Gedichte - in Sinne von kurzen, nur handtellergroßen Sprachstücken - und Kurzgeschichten lägen ihm nicht, hat Uwe Tellkamp gesagt, die zeigten nur einen Weltausschnitt statt der Totalen, auf die es ankomme. Ihn interessiere das Epische, »das Weltumgreifende, der Roman als Kapsel, als Botanisiertrommel der vergangenen Zeit«. Nach dem Erscheinen seines monumentalen Romans Der Turm mutmaßten die Feuilletons über die literarischen Gewährsleute Tellkamps, man brachte Gottfried Keller, Thomas Mann und Heimito von Doderer ins Spiel. In seiner Leipziger Poetikvorlesung 2008 gibt er nun selbst ausführlich Auskunft über sein poetologisches Programm.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.08.2009Der Dichter als Dom-Baumeister
Uwe Tellkamp und der Wille zur Kunst: Zur Wiederveröffentlichung seines ungeliebten Debütromans
Mit der Literatur muss etwas geschehen sein. Gewiss, Uwe Tellkamps Roman „Der Turm” wurde, als er im vergangenen Jahr erschien, meist sehr freundlich und manchmal auch euphorisch besprochen. Aber in die Zustimmung mischte sich ein Vorbehalt: Vielleicht wirke in diesem Buch doch zu sehr der Kunstwille. Das ist ein sonderbares Argument. Denn wie soll es Kunst ohne den Willen zur Kunst geben? Gemeint war daher etwas anderes: nämlich dass der Wille zur Kunst bei Uwe Tellkamp so stark sei, dass er sich gegen die Kunst wende, dass also die Anstrengung, Kunst hervorzubringen, nicht nur in, sondern auch neben dieser zu erkennen sei, als Manier und übertriebene Geste. Allein schon der Anfang dieses dicken Buches: „Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht”, zweimal ein Partizip Präsens in einem halben Satz, eine Verbform, wie sie in dieser Verwendung im Deutschen heute eher ungebräuchlich ist, weil sich an ihr kein Subjekt und keine Zeit markieren lässt, ein Gallizismus, wie er allenfalls bei Peter Handke und im frühen neunzehnten Jahrhundert zum festen Repertoire der Dichter gehört.
Schön, dass jemand so selbstverständlich mit dieser Form umgehen kann, die sich so leichtfüßig über den oft so schwerfälligen deutschen Satzbau erhebt, ließe sich dagegen sagen. Und nicht nur dieses: wie seltsam, ist hinzuzufügen, dass das Halluzinatorische, das jeder Literatur zueignet, zu einem Problem zu werden scheint, wenn es sich als phantastischer Überschuss offenbart. Ein Spiel ist die Dichtung, ebenso realitätsfremd wie realitätsgesättigt, und das eine nur, weil sie das andere auch ist, in einem immer wieder neu begonnenen Versuch, etwas Abwesendes anwesend zu machen, was nur gelingen kann, wenn das Vergangene nicht wirklich vergangen ist, weil es seinen Dichter immer noch umtreibt. Auch das ist Kunstwille, und wer sich – abstrakt – an ihm stört, der will vom Halluzinatorischen der Literatur nichts mehr wissen und meint, mit grundsätzlich heruntergezogenen Mundwinkeln und gelangweiltem Blick, einen Pakt mit der Wirklichkeit geschlossen zu haben, der ihn allen vermeintlichen und echten Träumereien gegenüber ins Recht setzt.
In diesen Tagen ist ein älteres, vergessenes Werk von Uwe Tellkamp in die Buchhandlungen zurückgekehrt. Der Roman mit dem Titel „Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café” war zuerst im Jahr 2000 bei Faber & Faber in Leipzig erschienen. Er wurde damals, womöglich wegen seiner halluzinatorischen Qualitäten, kaum zur Kenntnis genommen. Wenn er nun noch einmal publiziert wird, liegt indessen eine größere Aufmerksamkeit auf ihm, nicht nur, weil der Autor seitdem viele Preise errungen und mit dem Buch „Der Turm” ein neues Volksbuch geschaffen hat, sondern auch, weil er bekannt gegeben hat, dass er die Wiederveröffentlichung des Erstlings hatte verhindern wollen. Und nach der Lektüre ist zu sagen: Es ehrt Uwe Tellkamp, dass er sein eigenes Buch nicht mehr sehen mag. Aber blamiert hat sich hier keiner. Es ist nur so, dass das Realitätsfremde in diesem Roman das Realitätsgesättigte mitsamt „goldflaumiger” Haut und „honigblonden” Haaren verschlungen hat – und das ist ein Fehler des Anfangens, das dem Späteren nichts von seiner Bedeutung raubt.
