Jacques, der älteste Sohn der Grant-Tanerans, ist ein Spieler und Müßiggänger und ständig in Geldnöten. Mit seinen unheilvollen Machenschaften beherrscht er die ganze Familie: Seine Mutter kann ihrem Liebling nichts abschlagen, der Vater mischt sich längst nicht mehr ein, Henri, der Jüngere, eifert ihm nach. Nur Maud versucht sich dem Diktat des großen Bruders zu entziehen. Um der Familie aus ihrer finanziellen Misere zu helfen, soll sie den vermögenden Bauernsohn Pecresse heiraten. Doch anstatt die Rolle zu spielen, die man ihr zugedacht hat, wagt Maud einen Ausbruchsversuch - an der Seite eines andern, von dem sie sich ihr Glück erhofft.
Mit Die Schamlosen gelang der damals 29jährigen Marguerite Duras ein leidenschaftlicher erster Roman über die Tyrannei von Liebe und Haß, Schuldgefühl und Manipulation, Abhängigkeit und Selbstbetrug - kurz: über die subtilen seelischen Grausamkeiten, wie sie nur im Schoß der Familie möglich sind.
Mit Die Schamlosen gelang der damals 29jährigen Marguerite Duras ein leidenschaftlicher erster Roman über die Tyrannei von Liebe und Haß, Schuldgefühl und Manipulation, Abhängigkeit und Selbstbetrug - kurz: über die subtilen seelischen Grausamkeiten, wie sie nur im Schoß der Familie möglich sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999Trautes Heim, Schmock allein
Marguerite Duras macht Szenen / Von Volker Breidecker
In Uderan, unter den Linden", da trappeln die Pferde und stöhnen die Silben. Uderan, das reimt sich auf Taneran, den Namen derer, die in Uderan ein verwaistes Gut besitzen. Da gibt es "Tannenwald" und "Eichenwald", "Lindenallee" und "Zypressenallee". Wer jetzt noch "eine Tasse Lindenblütentee" verlangt, der bekommt sie du côté de, pardon, auf Seite 33 von Marguerite Duras' Roman "Die Schamlosen" prompt serviert und darf sie "laut schlürfend" austrinken. So widerfährt es Monsieur Taneran, der im siebten Stock einer Pariser Vorstadtwohnung im Kreise der Seinen sitzt, die allesamt Plagen sind. Das Schlürfgeräusch nährt die Familienbande, denn es "rief bei allen Erinnerungen wach", an Uderan, den legendären Ort, an dem man einst "hart gelebt und gelitten" hatte. "Selig sind, die da Land besitzen!" lässt Madame Taneran verlauten. Das verspricht Sommerfrische.
Uderan ist der Schauplatz des bei seinem erstmaligen Erscheinen im Jahre 1943 unbeachtet gebliebenen Debütromans "Les Impudents" der Duras. Kein Verleger wollte das Buch veröffentlichen, obgleich die Autorin - damals hauptberuflich für die Pariser Verteilungsbehörde kriegsrationierten Druckpapiers tätig - alle Hebel in Bewegung setzte. Als die Edition Plon schließlich einwilligte, interessierte sich nur noch die Zensur der deutschen Besatzer für das Manuskript. Mit deren Leiter Gerhard Heller stand die Duras allerdings auf so gutem Fuße, dass man die überarbeitete Fassung durchgehen ließ. Für den Fall einer Zurückweisung hatte die Autorin damit gedroht, sich zu ertränken. Noch zu Lebzeiten, wenn auch zögernd, stimmte Marguerite Duras der Wiederveröffentlichung zu. Lange gezögert hat offenbar auch ihr hiesiger Verleger. Postum wurde das Buch von Andrea Spingler jetzt treu ins Deutsche übersetzt.
