Ein hartnäckiger Meinungsstreit der letzten Jahrzehnte dreht sich um die Frage, welchen Ursprungs die Idee der Menschenrechte ist. Verdanken wir sie unserem christlich-jüdischen Erbe oder ist sie eine Erfindung der Aufklärung? Weder das eine noch das andere, behauptet der Sozialtheoretiker Hans Joas und erzählt in seinem Buch eine ganz andere Geschichte der Menschenrechte.Im Stile einer »historischen Soziologie« fördert er dabei eine überraschende dritte Sicht der Dinge zutage: Der Glaube an die universale Menschenwürde ist das Ergebnis eines Prozesses der Sakralisierung, in dessen Verlauf jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr als heilig angesehen wurde. Diesen Prozeß zeichnet Joas in exemplarischen Studien etwa über die Abschaffung der Sklaverei sowie anhand der Genese paradigmatischer »Erklärungen der Menschenrechte« nach und analysiert ihn als eine komplexe kulturelle Transformation: Erfahrungen von Gut und Böse mußten vor dem Hintergrund unterschiedlicher Werttraditionen diskursiv artikuliert, in Rechten kodifiziert und in Praktiken gelebt werden.Die Menschenrechte, so zeigt sich, sind eben nicht das Ergebnis eines bloßen Konsenses über ein universalistisches Prinzip, sondern entstammen einem langen kulturübergreifenden Gespräch über Werte. Ihre Geschichte setzt sich aus vielen Geschichten zusammen. Hans Joas erzählt sie auf packende Weise und eröffnet damit die Debatte über die Idee der Menschenrechte neu.
»Für die Theologie ist spannend, wie Hans Joas sich auf theologische Grundsubstanzen beruft (Seele, Leben als Gabe) und diese in seinen Gedankengang einbindet.« Kerstin Schlögl-Flierl Ethica 20120110
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2011Heilig sei fortan
jedes menschliche Wesen
Woher stammt die Idee der Menschenrechte?
Der Soziologe Hans Joas stellt die Frage auf neue Weise
Werden die Menschenrechte zum Gegenstand der Wissenschaft, von Soziologie oder Geschichte, kann eine emotionale Abkühlung eintreten. Die wissenschaftliche Aufklärung der historischen Genese und sozialen Funktionalität unserer tiefen moralischen Überzeugungen sowie der menschenrechtlichen Prinzipien des Rechtssystems mag ernüchternd wirken. Genealogische Berichte entfalten in der Regel entzaubernde Kraft. Das staunende „Ohh“ und „Ahh“ vor einer Sache, die uns ergreift, verträgt sich nicht gut mit dem abgeklärten „Aha!“, wenn wir sie uns einmal erklärt haben. Eine Geschichte der Menschenrechte, die uns darüber aufklärt, auf welch zufällige und verschlungene Weise wir historisch dazu gelangt sind, ihnen moralische und rechtliche Verbindlichkeit zuzusprechen, könnte ihre normative Kraft schmälern, ja ihre Geltung sogar vollends erschüttern.
Darin liegt das kritische Potential der Genealogie selbst dann, wenn sie nicht mit so bestürzenden Erklärungen unserer Überzeugungen aufwartet, wie einst Bernard Mandeville in seiner Bienenfabel im 18. Jahrhundert. Indem Mandeville die zeitgenössische Auffassung der Tugend auf einen perfiden Politikerbetrug zurückführte und die hochgelobte Tugend zum illusionskünstlerischen Produkt einer Verbindung aus Schmeichelei und Eitelkeit erklärte, scheuchte er ganze Philosophengenerationen aus ihrem dogmatischen Schlummer. Friedrich Nietzsche und Michel Foucault waren die Erben einer solchen Form kritischer Genealogie.
Anderes plant der mittlerweile am Institute for Advanced Studies in Freiburg forschende Soziologe Hans Joas in seinem jüngst erschienenen Buch, das eine „neue Genealogie der Menschenrechte“ verspricht. Es beansprucht, die historische Fragestellung nach der Herkunft der Menschenrechte mit einer affirmativen Erörterung zu ihrer Rechtfertigung zu verbinden.
Er glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte, so Joas, weil zu ihnen auch eine „affektive Intensität unserer Bindung“ gehöre. Und die lässt sich nicht durch rationale Argumentation allein erzeugen, sondern verlangt das Erzählen von Geschichten jener Erfahrungen, die den Werten und Rechten des Menschen zugrundeliegen.
Als Alternative zu einer kritischen legt Hans Joas deshalb eine „affirmative Genealogie“ der Menschenrechte vor. Als methodisches Vorbild und als Vordenker auf diesem Weg hat er den evangelischen Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch entdeckt, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts weidlich am Problem des Historismus abgearbeitet hat.
In fünf Kapiteln und einer zentralen methodischen „Zwischenbetrachtung“ – bei Soziologen seit Max Weber gern ein Ort für Wichtiges – nimmt er sich der Sache an. Nach Büchern über die Entstehung der Werte und das Verhältnis von Krieg und Werten will Hans Joas zeigen, wie die Ausbildung der Menschenrechte mit der Geschichte und den Erfahrungen von menschlicher Gewalt und Unterdrückung sowie deren partieller Überwindung verbunden ist. Historisch rückt er das Ende der Sklaverei und die Abschaffung der Folter im Europa des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt, sowie die Erfahrungen, Prozesse und Ereignisse, die zur Deklaration der Menschenrechte zu Beginn der Französischen Revolution sowie zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg führten.