Erzählt wird eine Liebesgeschichte, die sich einige Jahre nach dem Untergang der DDR in Dresden zuträgt, während eines Sommers, den Uwe Tellkamp in all seinen Gerüchen, Farbwechseln, Lichtveränderungen, Blütenständen, Wolkenzügen auf höchst anschauliche Weise schildert. Überhaupt: dies ist das Buch eines Verliebten, und das liegt schon an den Liebenden, mit denen Uwe Tellkamp offenbar im Bunde ist, mehr aber noch am Umgang des Dichters mit seinem Stoff. Entschieden, rückhaltlos, unbekümmert um Kitsch und Klischee, widmet er sich der selbstgestellten Aufgabe, die Gemüter seiner Leser ins Schwingen zu bringen (wobei, und auch das gehört dazu, gerade das Rückhaltlose ihn wieder über den Kitsch hinausträgt): „Sie erwiderte seinen Gruß, und er lauschte dem Klang ihrer Stimme nach, hell und lichtzart wie das Gelb der Juniaprikosen; wohlig empfand er die Berührung seines Ohrs, als sie ihn fragte, ob er hier wohne.”
Jeder, der den „Turm” gelesen hat, wird erkennen, wie das zukünftig Große schon im halb verfehlten Kleinen steckt: von der Konstruktion eines eingefriedeten Raums (jeweils ein Stadtviertel in Dresden), in dem sich das mit höchster Aufmerksamkeit verfolgte Geschehen abspielt, bis hin zu der Technik, Ausdrücke der Befindlichkeit („wohlig”) an den Anfang des Satzes zu schieben, Beifügungen ohne ausdrücklichen grammatischen Bezug in den Satz zu rücken („hell und lichtzart”) und Metonymien zumindest anzuschrägen (die „Berührung des Ohrs” durch die Stimme).
Der Sommer vergeht, und die beiden Liebenden finden sich nicht, weil Florian, der junge Dichter, sein Zartgefühl nicht zu überwinden vermag. Das klingt gruseliger, als es ist, denn längst hat der Leser verstanden, dass es hier auch darum geht, die Erwartungen an ein Genre zu erfüllen – „Der Hecht, die Träume und das Portuguiesische Café” ist das Manifest einer Entschlossenheit zur Kunst, die sich der Verwandschaft mit der Frühromantik, also etwa Wilhelm Heinrich Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders” nicht schämt, wobei hier ein kleines Ensemble von Menschen in einer Stadt an eben die Stelle gerückt ist, die Wackenroder der Malerei einräumt.
Und alles ist da: das Weltabgewandte, die Begeisterung für die Anschauung, der Glaube an die Genialität, das Gefühl des Unwiederbringlichen, das Mönchische, das Bedürfnis, möglichst viele Metaphern anzuhäufen, damit wenigstens eine davon Wirklichkeit wird – und auch die Kenntnis von Johann Wolfgang Goethes erklärtem Widerwillen gegen die „neukatholische Sentimentalität”. Im Roman vom „Turm” findet sich derselbe Enthusiasmus, aber der Dichter weiß heute, dass die Begeisterung geregelter Vollzug sein muss, wenn sie literarische Form annehmen soll, er kann der Wirklichkeit ins selten liebliche und weit häufiger hässliche und schmutzige Gesicht sehen.
Im Frühjahr schon erschien bei Suhrkamp, Uwe Tellkamps heutigem Verlag, ein schmaler Band, der Vorträge, kleine literarische Phantasien und Zitatensammlungen enthält, die entstanden waren, als der Dichter im Jahr 2008 in Leipzig „Poetikvorlesungen” hielt. Darin finden sich die lebenspraktischen Umstände geschildert, unter denen Uwe Tellkamp zum Schriftsteller wurde – „ich war Arzt und schrieb, weil etwas, das ich mir weder erklären konnte noch wollte, mich dazu trieb”. Auch setzt sich Uwe Tellkamp in diesem Buch mit Werken und Literaten auseinander, die ihm etwas bedeuten (Haikus, Hölderlin, Onetti, Friederike Mayröcker, auch Durs Grünbein und Thomas Kling).
Vor allem aber enthält der Band ein poetisches Programm, das von der Lyrik (und aus ihr kommt Uwe Tellkamp, was überdeutlich vor allem in den missratenen Metaphern ist, in den „verschollenen Zeitungen” etwa) zur Epik und in den Roman führt: „Der moderne Dichter, wie ich ihn verstehe, ist wieder Dom-Baumeister.” Seine Aufgabe ist es, den Leser ins Offene zu geleiten, nein, ihm überhaupt zu zeigen, dass es etwas Offenes, noch Unentschiedendes überhaupt geben kann, ja, gibt. Aus dem Verlust der „Visionen”, erklärt Uwe Tellkamp, folge der Verlust des Gedächtnisses. Denn wer die Zukunft nur als fortgesetzte Vergangenheit sehe, brauche ja keine.