"Hoch wie ein Kirchenschiff" umrahmen die "majestätischen Wipfel des Tannenwalds" das Gut der Tanerans. In Uderan, in der Dordogne gelegen, haben sich alle Elemente miteinander verschwistert. Hier hat die Duras ein zweites Combray geschaffen, wo die Erinnerung an "gewisse Dinge" für die Romanheldin Maud allerdings mit "Grauen" und "Ekel" verbunden ist. So flüstert es uns eine allwissende Erzählerstimme zu, um die Gründe fortan im Dunkeln zu belassen. Es ist im Kern der berühmte "Duras-Effekt", dessen Anfänge hier zu besichtigen sind: Unter dem "Wogen" der "Begierden" und dem "Wehen" der "Winde" in den "Wipfeln" der Bäume, die je nach Spezies und Wetterlage abwechselnd "weinen" und "stöhnen", nimmt die hochgestimmte Ton- und tränenreiche Nässespur, die diesen literarischen Kosmos durchweht und durchtränkt, von Uderan ihren Ausgang. Im langen Schatten, mehr aber noch in den Nesseln junger Mädchenblüte sitzend, malt die Duras fleißig Kalenderblätter vom Anfang der Maienzeit bis Ende Juno in ihr Stundenbuch. Es muss ein meteorologisch sehr wechselhafter Frühsommer gewesen sein. Der Entschluss der Tanerans, nach Uderan aufzubrechen, reift bei kühler Morgenluft, auf dem Rückweg von der Beerdigung der unter seltsam unaufgeklärten Umständen zu Tode gekommenen Schwiegertochter.
Alfred Hitchcock hat dergleichen mit bösem Doppelsinn einen "family plot" genannt. War da eben noch der Sarg, so ließ jetzt "der Saft die Knospen platzen, und die Luftschwaden rochen schon nach warmem Makadem und Staub." Auf nach Uderan! "Das wird dich wiederherstellen, mein Schatz", sagt die Mutter zu ihrem soeben verwitweten Sohn Jacques, der endlich wieder in ihren Alleinbesitz übergegangen ist. Und das war der Anfang, und so geht es unter ständigen Barometermessungen über 144 Seiten weiter bis zur Heuernte. "Allein am Himmel, zogen Raben ihre unsteten Bahnen. In ziemlicher Höhe zerrissen sie die Stille mit ihrem krächzenden Geschrei, verkündeten unbestimmt, Zeiten des Zorns seien nah, von wem und gegen wen, wüsste man nicht." Das ist sie wieder, die auratische Nullschärfe, die feierliche Unbestimmtheit. Der Leser mag sich ja nicht einbilden, aus den von Flora und Fauna leidenschaftlich umrankten Schilderungen menschlicher Begebenheiten Genaueres zu erfahren. Was ist los bei den Tanerans? Bei den Tanerans ist nichts los. Da ist Jacques, der Despot der Familie, dem Madame Taneran alle Eskapaden und Boshaftigkeiten zubilligt, solange nur dafür gesorgt ist, dass ihre Mutterschaft durch künstliche Verlängerungen endlos währt. Der jüngere Halbbruder, vom Vater, der ohnehin nichts zu melden hat, in die zweite Ehe der verwitweten Mutter mitgebracht, tritt bereits in des Älteren Fußstapfen. Schwester Maud ist durch Hassliebe ihrerseits an Jacques gekettet: "Alles Böse, was er getan hatte, hatte sie genauso empfunden, als hätte sie es selbst getan." Niemand frage, was er getan hatte. Er war weniger als ein Tunichtgut. Für gewöhnlich tat er nämlich gar nichts und langweilte sich zu Tode, wie die übrige Sippe auch.
"In Uderan herrschte zähe, bedrückende Langeweile." Sowohl das angestrengte Nichtstun als auch das beschwerliche Geschäft des Familienkreises, die unsichtbaren Fäden, die den einen an den anderen fesseln, nach Bedarf anzuziehen, sie mit Balsam zu bestreichen und mit überraschenden Gegenzügen zu beantworten, verlangen den Tanerans enorme Kräfte ab. Ihre leidenschaftliche Anhänglichkeit äußert sich darin, dass sie tagaus, tagein einander Szenen machen. Was sie in Liebe und Hass sowie in den porösen Übergangszonen beider Zustände am meisten eint, ist der Wille zum Drama. In diesem System kommunizierender Gefäße, deren jedes einen ganzen Kosmos ausfüllen möchte, werden alle Affekte allein um die Einwirkung auf den anderen Willen ausgespielt: Damit es nicht hieße, er leide weniger, legte sich Jacques "eine Erregung zu, die Schmerz vortäuschen sollte". Szenen machen müde, und so sind die zügellos untätigen Tanerans von ständiger Erschöpfung gezeichnet. Dabei sind sie nicht nur schwer wie Blei, sondern auch kalt wie Hundeschnauze.