Konzeptionell lehnt sich der Freiburger Soziologe an den französischen Gründervater der Disziplin, Emile Durkheim, an und spricht von der Sakralisierung der Person als dem entscheidenden Prozess, der in der Idee der Menschenwürde und in Menschenrechten institutionell zum Ausdruck kommt.
Anhand der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 zeigt der Autor exemplarisch, was er sich unter einem für ihn zentralen Denkmotiv vorstellt: der Wertegeneralisierung. Das Verständnis von Werten ist eingebettet in kulturelle Kontexte von Erfahrungen, Geschichten, Praktiken, Institutionen und ihren Interpretationen. Aber es ist in diese Kontexte nicht „eingesperrt“. Akte kreativer Interpretation können Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Religionen und kulturellen Traditionen entstehen lassen – so der durchaus menschenrechtsoptimistische Tenor.
Die zentrale These des Buches lautet, dass die Menschenrechte und die Idee der universalen Menschenwürde das Ergebnis eines Sakralisierungsprozesses seien. Jedes menschliche Wesen wurde fortan als heilig angesehen. Im Recht sei dieses Verständnis der Sakralität der Person institutionalisiert worden. Auf eine genauere Abgrenzung von Menschenrechten und Menschenwürde wird dabei verzichtet – vielleicht in der Annahme, dass die Geschichte beider Vorstellungen auf dieselbe Sakralisierungsgeschichte hinausläuft. Dennoch ist der Unterschied zwischen beiden hinsichtlich ihrer Rechtfertigung wohl doch groß genug, dass er auch einen Unterschied macht.
Sakralität, wie Joas sie versteht, bezeichnet weder eine nur jenseitsbezogene Vorstellung noch eine seltene objektive Ausnahmeerscheinung. Es genügen schon zwei Qualitäten, damit auch säkularen Gehalten Sakralität zugesprochen wird: „subjektive Evidenz und affektive Intensität“. Damit indes büßt das hohe Wort der Sakralität der Person viel von seinem verblüffenden Nimbus und die darüber erzählte Geschichte an Überzeugungskraft ein. Denn was dem Menschen als Ausnahmeprädikat zunächst zugesprochen wird, das nimmt ihm die veralltäglichende Erklärung auch schon wieder. Denn es sollen bereits subjektive Evidenz und starke Gefühle genügen, um Heiliges in der Welt zu entdecken. Um als Vorstellung von der Sakralität der Person menschenrechtlich produktiv zu sein, muss das Heilige in recht kleine Münze getauscht werden.
Die Historikerin Lynn Hunt erzählt in ihrem 2007 erschienenen Buch „Inventing Human Rights“ – das von Joas kurz diskutiert wird – eine andere Geschichte. Sie läuft, kurz gesagt, darauf hinaus, die Menschenrechte aus kulturellen Wandlungen hervorgehen zu sehen, im Zuge derer bei insgesamt gesteigerter Sensibilität auch in den Gefolterten und Versklavten Menschen gesehen wurden, die zu gleichen Empfindungen fähig sind wie andere Menschen auch.
Zum Träger von Rechten und Würde wurde der Mensch (jeder Mensch) nicht, indem er an Übermenschlichem teilhat, sondern als gleichermaßen und in hohem Maße verletzliches Wesen, in dessen Lage man bereit wird sich hineinzuversetzen.
Hans Joas präsentiert in seinem Buch viele Überlegungen, die eine solche Sicht auf die Menschenrechte und ihre Genese stützen. So beschreibt er, wie „erschütternde traumatisierende Erfahrung eigenen und fremden Leids zur Bindung an universalistische Werte führen können“. Jedoch nimmt er an, seine These der Sakralisierung der Person sei fundamentaler als die Erklärung der in Los Angeles lehrenden Historikerin, weil die Sakralisierung auch noch die Bereitschaft zur Empathie erkläre.
In der gleichen Weise aber, wie das Buch in der Sakralisierung der Person den „Ausdruck einer tiefreichenden kulturellen Verschiebung“ erkennt, zeigt Lynn Hunt, welche kulturellen Verschiebungen unmittelbar zu einer Steigerung der Sensibilität geführt haben könnten.
Unter den zeitgenössischen Büchern etwa waren es Werke der Empfindsamkeitsliteratur von Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseaus „Julie oder Die neue Héloise“; in der Philosophie sind die Varianten einer nicht-rationalistischen gefühlsbasierten Erklärung der Moral eines Francis Hutcheson, David Hume oder Adam Smith zu nennen.
Weder bedarf es zur Erklärung der intensivierten und ausgeweiteten Empathie einer speziellen handlungstheoretisch gedachten Motivation, noch wäre es plausibel, eine solche in der Heiligkeit der Person zu entdecken. Sakrales lädt normalerweise nicht zur Einfühlung ein.
Das neue Buch von Hans Joas zeigt gleichwohl auf bemerkenswerte Weise, wie kreative Versuche, religiöse Erfahrungen unter Bedingungen moderner liberaler pluralistischer Gesellschaften neu zu formulieren, menschenrechtlich produktiv sein können. Menschenrechte sind keine Zeugnisse eines aufklärerischen Triumphes über Tradition und Religion. Ebenso wenig lassen sie sich als eine logische Konsequenz ausgeben, die seit jeher im Christentum – und nur dort – latent vorhanden schlummerte. Hans Joas’ wichtiges Buch enthält eine wertvolle und wohlabgewogene Darstellung, wie die Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte aus einer sich wechselseitig inspirierenden Parallelaktion säkularen und religiösen Denkens, Interpretierens und Handelns entstehen konnten.