Es muss etwas mit der Literatur geschehen sein, wenn man solche Selbstverständlichkeiten aussprechen muss. Gut, „Visionen” sind Ausdruck eines Idealismus, der sich nicht an der Wirklichkeit messen will und gerade deshalb in tiefstem Frieden mit ihr lebt. Vermutlich ist eher der Widerspruch gemeint, also umgekehrt der Unwille, sich mit dem Vorhandenen abzufinden. Ohne Pathos aber ist dieser Widerspruch nicht zu haben, denn im Pathos drückt sich seine Dringlichkeit und seine Unabweislichkeit aus.
Und es ist dieses Pathos, über das sich die Kritik am Kunstwillen mokiert – in völliger Blindheit dem eigenen Pathos gegenüber: Es ist einer der größten Irrtümer der landläufigen Literatur und ihrer Kritik, in der Zurschaustellung von Welterfahrenheit, im lakonischen Ton der Geläufigkeit, im schiefen Lächeln und müden Aufschauen gebe sich die Wirklichkeit als solche zu erkennen. Nein, dieses Pathos des ironischen Abwinkens ist pathetischer noch als der wildeste Wille zur Kunst. THOMAS STEINFELD
UWE TELLKAMP: Die Sandwirtschaft. Anmerkungen zu Schrift und Zeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 168 Seiten, 11 Euro.
UWE TELLKAMP: Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café. Roman. Zweite Auflage. Verlag Faber & Faber, Leipzig, 2009. 158 Seiten, 18 Euro.
Dieser Erstling ist das Buch eines Verliebten
Dem Leser ist zu zeigen, dass es noch Offenes, Unentschiedenes gibt
Mit seinem Roman „Der Turm”, der 2008 erschien, schuf Uwe Tellkamp (hier auf einem Foto aus dem Jahr 2005) ein gesamtdeutsches Volksbuch. In die oft euphorische Kritik mischte sich auch Vorbehalt. Foto: Jürgen Bauer
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Uwe Tellkamp und der Wille zur Kunst: Zur Wiederveröffentlichung seines ungeliebten Debütromans
Mit der Literatur muss etwas geschehen sein. Gewiss, Uwe Tellkamps Roman „Der Turm” wurde, als er im vergangenen Jahr erschien, meist sehr freundlich und manchmal auch euphorisch besprochen. Aber in die Zustimmung mischte sich ein Vorbehalt: Vielleicht wirke in diesem Buch doch zu sehr der Kunstwille. Das ist ein sonderbares Argument. Denn wie soll es Kunst ohne den Willen zur Kunst geben? Gemeint war daher etwas anderes: nämlich dass der Wille zur Kunst bei Uwe Tellkamp so stark sei, dass er sich gegen die Kunst wende, dass also die Anstrengung, Kunst hervorzubringen, nicht nur in, sondern auch neben dieser zu erkennen sei, als Manier und übertriebene Geste. Allein schon der Anfang dieses dicken Buches: „Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht”, zweimal ein Partizip Präsens in einem halben Satz, eine Verbform, wie sie in dieser Verwendung im Deutschen heute eher ungebräuchlich ist, weil sich an ihr kein Subjekt und keine Zeit markieren lässt, ein Gallizismus, wie er allenfalls bei Peter Handke und im frühen neunzehnten Jahrhundert zum festen Repertoire der Dichter gehört.
Schön, dass jemand so selbstverständlich mit dieser Form umgehen kann, die sich so leichtfüßig über den oft so schwerfälligen deutschen Satzbau erhebt, ließe sich dagegen sagen. Und nicht nur dieses: wie seltsam, ist hinzuzufügen, dass das Halluzinatorische, das jeder Literatur zueignet, zu einem Problem zu werden scheint, wenn es sich als phantastischer Überschuss offenbart. Ein Spiel ist die Dichtung, ebenso realitätsfremd wie realitätsgesättigt, und das eine nur, weil sie das andere auch ist, in einem immer wieder neu begonnenen Versuch, etwas Abwesendes anwesend zu machen, was nur gelingen kann, wenn das Vergangene nicht wirklich vergangen ist, weil es seinen Dichter immer noch umtreibt. Auch das ist Kunstwille, und wer sich – abstrakt – an ihm stört, der will vom Halluzinatorischen der Literatur nichts mehr wissen und meint, mit grundsätzlich heruntergezogenen Mundwinkeln und gelangweiltem Blick, einen Pakt mit der Wirklichkeit geschlossen zu haben, der ihn allen vermeintlichen und echten Träumereien gegenüber ins Recht setzt.