Maud, die wie Jacques dem trauten Kreis ebenso häufig entflieht, wie sie stets artig und schuldbewusst zurückkehrt, lauscht der Natur und wartet mit pochendem Herzen auf Erlösung. Eines Nachts hörte sie ein Trappeln auf der Lindenallee vor ihrer Kammer: ",Das ist ein Pferd...', sagte sie sich." Vom "Getrappel", das sich von nun an täglich wiederholt, ist Maud "wie gefesselt". Auf dem Pferd sitzt natürlich ein Reiter, der sich alsbald, "in Gebärden von animalischer Geschmeidigkeit", als echter Mann zu erkennen gibt: "Der Mann kam von überall, von allen Punkten des Horizonts, von allen nachterfüllten Wegen, und sie wusste nicht, woher sie ihn tatsächlich zu erhoffen hatte."
Die "Begierde", wie es noch vorstrukturalistisch heißt, äußert sich durchweg negativ, als abwesende, verschämte, verdrängte oder bereits abgestorbene. Bevor sie zum Zuge kommt, ist es längst um sie geschehen. Von "Mann" und "Frau" als solchen ist viel die Rede: "Die Farbe und die Form seiner langen, dürren Arme und seiner nervigen Fesseln, wo das Spiel der Sehnen unter der Haut sichtbar war, ließ trotz Hemd und Hose seinen ganzen langen Körper ahnen." Der Jeanswerbung sind solche Sätze zweifellos um Jahrzehnte voraus. Es war ein "trefflicher Körper", und dass der Mann sogar "intelligent war, merkte man, wenn er sich die Mühe machte zu sprechen". Ein Glück, dass die Duras ihre müden Figuren so selten zu Worte kommen lässt. Sein weibliches Gegenstück zeigt bisweilen ein kindisches Vergnügen im "Ausdruck unbarmherzigen Spotts", der darin besteht, "einen Mann durch die Unfassbarkeit ihres Geheimnisses zu verwirren". Das ist wunderbar gesagt und poetologisch dazu, denn es entlastet die Leserschaft künftig davon, die Sekundärliteratur nach dem Geheimnis durasischen Schreibens zu befragen. "Sie hatte wirklich Augen von unbeschreiblichem Grau, ihre ins Violette spielende Blässe hob es noch hervor; diese kostbare, mehr als lebendige, zart aktive Haut, die nur die dezentesten Farbtöne ihres Blutes, die blauen, die violetten, durchschimmern ließ... ". Das ist wahrer Schmock, stark wie Evidur und kühn wie Seifenreklame.
Der Roman selbst ist der Stall, vor dem es draußen leise trappelt, aus dem es drinnen laut pocht und eine bebende Stimme raunt: Husch, husch, ins Körbchen! "Sofort war da kein Luftpartikel, der nicht erzitterte, kein Grashalm, kein Blatt, auf die sich dieses Beben nicht übertrug." Die Stalltür kracht zu. Ton ab!
Marguerite Duras: "Die Schamlosen". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999. 210 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marguerite Duras macht Szenen / Von Volker Breidecker
In Uderan, unter den Linden", da trappeln die Pferde und stöhnen die Silben. Uderan, das reimt sich auf Taneran, den Namen derer, die in Uderan ein verwaistes Gut besitzen. Da gibt es "Tannenwald" und "Eichenwald", "Lindenallee" und "Zypressenallee". Wer jetzt noch "eine Tasse Lindenblütentee" verlangt, der bekommt sie du côté de, pardon, auf Seite 33 von Marguerite Duras' Roman "Die Schamlosen" prompt serviert und darf sie "laut schlürfend" austrinken. So widerfährt es Monsieur Taneran, der im siebten Stock einer Pariser Vorstadtwohnung im Kreise der Seinen sitzt, die allesamt Plagen sind. Das Schlürfgeräusch nährt die Familienbande, denn es "rief bei allen Erinnerungen wach", an Uderan, den legendären Ort, an dem man einst "hart gelebt und gelitten" hatte. "Selig sind, die da Land besitzen!" lässt Madame Taneran verlauten. Das verspricht Sommerfrische.
Uderan ist der Schauplatz des bei seinem erstmaligen Erscheinen im Jahre 1943 unbeachtet gebliebenen Debütromans "Les Impudents" der Duras. Kein Verleger wollte das Buch veröffentlichen, obgleich die Autorin - damals hauptberuflich für die Pariser Verteilungsbehörde kriegsrationierten Druckpapiers tätig - alle Hebel in Bewegung setzte. Als die Edition Plon schließlich einwilligte, interessierte sich nur noch die Zensur der deutschen Besatzer für das Manuskript. Mit deren Leiter Gerhard Heller stand die Duras allerdings auf so gutem Fuße, dass man die überarbeitete Fassung durchgehen ließ. Für den Fall einer Zurückweisung hatte die Autorin damit gedroht, sich zu ertränken. Noch zu Lebzeiten, wenn auch zögernd, stimmte Marguerite Duras der Wiederveröffentlichung zu. Lange gezögert hat offenbar auch ihr hiesiger Verleger. Postum wurde das Buch von Andrea Spingler jetzt treu ins Deutsche übersetzt.