Wer dabei, wie der Freiburger Soziologe, die Kreativität des Handelns und Interpretierens betont und um die Chancen weiß, Traditionen durch überraschende Artikulationen von Erfahrungen neu zu erfinden, der wäre der letzte, die Geschichte der Menschenrechte damit für auserzählt zu halten.
DIRK LÜDDECKE
HANS JOAS: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 303 Seiten, 26,90 Euro.
Die Abschaffung der Folter und
das Ende der Sklaverei stehen
hier im Mittelpunkt
Werte sind eingebettet in
kulturelle Kontexte, aber nicht
in diese eingesperrt
Aufklärung und Christentum
haben sich
wechselseitig inspiriert
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
jedes menschliche Wesen
Woher stammt die Idee der Menschenrechte?
Der Soziologe Hans Joas stellt die Frage auf neue Weise
Werden die Menschenrechte zum Gegenstand der Wissenschaft, von Soziologie oder Geschichte, kann eine emotionale Abkühlung eintreten. Die wissenschaftliche Aufklärung der historischen Genese und sozialen Funktionalität unserer tiefen moralischen Überzeugungen sowie der menschenrechtlichen Prinzipien des Rechtssystems mag ernüchternd wirken. Genealogische Berichte entfalten in der Regel entzaubernde Kraft. Das staunende „Ohh“ und „Ahh“ vor einer Sache, die uns ergreift, verträgt sich nicht gut mit dem abgeklärten „Aha!“, wenn wir sie uns einmal erklärt haben. Eine Geschichte der Menschenrechte, die uns darüber aufklärt, auf welch zufällige und verschlungene Weise wir historisch dazu gelangt sind, ihnen moralische und rechtliche Verbindlichkeit zuzusprechen, könnte ihre normative Kraft schmälern, ja ihre Geltung sogar vollends erschüttern.
Darin liegt das kritische Potential der Genealogie selbst dann, wenn sie nicht mit so bestürzenden Erklärungen unserer Überzeugungen aufwartet, wie einst Bernard Mandeville in seiner Bienenfabel im 18. Jahrhundert. Indem Mandeville die zeitgenössische Auffassung der Tugend auf einen perfiden Politikerbetrug zurückführte und die hochgelobte Tugend zum illusionskünstlerischen Produkt einer Verbindung aus Schmeichelei und Eitelkeit erklärte, scheuchte er ganze Philosophengenerationen aus ihrem dogmatischen Schlummer. Friedrich Nietzsche und Michel Foucault waren die Erben einer solchen Form kritischer Genealogie.
Anderes plant der mittlerweile am Institute for Advanced Studies in Freiburg forschende Soziologe Hans Joas in seinem jüngst erschienenen Buch, das eine „neue Genealogie der Menschenrechte“ verspricht. Es beansprucht, die historische Fragestellung nach der Herkunft der Menschenrechte mit einer affirmativen Erörterung zu ihrer Rechtfertigung zu verbinden.
Er glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte, so Joas, weil zu ihnen auch eine „affektive Intensität unserer Bindung“ gehöre. Und die lässt sich nicht durch rationale Argumentation allein erzeugen, sondern verlangt das Erzählen von Geschichten jener Erfahrungen, die den Werten und Rechten des Menschen zugrundeliegen.
Als Alternative zu einer kritischen legt Hans Joas deshalb eine „affirmative Genealogie“ der Menschenrechte vor. Als methodisches Vorbild und als Vordenker auf diesem Weg hat er den evangelischen Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch entdeckt, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts weidlich am Problem des Historismus abgearbeitet hat.
In fünf Kapiteln und einer zentralen methodischen „Zwischenbetrachtung“ – bei Soziologen seit Max Weber gern ein Ort für Wichtiges – nimmt er sich der Sache an. Nach Büchern über die Entstehung der Werte und das Verhältnis von Krieg und Werten will Hans Joas zeigen, wie die Ausbildung der Menschenrechte mit der Geschichte und den Erfahrungen von menschlicher Gewalt und Unterdrückung sowie deren partieller Überwindung verbunden ist. Historisch rückt er das Ende der Sklaverei und die Abschaffung der Folter im Europa des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt, sowie die Erfahrungen, Prozesse und Ereignisse, die zur Deklaration der Menschenrechte zu Beginn der Französischen Revolution sowie zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg führten.
Konzeptionell lehnt sich der Freiburger Soziologe an den französischen Gründervater der Disziplin, Emile Durkheim, an und spricht von der Sakralisierung der Person als dem entscheidenden Prozess, der in der Idee der Menschenwürde und in Menschenrechten institutionell zum Ausdruck kommt.
Anhand der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 zeigt der Autor exemplarisch, was er sich unter einem für ihn zentralen Denkmotiv vorstellt: der Wertegeneralisierung. Das Verständnis von Werten ist eingebettet in kulturelle Kontexte von Erfahrungen, Geschichten, Praktiken, Institutionen und ihren Interpretationen. Aber es ist in diese Kontexte nicht „eingesperrt“. Akte kreativer Interpretation können Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Religionen und kulturellen Traditionen entstehen lassen – so der durchaus menschenrechtsoptimistische Tenor.