In diesen Tagen ist ein älteres, vergessenes Werk von Uwe Tellkamp in die Buchhandlungen zurückgekehrt. Der Roman mit dem Titel „Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café” war zuerst im Jahr 2000 bei Faber & Faber in Leipzig erschienen. Er wurde damals, womöglich wegen seiner halluzinatorischen Qualitäten, kaum zur Kenntnis genommen. Wenn er nun noch einmal publiziert wird, liegt indessen eine größere Aufmerksamkeit auf ihm, nicht nur, weil der Autor seitdem viele Preise errungen und mit dem Buch „Der Turm” ein neues Volksbuch geschaffen hat, sondern auch, weil er bekannt gegeben hat, dass er die Wiederveröffentlichung des Erstlings hatte verhindern wollen. Und nach der Lektüre ist zu sagen: Es ehrt Uwe Tellkamp, dass er sein eigenes Buch nicht mehr sehen mag. Aber blamiert hat sich hier keiner. Es ist nur so, dass das Realitätsfremde in diesem Roman das Realitätsgesättigte mitsamt „goldflaumiger” Haut und „honigblonden” Haaren verschlungen hat – und das ist ein Fehler des Anfangens, das dem Späteren nichts von seiner Bedeutung raubt.
Erzählt wird eine Liebesgeschichte, die sich einige Jahre nach dem Untergang der DDR in Dresden zuträgt, während eines Sommers, den Uwe Tellkamp in all seinen Gerüchen, Farbwechseln, Lichtveränderungen, Blütenständen, Wolkenzügen auf höchst anschauliche Weise schildert. Überhaupt: dies ist das Buch eines Verliebten, und das liegt schon an den Liebenden, mit denen Uwe Tellkamp offenbar im Bunde ist, mehr aber noch am Umgang des Dichters mit seinem Stoff. Entschieden, rückhaltlos, unbekümmert um Kitsch und Klischee, widmet er sich der selbstgestellten Aufgabe, die Gemüter seiner Leser ins Schwingen zu bringen (wobei, und auch das gehört dazu, gerade das Rückhaltlose ihn wieder über den Kitsch hinausträgt): „Sie erwiderte seinen Gruß, und er lauschte dem Klang ihrer Stimme nach, hell und lichtzart wie das Gelb der Juniaprikosen; wohlig empfand er die Berührung seines Ohrs, als sie ihn fragte, ob er hier wohne.”
Jeder, der den „Turm” gelesen hat, wird erkennen, wie das zukünftig Große schon im halb verfehlten Kleinen steckt: von der Konstruktion eines eingefriedeten Raums (jeweils ein Stadtviertel in Dresden), in dem sich das mit höchster Aufmerksamkeit verfolgte Geschehen abspielt, bis hin zu der Technik, Ausdrücke der Befindlichkeit („wohlig”) an den Anfang des Satzes zu schieben, Beifügungen ohne ausdrücklichen grammatischen Bezug in den Satz zu rücken („hell und lichtzart”) und Metonymien zumindest anzuschrägen (die „Berührung des Ohrs” durch die Stimme).
Der Sommer vergeht, und die beiden Liebenden finden sich nicht, weil Florian, der junge Dichter, sein Zartgefühl nicht zu überwinden vermag. Das klingt gruseliger, als es ist, denn längst hat der Leser verstanden, dass es hier auch darum geht, die Erwartungen an ein Genre zu erfüllen – „Der Hecht, die Träume und das Portuguiesische Café” ist das Manifest einer Entschlossenheit zur Kunst, die sich der Verwandschaft mit der Frühromantik, also etwa Wilhelm Heinrich Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders” nicht schämt, wobei hier ein kleines Ensemble von Menschen in einer Stadt an eben die Stelle gerückt ist, die Wackenroder der Malerei einräumt.
Und alles ist da: das Weltabgewandte, die Begeisterung für die Anschauung, der Glaube an die Genialität, das Gefühl des Unwiederbringlichen, das Mönchische, das Bedürfnis, möglichst viele Metaphern anzuhäufen, damit wenigstens eine davon Wirklichkeit wird – und auch die Kenntnis von Johann Wolfgang Goethes erklärtem Widerwillen gegen die „neukatholische Sentimentalität”. Im Roman vom „Turm” findet sich derselbe Enthusiasmus, aber der Dichter weiß heute, dass die Begeisterung geregelter Vollzug sein muss, wenn sie literarische Form annehmen soll, er kann der Wirklichkeit ins selten liebliche und weit häufiger hässliche und schmutzige Gesicht sehen.