"Hoch wie ein Kirchenschiff" umrahmen die "majestätischen Wipfel des Tannenwalds" das Gut der Tanerans. In Uderan, in der Dordogne gelegen, haben sich alle Elemente miteinander verschwistert. Hier hat die Duras ein zweites Combray geschaffen, wo die Erinnerung an "gewisse Dinge" für die Romanheldin Maud allerdings mit "Grauen" und "Ekel" verbunden ist. So flüstert es uns eine allwissende Erzählerstimme zu, um die Gründe fortan im Dunkeln zu belassen. Es ist im Kern der berühmte "Duras-Effekt", dessen Anfänge hier zu besichtigen sind: Unter dem "Wogen" der "Begierden" und dem "Wehen" der "Winde" in den "Wipfeln" der Bäume, die je nach Spezies und Wetterlage abwechselnd "weinen" und "stöhnen", nimmt die hochgestimmte Ton- und tränenreiche Nässespur, die diesen literarischen Kosmos durchweht und durchtränkt, von Uderan ihren Ausgang. Im langen Schatten, mehr aber noch in den Nesseln junger Mädchenblüte sitzend, malt die Duras fleißig Kalenderblätter vom Anfang der Maienzeit bis Ende Juno in ihr Stundenbuch. Es muss ein meteorologisch sehr wechselhafter Frühsommer gewesen sein. Der Entschluss der Tanerans, nach Uderan aufzubrechen, reift bei kühler Morgenluft, auf dem Rückweg von der Beerdigung der unter seltsam unaufgeklärten Umständen zu Tode gekommenen Schwiegertochter.
Alfred Hitchcock hat dergleichen mit bösem Doppelsinn einen "family plot" genannt. War da eben noch der Sarg, so ließ jetzt "der Saft die Knospen platzen, und die Luftschwaden rochen schon nach warmem Makadem und Staub." Auf nach Uderan! "Das wird dich wiederherstellen, mein Schatz", sagt die Mutter zu ihrem soeben verwitweten Sohn Jacques, der endlich wieder in ihren Alleinbesitz übergegangen ist. Und das war der Anfang, und so geht es unter ständigen Barometermessungen über 144 Seiten weiter bis zur Heuernte. "Allein am Himmel, zogen Raben ihre unsteten Bahnen. In ziemlicher Höhe zerrissen sie die Stille mit ihrem krächzenden Geschrei, verkündeten unbestimmt, Zeiten des Zorns seien nah, von wem und gegen wen, wüsste man nicht." Das ist sie wieder, die auratische Nullschärfe, die feierliche Unbestimmtheit. Der Leser mag sich ja nicht einbilden, aus den von Flora und Fauna leidenschaftlich umrankten Schilderungen menschlicher Begebenheiten Genaueres zu erfahren. Was ist los bei den Tanerans? Bei den Tanerans ist nichts los. Da ist Jacques, der Despot der Familie, dem Madame Taneran alle Eskapaden und Boshaftigkeiten zubilligt, solange nur dafür gesorgt ist, dass ihre Mutterschaft durch künstliche Verlängerungen endlos währt. Der jüngere Halbbruder, vom Vater, der ohnehin nichts zu melden hat, in die zweite Ehe der verwitweten Mutter mitgebracht, tritt bereits in des Älteren Fußstapfen. Schwester Maud ist durch Hassliebe ihrerseits an Jacques gekettet: "Alles Böse, was er getan hatte, hatte sie genauso empfunden, als hätte sie es selbst getan." Niemand frage, was er getan hatte. Er war weniger als ein Tunichtgut. Für gewöhnlich tat er nämlich gar nichts und langweilte sich zu Tode, wie die übrige Sippe auch.
