen einem langen kulturübergreifenden Gespräch über Werte. Ihre Geschichte setzt sich aus vielen Geschichten zusammen. Hans Joas erzählt sie auf packende Weise und eröffnet damit die Debatte über die Idee der Menschenrechte neu.
Autorenporträt
Hans Joas, geboren 1948, ist Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrt als Mitglied des Committee on Social Thought an der University of Chicago. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Hans-Kilian-Preis, dem Max-Planck-Forschungspreis, dem Prix Ricur, dem Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen und zuletzt für das wissenschaftliche Lebenswerk mit dem Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Rezensionen
»Für die Theologie ist spannend, wie Hans Joas sich auf theologische Grundsubstanzen beruft (Seele, Leben als Gabe) und diese in seinen Gedankengang einbindet.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2011

Was kann Kant dafür, dass er kein Soziologe war?

Woher die Kultur der Menschenrechte kommt und wie sie sich begründen lässt: Der Sozialphilosoph Hans Joas fragt in einer profunden geistesgeschichtlichen Studie nach der Sakralität der Person.

Unser Zeitalter der Globalisierung erlaubt zwar ein hohes Maß an kultureller Vielfalt. Für sein Leitziel, ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit, braucht es jedoch elementare Gemeinsamkeiten. Sie heißen Menschenrechte und als deren Leitidee Menschenwürde.

Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas nimmt sich - wieder einmal - die Zivilreligion der Moderne, ebendie Menschenrechte, vor - dieses Mal auf eine seiner Ansicht in zweierlei Hinsicht neuartige Weise. Methodisch tritt an die Stelle der beiden angeblich bislang vorherrschenden Optionen, der philosophischen und rationalen Begründung und der historisch-empirischen Genese, eine "affirmative Genealogie". Gemeint ist eine Entstehungsgeschichte der Menschenrechte, die zugleich zur Berechtigung des Entstandenen beiträgt. Mit dieser historischen Soziologie der Menschenrechte will Joas die verbreitete Trennung von Genesis und Geltung unterlaufen. Dabei vertritt er, wogegen im Westen seit längerem Skepsis vorherrscht, ein Stück Fortschrittsgeschichte. Klugerweise bezieht er sie auf den Bereich, in dem die Skepsis am wenigsten überzeugt: auf das (schon von Kant hervorgehobene) Recht.

Obwohl im Ausdruck "Berechtigung" der klassische Anspruch philosophischer Begründung, die Rechtfertigung, anklingt, gibt sich der Beitrag von Joas ausdrücklich mit deren kleinen Schwester, der Plausibilisierung, zufrieden. In der Tat lässt eine affirmative Genealogie schwerlich mehr zu. Auch wer zusätzlich auf tieferliegende kulturelle Transformationsprozesse eingeht, kann aus einer Geschichte kontingenter Erfahrungen nur Plausibilität gewinnen: dass die Menschenrechte eine echte historische Innovation sind, die den Beteiligten gleichwohl als evident erscheint.

In der zweiten, inhaltlichen Hinsicht wendet sich Joas gegen zwei (ebenso angeblich) bislang dominante Vorstellungen: dass der Gedanke der Menschenrechte sich dem jüdisch-christlichen Erbe oder aber einer weithin antireligiösen Aufklärung verdanke. Nach der alternativen Hinsicht von Joas dagegen entstehen die Menschenrechte und deren rechtliche Verankerung in einem Prozess der Sakralisierung, der jeden einzelnen Menschen für sakrosankt, insofern heilig ansieht. Joas will also zwei bislang nicht wirklich dominante, aber doch einflussreiche Meistererzählungen durch eine neue, dritte Erzählung ablösen. Um es an einem seiner Beispiele, der Abschaffung der Folter, zu konkretisieren: Gegen den Mythos der Aufklärung, deren Muster hier der italienische Strafrechtsreformer Cesare Beccaria ist, und gegen den Formwandel der Macht nach dem Vorbild von Michel Foucault tritt der titelgebende Gedanke, die Sakralisierung der Person.

Vielleicht gehört zur Komposition eines profilierten Werkes die Zuspitzung, sogar Überspitzung. Der Studie von Joas liegt eine rhetorisch gelungene, sogar brillante Inszenierung zugrunde, die an entsprechender Stelle zwar nicht leugnet, insgesamt aber doch in den Hintergrund treten lässt, dass die entscheidenden Thesen schon vorher vertreten worden sind. Bei einem Soziologen überrascht es nicht, dass es die Klassiker seines Metiers sind: Max Weber, Émile Durkheim und Talcott Parsons, zusätzlich der Pionier einer historischen Soziologie des Christentums, Ernst Troeltsch, und der Staatsrechtslehrer Georg Jellinek.

Eine so große Aufgabe wie die Genealogie der Menschenrechte lässt sich nur bewältigen, wenn man sich konzentriert. In Konzentration auf entscheidende Phänomene gelingt es Joas, sein Ziel zu erreichen. Die beanspruchte Entwertung der philosophischen Begründung überzeugt dagegen nicht, ist zudem für das eigene Vorhaben überflüssig. Wie baut Joas seine Genealogie auf? Unter dem sprechenden Titel "Charisma der Vernunft?" beginnt er mit der Entstehung der ersten Menschenrechtserklärung im späten achtzehnten Jahrhundert. Dabei kritisiert er die angeblich konventionelle Ansicht, die Menschenrechte seien in Frankreich und im Geist einer religionsfeindlichen Aufklärung entstanden. Wie man weiß und in einschlägigen Textsammlungen, beispielsweise von Wolfgang Heidelmeyer, längst dokumentiert wird, ist aber die Virginia Bill of Rights (12. Juni 1776) älter und sind deren Verfasser, wie man ebenso des längeren weiß, Religionsflüchtlinge, also keineswegs religionsfeindliche Personen.

Insofern überzeugt Joas dort mehr, wo er an einen großen deutschen Staatsrechtslehrer, an Georg Jellineks bahnbrechende und schon vor mehr als hundert Jahren, nämlich 1895, veröffentlichte Thesen anknüpft und in Korrektur von einigen Zuspitzungen Jellineks die amerikanischen Erklärungen auf das "Bündnis einer quasi-pietistischen Massenbewegung und einer rationalistisch-aufklärerischen Elite" zurückführt. Dadurch wird die zunächst allzu schlichte Alternative, entweder religionsfeindliche Aufklärung oder christliche Herkunft, überzeugend unterlaufen.

Sein zweites Kapitel widmet Joas der weitgehenden Abschaffung der Folter im Europa des achtzehnten Jahrhunderts. Wieder unter einem aussagekräftigen Titel "Strafe und Respekt", mit dem den Buchtitel bekräftigenden Untertitel "Die Sakralisierung der Person ", stellt er jene tiefreichende kulturelle Verschiebung vor, "durch die die menschliche Person selbst zum heiligen Objekt wird". Abermals beansprucht er nicht, diesen Gedanken zum ersten Mal gedacht zu haben, sondern schreibt ihn zu Recht einem anderen großen Autor des neunzehnten Jahrhunderts, dem französischen Soziologen Émile Durkheim, zu. Dessen Zuspitzung, in dieser neuen Religion, der Religion der Moderne, sei der Mensch "zugleich Gläubiger und Gott", lehnt er dagegen ab. Die Ansicht, dass sich Durkheim "gegen den möglichen Weiterbestand religiöser Stützungen der Menschenrechte" verschließe, erscheint freilich überprüfenswert.

Das dritte Kapitel "Gewalt und Menschenwürde" untersucht exemplarisch die Antisklavereibewegung in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten des neunzehnten Jahrhunderts. Die These: Aus einer außergewöhnlichen Gewalterfahrung geht die Energie für eine positive Wertbindung sogar universalistischer Art hervor. Zwei Erklärungsmöglichkeiten weist Joas hier zurück, den Gedanken eines langsamen Reifens von Wertorientierungen und die Erklärung aus materiellen Interessenlagen. An deren Stelle tritt die Verbindung dreier Komponenten: die Intensivierung der Motivation, eine universalistische Moral umzusetzen; die "Ausdehnung der kognitiven Attribution moralischer Verantwortlichkeit"; und eine "transnationale Organisation des moralischen Universalismus".

Gegen eine verbreitete Überbewertung des Gewichts der jüdisch-christlichen Tradition für die Menschenrechte erklärt Joas zu Recht, dass Traditionen nichts hervorbringen, dass sie aber sich zu einer Innovation verhalten müssen. Im einschlägigen fünften Kapitel "Seele und Gabe. Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft" zeigt er, wie das Christentum nach und nach die anfängliche Ablehnung überwindet und die Menschenrechte schließlich in ihre eigene Lehre integriert. Hierzu hätte man an Papst Johannes Paul II. erinnern können, der vor allem in seinen ersten Pontifikatsjahren den Menschenrechten ein großes Gewicht eingeräumt, sie aber nicht konsequent für innerkirchliche Strukturen übernommen hat.

Der kürzeste Teil, das Schlusskapitel "Wertegeneralisierung", befasst sich mit einem erstaunlichen globalen Konsens: dass sich die Vereinten Nationen trotz der Pluralität ihrer Kulturen auf eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eingelassen haben. Joas zeichnet hier den komplexen Entstehungsprozess der Menschenrechtserklärung nach.

Nachdem es dem Autor zuvor um die Entstehungsgeschichte ging, wendet er sich im letzten Absatz der Zukunft zu, nämlich der Frage, wie man die einmal erreichten Errungenschaften stabilisieren könne. Seine Antwort: Die im Verlauf der affirmativen Genealogie entscheidenden drei Bereiche - Praktiken, Werte und Institutionen - müssen zusammenwirken. Die Menschenrechte müssten nämlich "institutionell und zivilgesellschaftlich gestützt, argumentativ verteidigt und in den Praktiken des Alltagslebens inkarniert" werden. Da diese Antwort überzeugt, sei dem Philosophen zur mittleren Erfordernis, der argumentativen Verteidigung, nur eine Rückfrage erlaubt: Muss sich die historische Soziologie als Abschied von philosophischer Begründung verstehen?

Die Studie liest sich mitlaufend als ein Plädoyer, statt bei den Philosophen lieber bei den Soziologen in die Lehre zu gehen. Dass man bei Max Weber, Émile Durkheim und Talcott Parsons, auch bei Ernst Troeltsch Neues lernt, pflegen Philosophen nicht zu bestreiten. Ohnehin versteht es sich, dass jede Profession ihre eigenen Lehrmeister hat. Ist es aber nicht ein disziplinärer Imperialismus, wenn man zugleich die Meister anderer Professionen beiseiteschiebt? Dass etwa Kant oder Hegel keine Soziologen waren, verdankt sich doch ihrem Interesse, bei ihren Leisten, ebender Philosophie, zu bleiben. Deren Strafrechtstheorien spielen aber im Strafrechtskapitel von Joas keine Rolle, womit deren angebliche Irrelevanz unbegründet bleibt.

Dieser Einwand soll das Verdienst des Autors aber nicht schmälern: dass er ein profundes Buch geschrieben hat, dem man den langen Atem anmerkt, mit dem die Gedanken zur nicht bloß klaren, sondern auch eleganten Präsentierung herangereift sind.

OTFRIED HÖFFE.

Hans Joas: "Die Sakralität der Person". Eine neue Genealogie der Menschenrechte.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 303 S., geb., 26,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Woher kommt die Menschenrechtskultur? Dieser Frage geht der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas laut Rezensent auf eine für ihn genuine Art und Weise nach, indem er konkurrierende Ursprungserzählungen, religiöse wie säkulare, zueinander ins Verhältnis setzt und schließlich eine alternative Perspektive aus beiden anbietet. Joas' These von der Sakralisierung des menschlichen Einzelwesens, entliehen, wie Uwe Justus Wenzel herausfindet, bei Durkheim, ist für den Rezensenten insofern neu, als der Autor hier erstmals Genese und Geltung dieses Prozesses in einer Betrachtung vereint. Die Einzelskizzen, aus denen Joas seinen Text webt sind für Wenzel aufschlussreich. Betreffend aktuelle Menschenrechts- und Menschenwürdedebatten vermag ihm der Band allerdings bloß Ausgangspunkt sein.

© Perlentaucher Medien GmbH