Im Frühjahr schon erschien bei Suhrkamp, Uwe Tellkamps heutigem Verlag, ein schmaler Band, der Vorträge, kleine literarische Phantasien und Zitatensammlungen enthält, die entstanden waren, als der Dichter im Jahr 2008 in Leipzig „Poetikvorlesungen” hielt. Darin finden sich die lebenspraktischen Umstände geschildert, unter denen Uwe Tellkamp zum Schriftsteller wurde – „ich war Arzt und schrieb, weil etwas, das ich mir weder erklären konnte noch wollte, mich dazu trieb”. Auch setzt sich Uwe Tellkamp in diesem Buch mit Werken und Literaten auseinander, die ihm etwas bedeuten (Haikus, Hölderlin, Onetti, Friederike Mayröcker, auch Durs Grünbein und Thomas Kling).
Vor allem aber enthält der Band ein poetisches Programm, das von der Lyrik (und aus ihr kommt Uwe Tellkamp, was überdeutlich vor allem in den missratenen Metaphern ist, in den „verschollenen Zeitungen” etwa) zur Epik und in den Roman führt: „Der moderne Dichter, wie ich ihn verstehe, ist wieder Dom-Baumeister.” Seine Aufgabe ist es, den Leser ins Offene zu geleiten, nein, ihm überhaupt zu zeigen, dass es etwas Offenes, noch Unentschiedendes überhaupt geben kann, ja, gibt. Aus dem Verlust der „Visionen”, erklärt Uwe Tellkamp, folge der Verlust des Gedächtnisses. Denn wer die Zukunft nur als fortgesetzte Vergangenheit sehe, brauche ja keine.
Es muss etwas mit der Literatur geschehen sein, wenn man solche Selbstverständlichkeiten aussprechen muss. Gut, „Visionen” sind Ausdruck eines Idealismus, der sich nicht an der Wirklichkeit messen will und gerade deshalb in tiefstem Frieden mit ihr lebt. Vermutlich ist eher der Widerspruch gemeint, also umgekehrt der Unwille, sich mit dem Vorhandenen abzufinden. Ohne Pathos aber ist dieser Widerspruch nicht zu haben, denn im Pathos drückt sich seine Dringlichkeit und seine Unabweislichkeit aus.
Und es ist dieses Pathos, über das sich die Kritik am Kunstwillen mokiert – in völliger Blindheit dem eigenen Pathos gegenüber: Es ist einer der größten Irrtümer der landläufigen Literatur und ihrer Kritik, in der Zurschaustellung von Welterfahrenheit, im lakonischen Ton der Geläufigkeit, im schiefen Lächeln und müden Aufschauen gebe sich die Wirklichkeit als solche zu erkennen. Nein, dieses Pathos des ironischen Abwinkens ist pathetischer noch als der wildeste Wille zur Kunst. THOMAS STEINFELD
UWE TELLKAMP: Die Sandwirtschaft. Anmerkungen zu Schrift und Zeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 168 Seiten, 11 Euro.
UWE TELLKAMP: Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café. Roman. Zweite Auflage. Verlag Faber & Faber, Leipzig, 2009. 158 Seiten, 18 Euro.
Dieser Erstling ist das Buch eines Verliebten
Dem Leser ist zu zeigen, dass es noch Offenes, Unentschiedenes gibt
Mit seinem Roman „Der Turm”, der 2008 erschien, schuf Uwe Tellkamp (hier auf einem Foto aus dem Jahr 2005) ein gesamtdeutsches Volksbuch. In die oft euphorische Kritik mischte sich auch Vorbehalt. Foto: Jürgen Bauer
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Klein denkt und Geringes will dieser Dichter nicht. Und recht hat er, meint Thomas Steinfeld, der Uwe Tellkamp gegen alle, die sein Pathos nur peinlich finden, entschieden zu verteidigen gedenkt. Sichtbar wird, was der Dichter will, nicht zuletzt in diesem Verstreutes sammelnden Band. Tellkamp schreibt hier nicht nur über von ihm geschätzte Schriftsteller (Onetti, Hölderlin et cetera) sondern entwirft, so Steinfeld, sein "poetisches Programm". Kondensiert ist es in seiner Forderung, der Romanautor müsse wieder "Dom-Baumeister" sein und die Leserin und den Leser ins Offene führen. Darin sieht Steinfeld keine Metaphernvermischung, sondern etwas, das er nur gutheißen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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