Die zentrale These des Buches lautet, dass die Menschenrechte und die Idee der universalen Menschenwürde das Ergebnis eines Sakralisierungsprozesses seien. Jedes menschliche Wesen wurde fortan als heilig angesehen. Im Recht sei dieses Verständnis der Sakralität der Person institutionalisiert worden. Auf eine genauere Abgrenzung von Menschenrechten und Menschenwürde wird dabei verzichtet – vielleicht in der Annahme, dass die Geschichte beider Vorstellungen auf dieselbe Sakralisierungsgeschichte hinausläuft. Dennoch ist der Unterschied zwischen beiden hinsichtlich ihrer Rechtfertigung wohl doch groß genug, dass er auch einen Unterschied macht.
Sakralität, wie Joas sie versteht, bezeichnet weder eine nur jenseitsbezogene Vorstellung noch eine seltene objektive Ausnahmeerscheinung. Es genügen schon zwei Qualitäten, damit auch säkularen Gehalten Sakralität zugesprochen wird: „subjektive Evidenz und affektive Intensität“. Damit indes büßt das hohe Wort der Sakralität der Person viel von seinem verblüffenden Nimbus und die darüber erzählte Geschichte an Überzeugungskraft ein. Denn was dem Menschen als Ausnahmeprädikat zunächst zugesprochen wird, das nimmt ihm die veralltäglichende Erklärung auch schon wieder. Denn es sollen bereits subjektive Evidenz und starke Gefühle genügen, um Heiliges in der Welt zu entdecken. Um als Vorstellung von der Sakralität der Person menschenrechtlich produktiv zu sein, muss das Heilige in recht kleine Münze getauscht werden.
Die Historikerin Lynn Hunt erzählt in ihrem 2007 erschienenen Buch „Inventing Human Rights“ – das von Joas kurz diskutiert wird – eine andere Geschichte. Sie läuft, kurz gesagt, darauf hinaus, die Menschenrechte aus kulturellen Wandlungen hervorgehen zu sehen, im Zuge derer bei insgesamt gesteigerter Sensibilität auch in den Gefolterten und Versklavten Menschen gesehen wurden, die zu gleichen Empfindungen fähig sind wie andere Menschen auch.
Zum Träger von Rechten und Würde wurde der Mensch (jeder Mensch) nicht, indem er an Übermenschlichem teilhat, sondern als gleichermaßen und in hohem Maße verletzliches Wesen, in dessen Lage man bereit wird sich hineinzuversetzen.
Hans Joas präsentiert in seinem Buch viele Überlegungen, die eine solche Sicht auf die Menschenrechte und ihre Genese stützen. So beschreibt er, wie „erschütternde traumatisierende Erfahrung eigenen und fremden Leids zur Bindung an universalistische Werte führen können“. Jedoch nimmt er an, seine These der Sakralisierung der Person sei fundamentaler als die Erklärung der in Los Angeles lehrenden Historikerin, weil die Sakralisierung auch noch die Bereitschaft zur Empathie erkläre.
In der gleichen Weise aber, wie das Buch in der Sakralisierung der Person den „Ausdruck einer tiefreichenden kulturellen Verschiebung“ erkennt, zeigt Lynn Hunt, welche kulturellen Verschiebungen unmittelbar zu einer Steigerung der Sensibilität geführt haben könnten.
Unter den zeitgenössischen Büchern etwa waren es Werke der Empfindsamkeitsliteratur von Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseaus „Julie oder Die neue Héloise“; in der Philosophie sind die Varianten einer nicht-rationalistischen gefühlsbasierten Erklärung der Moral eines Francis Hutcheson, David Hume oder Adam Smith zu nennen.
Weder bedarf es zur Erklärung der intensivierten und ausgeweiteten Empathie einer speziellen handlungstheoretisch gedachten Motivation, noch wäre es plausibel, eine solche in der Heiligkeit der Person zu entdecken. Sakrales lädt normalerweise nicht zur Einfühlung ein.
Das neue Buch von Hans Joas zeigt gleichwohl auf bemerkenswerte Weise, wie kreative Versuche, religiöse Erfahrungen unter Bedingungen moderner liberaler pluralistischer Gesellschaften neu zu formulieren, menschenrechtlich produktiv sein können. Menschenrechte sind keine Zeugnisse eines aufklärerischen Triumphes über Tradition und Religion. Ebenso wenig lassen sie sich als eine logische Konsequenz ausgeben, die seit jeher im Christentum – und nur dort – latent vorhanden schlummerte. Hans Joas’ wichtiges Buch enthält eine wertvolle und wohlabgewogene Darstellung, wie die Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte aus einer sich wechselseitig inspirierenden Parallelaktion säkularen und religiösen Denkens, Interpretierens und Handelns entstehen konnten.
Wer dabei, wie der Freiburger Soziologe, die Kreativität des Handelns und Interpretierens betont und um die Chancen weiß, Traditionen durch überraschende Artikulationen von Erfahrungen neu zu erfinden, der wäre der letzte, die Geschichte der Menschenrechte damit für auserzählt zu halten.
DIRK LÜDDECKE
HANS JOAS: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 303 Seiten, 26,90 Euro.
Die Abschaffung der Folter und
das Ende der Sklaverei stehen
hier im Mittelpunkt
Werte sind eingebettet in
kulturelle Kontexte, aber nicht
in diese eingesperrt
Aufklärung und Christentum
haben sich
wechselseitig inspiriert
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2011Was kann Kant dafür, dass er kein Soziologe war?
Woher die Kultur der Menschenrechte kommt und wie sie sich begründen lässt: Der Sozialphilosoph Hans Joas fragt in einer profunden geistesgeschichtlichen Studie nach der Sakralität der Person.
Unser Zeitalter der Globalisierung erlaubt zwar ein hohes Maß an kultureller Vielfalt. Für sein Leitziel, ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit, braucht es jedoch elementare Gemeinsamkeiten. Sie heißen Menschenrechte und als deren Leitidee Menschenwürde.
Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas nimmt sich - wieder einmal - die Zivilreligion der Moderne, ebendie Menschenrechte, vor - dieses Mal auf eine seiner Ansicht in zweierlei Hinsicht neuartige Weise. Methodisch tritt an die Stelle der beiden angeblich bislang vorherrschenden Optionen, der philosophischen und rationalen Begründung und der historisch-empirischen Genese, eine "affirmative Genealogie". Gemeint ist eine Entstehungsgeschichte der Menschenrechte, die zugleich zur Berechtigung des Entstandenen beiträgt. Mit dieser historischen Soziologie der Menschenrechte will Joas die verbreitete Trennung von Genesis und Geltung unterlaufen. Dabei vertritt er, wogegen im Westen seit längerem Skepsis vorherrscht, ein Stück Fortschrittsgeschichte. Klugerweise bezieht er sie auf den Bereich, in dem die Skepsis am wenigsten überzeugt: auf das (schon von Kant hervorgehobene) Recht.
Obwohl im Ausdruck "Berechtigung" der klassische Anspruch philosophischer Begründung, die Rechtfertigung, anklingt, gibt sich der Beitrag von Joas ausdrücklich mit deren kleinen Schwester, der Plausibilisierung, zufrieden. In der Tat lässt eine affirmative Genealogie schwerlich mehr zu. Auch wer zusätzlich auf tieferliegende kulturelle Transformationsprozesse eingeht, kann aus einer Geschichte kontingenter Erfahrungen nur Plausibilität gewinnen: dass die Menschenrechte eine echte historische Innovation sind, die den Beteiligten gleichwohl als evident erscheint.
In der zweiten, inhaltlichen Hinsicht wendet sich Joas gegen zwei (ebenso angeblich) bislang dominante Vorstellungen: dass der Gedanke der Menschenrechte sich dem jüdisch-christlichen Erbe oder aber einer weithin antireligiösen Aufklärung verdanke. Nach der alternativen Hinsicht von Joas dagegen entstehen die Menschenrechte und deren rechtliche Verankerung in einem Prozess der Sakralisierung, der jeden einzelnen Menschen für sakrosankt, insofern heilig ansieht. Joas will also zwei bislang nicht wirklich dominante, aber doch einflussreiche Meistererzählungen durch eine neue, dritte Erzählung ablösen. Um es an einem seiner Beispiele, der Abschaffung der Folter, zu konkretisieren: Gegen den Mythos der Aufklärung, deren Muster hier der italienische Strafrechtsreformer Cesare Beccaria ist, und gegen den Formwandel der Macht nach dem Vorbild von Michel Foucault tritt der titelgebende Gedanke, die Sakralisierung der Person.
Vielleicht gehört zur Komposition eines profilierten Werkes die Zuspitzung, sogar Überspitzung. Der Studie von Joas liegt eine rhetorisch gelungene, sogar brillante Inszenierung zugrunde, die an entsprechender Stelle zwar nicht leugnet, insgesamt aber doch in den Hintergrund treten lässt, dass die entscheidenden Thesen schon vorher vertreten worden sind. Bei einem Soziologen überrascht es nicht, dass es die Klassiker seines Metiers sind: Max Weber, Émile Durkheim und Talcott Parsons, zusätzlich der Pionier einer historischen Soziologie des Christentums, Ernst Troeltsch, und der Staatsrechtslehrer Georg Jellinek.
Eine so große Aufgabe wie die Genealogie der Menschenrechte lässt sich nur bewältigen, wenn man sich konzentriert. In Konzentration auf entscheidende Phänomene gelingt es Joas, sein Ziel zu erreichen. Die beanspruchte Entwertung der philosophischen Begründung überzeugt dagegen nicht, ist zudem für das eigene Vorhaben überflüssig. Wie baut Joas seine Genealogie auf? Unter dem sprechenden Titel "Charisma der Vernunft?" beginnt er mit der Entstehung der ersten Menschenrechtserklärung im späten achtzehnten Jahrhundert. Dabei kritisiert er die angeblich konventionelle Ansicht, die Menschenrechte seien in Frankreich und im Geist einer religionsfeindlichen Aufklärung entstanden. Wie man weiß und in einschlägigen Textsammlungen, beispielsweise von Wolfgang Heidelmeyer, längst dokumentiert wird, ist aber die Virginia Bill of Rights (12. Juni 1776) älter und sind deren Verfasser, wie man ebenso des längeren weiß, Religionsflüchtlinge, also keineswegs religionsfeindliche Personen.
Insofern überzeugt Joas dort mehr, wo er an einen großen deutschen Staatsrechtslehrer, an Georg Jellineks bahnbrechende und schon vor mehr als hundert Jahren, nämlich 1895, veröffentlichte Thesen anknüpft und in Korrektur von einigen Zuspitzungen Jellineks die amerikanischen Erklärungen auf das "Bündnis einer quasi-pietistischen Massenbewegung und einer rationalistisch-aufklärerischen Elite" zurückführt. Dadurch wird die zunächst allzu schlichte Alternative, entweder religionsfeindliche Aufklärung oder christliche Herkunft, überzeugend unterlaufen.