"In Uderan herrschte zähe, bedrückende Langeweile." Sowohl das angestrengte Nichtstun als auch das beschwerliche Geschäft des Familienkreises, die unsichtbaren Fäden, die den einen an den anderen fesseln, nach Bedarf anzuziehen, sie mit Balsam zu bestreichen und mit überraschenden Gegenzügen zu beantworten, verlangen den Tanerans enorme Kräfte ab. Ihre leidenschaftliche Anhänglichkeit äußert sich darin, dass sie tagaus, tagein einander Szenen machen. Was sie in Liebe und Hass sowie in den porösen Übergangszonen beider Zustände am meisten eint, ist der Wille zum Drama. In diesem System kommunizierender Gefäße, deren jedes einen ganzen Kosmos ausfüllen möchte, werden alle Affekte allein um die Einwirkung auf den anderen Willen ausgespielt: Damit es nicht hieße, er leide weniger, legte sich Jacques "eine Erregung zu, die Schmerz vortäuschen sollte". Szenen machen müde, und so sind die zügellos untätigen Tanerans von ständiger Erschöpfung gezeichnet. Dabei sind sie nicht nur schwer wie Blei, sondern auch kalt wie Hundeschnauze.
Maud, die wie Jacques dem trauten Kreis ebenso häufig entflieht, wie sie stets artig und schuldbewusst zurückkehrt, lauscht der Natur und wartet mit pochendem Herzen auf Erlösung. Eines Nachts hörte sie ein Trappeln auf der Lindenallee vor ihrer Kammer: ",Das ist ein Pferd...', sagte sie sich." Vom "Getrappel", das sich von nun an täglich wiederholt, ist Maud "wie gefesselt". Auf dem Pferd sitzt natürlich ein Reiter, der sich alsbald, "in Gebärden von animalischer Geschmeidigkeit", als echter Mann zu erkennen gibt: "Der Mann kam von überall, von allen Punkten des Horizonts, von allen nachterfüllten Wegen, und sie wusste nicht, woher sie ihn tatsächlich zu erhoffen hatte."
Die "Begierde", wie es noch vorstrukturalistisch heißt, äußert sich durchweg negativ, als abwesende, verschämte, verdrängte oder bereits abgestorbene. Bevor sie zum Zuge kommt, ist es längst um sie geschehen. Von "Mann" und "Frau" als solchen ist viel die Rede: "Die Farbe und die Form seiner langen, dürren Arme und seiner nervigen Fesseln, wo das Spiel der Sehnen unter der Haut sichtbar war, ließ trotz Hemd und Hose seinen ganzen langen Körper ahnen." Der Jeanswerbung sind solche Sätze zweifellos um Jahrzehnte voraus. Es war ein "trefflicher Körper", und dass der Mann sogar "intelligent war, merkte man, wenn er sich die Mühe machte zu sprechen". Ein Glück, dass die Duras ihre müden Figuren so selten zu Worte kommen lässt. Sein weibliches Gegenstück zeigt bisweilen ein kindisches Vergnügen im "Ausdruck unbarmherzigen Spotts", der darin besteht, "einen Mann durch die Unfassbarkeit ihres Geheimnisses zu verwirren". Das ist wunderbar gesagt und poetologisch dazu, denn es entlastet die Leserschaft künftig davon, die Sekundärliteratur nach dem Geheimnis durasischen Schreibens zu befragen. "Sie hatte wirklich Augen von unbeschreiblichem Grau, ihre ins Violette spielende Blässe hob es noch hervor; diese kostbare, mehr als lebendige, zart aktive Haut, die nur die dezentesten Farbtöne ihres Blutes, die blauen, die violetten, durchschimmern ließ... ". Das ist wahrer Schmock, stark wie Evidur und kühn wie Seifenreklame.
Der Roman selbst ist der Stall, vor dem es draußen leise trappelt, aus dem es drinnen laut pocht und eine bebende Stimme raunt: Husch, husch, ins Körbchen! "Sofort war da kein Luftpartikel, der nicht erzitterte, kein Grashalm, kein Blatt, auf die sich dieses Beben nicht übertrug." Die Stalltür kracht zu. Ton ab!
Marguerite Duras: "Die Schamlosen". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999. 210 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit Sarkasmus und größter Desillusionierung habe Duras das Beziehungsgeflecht der "Schamlosen" entwickelt, schreibt Martin Krumbholz. Selbst die Liebe zwischen Maud und Durieux bewege sich auf dem Niveau von "Soll und Haben", romantische Leidenschaft suche man hier vergebens. Die Skrupellosigkeit der Familie wie auch Mauds Impulsivität und Gefühlsschwankungen spiegelt sich nach Ansicht des Rezensenten in Duras` Erzählweise wider. "Ein unerhört schroffes, widerständiges, ein erstaunliches Début" lautet sein Fazit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH