„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)
Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium das Oxford Dictionary neben Duden und Brockhaus meine ständigen Begleiter. Gedanken darüber,
wie die Wörter und Definitonen in die Nachschlagewerke gekommen sind, habe ich mir aber nie gemacht.…mehr„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)
Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium das Oxford Dictionary neben Duden und Brockhaus meine ständigen Begleiter. Gedanken darüber, wie die Wörter und Definitonen in die Nachschlagewerke gekommen sind, habe ich mir aber nie gemacht. Diese Leerstelle, zumindest im Hinblick auf das englische Wörterbuch, füllt die Sozialwissenschaftlerin Pip Williams mit ihrem ersten Roman „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, in dem sie dessen Entstehung aus der Sicht von Esme Nicoll begleitet.
Esme ist die Tochter eines alleinerziehenden Lexikographen, der als Mitarbeiter von Sir James Murray an der Erstellung der ersten Ausgabe des ersten Oxford English Dictionary mitarbeitet. Der Vater ist einer von vielen Helfern, sammelt und katalogisiert die auf Zetteln eingesandten Worte samt Definitonen. Interessanterweise wird aber nicht jedes dieser Worte wichtig genug, um einen Platz im OED zu finden. Das merkt auch Esme ziemlich schnell, die ihren Vater bei seiner Arbeit begleitet und ihm die vom Tisch heruntergefallenen Einsendungen reicht. Auf einem dieser Zettel steht „Bonemaid“ (= Magd, im weitesten Sinn), ein Wort, das sie ihr Leben lang begleiten wird und Antrieb für all ihre Bemühungen ist, hat ihr Vater diesen Zettel doch umgehend entsorgt.
Und so fängt sie an, diese ausrangierten Begriffe zu sammeln und stellt fest, dass sie alle eine Gemeinsamkeit haben. Bei ihnen geht es ausnahmslos um Erfahrungen und Dinge des täglichen Lebens der Frauen und der einfachen Bevölkerung. In ihr reift der Plan, aus diesen „verlorenen“ Worten ihr eigenes Wörtbuch zu schaffen, damit auch diese Menschen gehört werden. Aber dafür muss sie zuerst einmal den Universitätskosmos verlassen und in deren Welt eintauchen.
Die zeitliche Einordnung ist immens wichtig für diesen Roman, der 1887 beginnt und weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hineinreicht. Das Viktorianische Zeitalter neigt sich dem Ende zu, die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, es ist eine Zeit des Wandels, die ganz allmählich gesellschaftliche Veränderungen einläutet. Die bestehenden Klassenunterschiede werden thematisiert, die Rolle der Frauen hinterfragt, die Suffragetten fordern das Wahlrecht und gehen auf die Barrikaden und der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. All dies wird aus Esmes Sicht beschrieben und festigt sie in ihrer Meinung, dass es die Sprache der Männer ist, die die Gegenwart regiert, Geschichte schreibt, die Stimmen der Frauen außen vor bleiben.
Ein berührender, und ja, auch ein feministischer Roman über die Macht der Sprache, der Anstösse gibt und zum Nachdenken anregt.