Sein zweites Kapitel widmet Joas der weitgehenden Abschaffung der Folter im Europa des achtzehnten Jahrhunderts. Wieder unter einem aussagekräftigen Titel "Strafe und Respekt", mit dem den Buchtitel bekräftigenden Untertitel "Die Sakralisierung der Person ", stellt er jene tiefreichende kulturelle Verschiebung vor, "durch die die menschliche Person selbst zum heiligen Objekt wird". Abermals beansprucht er nicht, diesen Gedanken zum ersten Mal gedacht zu haben, sondern schreibt ihn zu Recht einem anderen großen Autor des neunzehnten Jahrhunderts, dem französischen Soziologen Émile Durkheim, zu. Dessen Zuspitzung, in dieser neuen Religion, der Religion der Moderne, sei der Mensch "zugleich Gläubiger und Gott", lehnt er dagegen ab. Die Ansicht, dass sich Durkheim "gegen den möglichen Weiterbestand religiöser Stützungen der Menschenrechte" verschließe, erscheint freilich überprüfenswert.
Das dritte Kapitel "Gewalt und Menschenwürde" untersucht exemplarisch die Antisklavereibewegung in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten des neunzehnten Jahrhunderts. Die These: Aus einer außergewöhnlichen Gewalterfahrung geht die Energie für eine positive Wertbindung sogar universalistischer Art hervor. Zwei Erklärungsmöglichkeiten weist Joas hier zurück, den Gedanken eines langsamen Reifens von Wertorientierungen und die Erklärung aus materiellen Interessenlagen. An deren Stelle tritt die Verbindung dreier Komponenten: die Intensivierung der Motivation, eine universalistische Moral umzusetzen; die "Ausdehnung der kognitiven Attribution moralischer Verantwortlichkeit"; und eine "transnationale Organisation des moralischen Universalismus".
Gegen eine verbreitete Überbewertung des Gewichts der jüdisch-christlichen Tradition für die Menschenrechte erklärt Joas zu Recht, dass Traditionen nichts hervorbringen, dass sie aber sich zu einer Innovation verhalten müssen. Im einschlägigen fünften Kapitel "Seele und Gabe. Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft" zeigt er, wie das Christentum nach und nach die anfängliche Ablehnung überwindet und die Menschenrechte schließlich in ihre eigene Lehre integriert. Hierzu hätte man an Papst Johannes Paul II. erinnern können, der vor allem in seinen ersten Pontifikatsjahren den Menschenrechten ein großes Gewicht eingeräumt, sie aber nicht konsequent für innerkirchliche Strukturen übernommen hat.
Der kürzeste Teil, das Schlusskapitel "Wertegeneralisierung", befasst sich mit einem erstaunlichen globalen Konsens: dass sich die Vereinten Nationen trotz der Pluralität ihrer Kulturen auf eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eingelassen haben. Joas zeichnet hier den komplexen Entstehungsprozess der Menschenrechtserklärung nach.
Nachdem es dem Autor zuvor um die Entstehungsgeschichte ging, wendet er sich im letzten Absatz der Zukunft zu, nämlich der Frage, wie man die einmal erreichten Errungenschaften stabilisieren könne. Seine Antwort: Die im Verlauf der affirmativen Genealogie entscheidenden drei Bereiche - Praktiken, Werte und Institutionen - müssen zusammenwirken. Die Menschenrechte müssten nämlich "institutionell und zivilgesellschaftlich gestützt, argumentativ verteidigt und in den Praktiken des Alltagslebens inkarniert" werden. Da diese Antwort überzeugt, sei dem Philosophen zur mittleren Erfordernis, der argumentativen Verteidigung, nur eine Rückfrage erlaubt: Muss sich die historische Soziologie als Abschied von philosophischer Begründung verstehen?
Die Studie liest sich mitlaufend als ein Plädoyer, statt bei den Philosophen lieber bei den Soziologen in die Lehre zu gehen. Dass man bei Max Weber, Émile Durkheim und Talcott Parsons, auch bei Ernst Troeltsch Neues lernt, pflegen Philosophen nicht zu bestreiten. Ohnehin versteht es sich, dass jede Profession ihre eigenen Lehrmeister hat. Ist es aber nicht ein disziplinärer Imperialismus, wenn man zugleich die Meister anderer Professionen beiseiteschiebt? Dass etwa Kant oder Hegel keine Soziologen waren, verdankt sich doch ihrem Interesse, bei ihren Leisten, ebender Philosophie, zu bleiben. Deren Strafrechtstheorien spielen aber im Strafrechtskapitel von Joas keine Rolle, womit deren angebliche Irrelevanz unbegründet bleibt.
Dieser Einwand soll das Verdienst des Autors aber nicht schmälern: dass er ein profundes Buch geschrieben hat, dem man den langen Atem anmerkt, mit dem die Gedanken zur nicht bloß klaren, sondern auch eleganten Präsentierung herangereift sind.
OTFRIED HÖFFE.
Hans Joas: "Die Sakralität der Person". Eine neue Genealogie der Menschenrechte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 303 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Woher die Kultur der Menschenrechte kommt und wie sie sich begründen lässt: Der Sozialphilosoph Hans Joas fragt in einer profunden geistesgeschichtlichen Studie nach der Sakralität der Person.
Unser Zeitalter der Globalisierung erlaubt zwar ein hohes Maß an kultureller Vielfalt. Für sein Leitziel, ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit, braucht es jedoch elementare Gemeinsamkeiten. Sie heißen Menschenrechte und als deren Leitidee Menschenwürde.
Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas nimmt sich - wieder einmal - die Zivilreligion der Moderne, ebendie Menschenrechte, vor - dieses Mal auf eine seiner Ansicht in zweierlei Hinsicht neuartige Weise. Methodisch tritt an die Stelle der beiden angeblich bislang vorherrschenden Optionen, der philosophischen und rationalen Begründung und der historisch-empirischen Genese, eine "affirmative Genealogie". Gemeint ist eine Entstehungsgeschichte der Menschenrechte, die zugleich zur Berechtigung des Entstandenen beiträgt. Mit dieser historischen Soziologie der Menschenrechte will Joas die verbreitete Trennung von Genesis und Geltung unterlaufen. Dabei vertritt er, wogegen im Westen seit längerem Skepsis vorherrscht, ein Stück Fortschrittsgeschichte. Klugerweise bezieht er sie auf den Bereich, in dem die Skepsis am wenigsten überzeugt: auf das (schon von Kant hervorgehobene) Recht.
Obwohl im Ausdruck "Berechtigung" der klassische Anspruch philosophischer Begründung, die Rechtfertigung, anklingt, gibt sich der Beitrag von Joas ausdrücklich mit deren kleinen Schwester, der Plausibilisierung, zufrieden. In der Tat lässt eine affirmative Genealogie schwerlich mehr zu. Auch wer zusätzlich auf tieferliegende kulturelle Transformationsprozesse eingeht, kann aus einer Geschichte kontingenter Erfahrungen nur Plausibilität gewinnen: dass die Menschenrechte eine echte historische Innovation sind, die den Beteiligten gleichwohl als evident erscheint.
In der zweiten, inhaltlichen Hinsicht wendet sich Joas gegen zwei (ebenso angeblich) bislang dominante Vorstellungen: dass der Gedanke der Menschenrechte sich dem jüdisch-christlichen Erbe oder aber einer weithin antireligiösen Aufklärung verdanke. Nach der alternativen Hinsicht von Joas dagegen entstehen die Menschenrechte und deren rechtliche Verankerung in einem Prozess der Sakralisierung, der jeden einzelnen Menschen für sakrosankt, insofern heilig ansieht. Joas will also zwei bislang nicht wirklich dominante, aber doch einflussreiche Meistererzählungen durch eine neue, dritte Erzählung ablösen. Um es an einem seiner Beispiele, der Abschaffung der Folter, zu konkretisieren: Gegen den Mythos der Aufklärung, deren Muster hier der italienische Strafrechtsreformer Cesare Beccaria ist, und gegen den Formwandel der Macht nach dem Vorbild von Michel Foucault tritt der titelgebende Gedanke, die Sakralisierung der Person.
Vielleicht gehört zur Komposition eines profilierten Werkes die Zuspitzung, sogar Überspitzung. Der Studie von Joas liegt eine rhetorisch gelungene, sogar brillante Inszenierung zugrunde, die an entsprechender Stelle zwar nicht leugnet, insgesamt aber doch in den Hintergrund treten lässt, dass die entscheidenden Thesen schon vorher vertreten worden sind. Bei einem Soziologen überrascht es nicht, dass es die Klassiker seines Metiers sind: Max Weber, Émile Durkheim und Talcott Parsons, zusätzlich der Pionier einer historischen Soziologie des Christentums, Ernst Troeltsch, und der Staatsrechtslehrer Georg Jellinek.
Eine so große Aufgabe wie die Genealogie der Menschenrechte lässt sich nur bewältigen, wenn man sich konzentriert. In Konzentration auf entscheidende Phänomene gelingt es Joas, sein Ziel zu erreichen. Die beanspruchte Entwertung der philosophischen Begründung überzeugt dagegen nicht, ist zudem für das eigene Vorhaben überflüssig. Wie baut Joas seine Genealogie auf? Unter dem sprechenden Titel "Charisma der Vernunft?" beginnt er mit der Entstehung der ersten Menschenrechtserklärung im späten achtzehnten Jahrhundert. Dabei kritisiert er die angeblich konventionelle Ansicht, die Menschenrechte seien in Frankreich und im Geist einer religionsfeindlichen Aufklärung entstanden. Wie man weiß und in einschlägigen Textsammlungen, beispielsweise von Wolfgang Heidelmeyer, längst dokumentiert wird, ist aber die Virginia Bill of Rights (12. Juni 1776) älter und sind deren Verfasser, wie man ebenso des längeren weiß, Religionsflüchtlinge, also keineswegs religionsfeindliche Personen.
Insofern überzeugt Joas dort mehr, wo er an einen großen deutschen Staatsrechtslehrer, an Georg Jellineks bahnbrechende und schon vor mehr als hundert Jahren, nämlich 1895, veröffentlichte Thesen anknüpft und in Korrektur von einigen Zuspitzungen Jellineks die amerikanischen Erklärungen auf das "Bündnis einer quasi-pietistischen Massenbewegung und einer rationalistisch-aufklärerischen Elite" zurückführt. Dadurch wird die zunächst allzu schlichte Alternative, entweder religionsfeindliche Aufklärung oder christliche Herkunft, überzeugend unterlaufen.
Sein zweites Kapitel widmet Joas der weitgehenden Abschaffung der Folter im Europa des achtzehnten Jahrhunderts. Wieder unter einem aussagekräftigen Titel "Strafe und Respekt", mit dem den Buchtitel bekräftigenden Untertitel "Die Sakralisierung der Person ", stellt er jene tiefreichende kulturelle Verschiebung vor, "durch die die menschliche Person selbst zum heiligen Objekt wird". Abermals beansprucht er nicht, diesen Gedanken zum ersten Mal gedacht zu haben, sondern schreibt ihn zu Recht einem anderen großen Autor des neunzehnten Jahrhunderts, dem französischen Soziologen Émile Durkheim, zu. Dessen Zuspitzung, in dieser neuen Religion, der Religion der Moderne, sei der Mensch "zugleich Gläubiger und Gott", lehnt er dagegen ab. Die Ansicht, dass sich Durkheim "gegen den möglichen Weiterbestand religiöser Stützungen der Menschenrechte" verschließe, erscheint freilich überprüfenswert.
Das dritte Kapitel "Gewalt und Menschenwürde" untersucht exemplarisch die Antisklavereibewegung in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten des neunzehnten Jahrhunderts. Die These: Aus einer außergewöhnlichen Gewalterfahrung geht die Energie für eine positive Wertbindung sogar universalistischer Art hervor. Zwei Erklärungsmöglichkeiten weist Joas hier zurück, den Gedanken eines langsamen Reifens von Wertorientierungen und die Erklärung aus materiellen Interessenlagen. An deren Stelle tritt die Verbindung dreier Komponenten: die Intensivierung der Motivation, eine universalistische Moral umzusetzen; die "Ausdehnung der kognitiven Attribution moralischer Verantwortlichkeit"; und eine "transnationale Organisation des moralischen Universalismus".
Gegen eine verbreitete Überbewertung des Gewichts der jüdisch-christlichen Tradition für die Menschenrechte erklärt Joas zu Recht, dass Traditionen nichts hervorbringen, dass sie aber sich zu einer Innovation verhalten müssen. Im einschlägigen fünften Kapitel "Seele und Gabe. Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft" zeigt er, wie das Christentum nach und nach die anfängliche Ablehnung überwindet und die Menschenrechte schließlich in ihre eigene Lehre integriert. Hierzu hätte man an Papst Johannes Paul II. erinnern können, der vor allem in seinen ersten Pontifikatsjahren den Menschenrechten ein großes Gewicht eingeräumt, sie aber nicht konsequent für innerkirchliche Strukturen übernommen hat.
Der kürzeste Teil, das Schlusskapitel "Wertegeneralisierung", befasst sich mit einem erstaunlichen globalen Konsens: dass sich die Vereinten Nationen trotz der Pluralität ihrer Kulturen auf eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eingelassen haben. Joas zeichnet hier den komplexen Entstehungsprozess der Menschenrechtserklärung nach.
Nachdem es dem Autor zuvor um die Entstehungsgeschichte ging, wendet er sich im letzten Absatz der Zukunft zu, nämlich der Frage, wie man die einmal erreichten Errungenschaften stabilisieren könne. Seine Antwort: Die im Verlauf der affirmativen Genealogie entscheidenden drei Bereiche - Praktiken, Werte und Institutionen - müssen zusammenwirken. Die Menschenrechte müssten nämlich "institutionell und zivilgesellschaftlich gestützt, argumentativ verteidigt und in den Praktiken des Alltagslebens inkarniert" werden. Da diese Antwort überzeugt, sei dem Philosophen zur mittleren Erfordernis, der argumentativen Verteidigung, nur eine Rückfrage erlaubt: Muss sich die historische Soziologie als Abschied von philosophischer Begründung verstehen?
Die Studie liest sich mitlaufend als ein Plädoyer, statt bei den Philosophen lieber bei den Soziologen in die Lehre zu gehen. Dass man bei Max Weber, Émile Durkheim und Talcott Parsons, auch bei Ernst Troeltsch Neues lernt, pflegen Philosophen nicht zu bestreiten. Ohnehin versteht es sich, dass jede Profession ihre eigenen Lehrmeister hat. Ist es aber nicht ein disziplinärer Imperialismus, wenn man zugleich die Meister anderer Professionen beiseiteschiebt? Dass etwa Kant oder Hegel keine Soziologen waren, verdankt sich doch ihrem Interesse, bei ihren Leisten, ebender Philosophie, zu bleiben. Deren Strafrechtstheorien spielen aber im Strafrechtskapitel von Joas keine Rolle, womit deren angebliche Irrelevanz unbegründet bleibt.
Dieser Einwand soll das Verdienst des Autors aber nicht schmälern: dass er ein profundes Buch geschrieben hat, dem man den langen Atem anmerkt, mit dem die Gedanken zur nicht bloß klaren, sondern auch eleganten Präsentierung herangereift sind.
OTFRIED HÖFFE.
Hans Joas: "Die Sakralität der Person". Eine neue Genealogie der Menschenrechte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 303 S., geb., 26,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Woher kommt die Menschenrechtskultur? Dieser Frage geht der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas laut Rezensent auf eine für ihn genuine Art und Weise nach, indem er konkurrierende Ursprungserzählungen, religiöse wie säkulare, zueinander ins Verhältnis setzt und schließlich eine alternative Perspektive aus beiden anbietet. Joas' These von der Sakralisierung des menschlichen Einzelwesens, entliehen, wie Uwe Justus Wenzel herausfindet, bei Durkheim, ist für den Rezensenten insofern neu, als der Autor hier erstmals Genese und Geltung dieses Prozesses in einer Betrachtung vereint. Die Einzelskizzen, aus denen Joas seinen Text webt sind für Wenzel aufschlussreich. Betreffend aktuelle Menschenrechts- und Menschenwürdedebatten vermag ihm der Band allerdings bloß Ausgangspunkt sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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