Die enragierte Streitschrift des bekannten Globalisierungskritikers!
Jean Ziegler hat als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats im Mai 2019 das EU-Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht. Anhand vieler, oft erschütternder Einzelfälle schildert er eingehend seine Begegnungen mit Flüchtlingen, die von ihrem Leidensweg berichten, mit den mutigen, engagierten Vertretern verschiedener Hilfsorganisationen (medico international, Pro Asyl u. a.) und Menschenrechtsaktivisten, mit Anwälten und Offiziellen.
Sein, um ein aktuelles Vorwort, erweitertes Buch legt Zeugnis ab vom moralischen Verfall, auf den Europa zusteuert, und ist ein eindringlicher Appell an die zuständigen Politiker in Brüssel und an die Zivilgesellschaft, der Praxis des »Push-Backs« und der unmenschlichen Realität der Hotspots ein Ende zu machen - denn sie sind die Schande Europas.
Jean Ziegler hat als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats im Mai 2019 das EU-Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht. Anhand vieler, oft erschütternder Einzelfälle schildert er eingehend seine Begegnungen mit Flüchtlingen, die von ihrem Leidensweg berichten, mit den mutigen, engagierten Vertretern verschiedener Hilfsorganisationen (medico international, Pro Asyl u. a.) und Menschenrechtsaktivisten, mit Anwälten und Offiziellen.
Sein, um ein aktuelles Vorwort, erweitertes Buch legt Zeugnis ab vom moralischen Verfall, auf den Europa zusteuert, und ist ein eindringlicher Appell an die zuständigen Politiker in Brüssel und an die Zivilgesellschaft, der Praxis des »Push-Backs« und der unmenschlichen Realität der Hotspots ein Ende zu machen - denn sie sind die Schande Europas.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2020Wo Europa
ohne Kompass ist
Jean Ziegler war im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos
Jean Ziegler hat sich auf die Reise gemacht – an die Außengrenze Europas und damit auch an den Rand unserer Wertegemeinschaft: Er ist nach Griechenland geflogen, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen vom Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Was er dort vorgefunden und in seinem neuen Buch beschrieben hat, ist nicht ganz neu – diverse UN- und Nichtregierungsorganisationen weisen schon länger auf die Missstände dort hin –, aber in dieser eindringlichen Zusammenstellung bestürzend.
Die Zustände dort sind unmenschlich und untragbar. Das Lager Moria, in einer ehemaligen Kaserne angelegt, ist heillos überfüllt. Ursprünglich für 3000 Soldaten konzipiert, hausen dort nach UNHCR-Angaben mittlerweile deutlich mehr als 10 000 Flüchtlinge, viele davon (unbegleitete) Kinder. Weil der Platz längst nicht mehr ausreicht, weichen die Schutzsuchenden in die angrenzenden Olivenhaine aus. Sie leben völlig beengt zum Teil unter Plastikplanen, schlafen auf Pappkartons, erhalten zu wenig oder schlechtes Essen und müssen mit Sanitäranlagen auskommen, deren Gestank Ziegler „schockiert“.
Erschreckend sind aber nicht nur die unhaltbaren äußeren Bedingungen, sondern auch die Zeit, die deren Insassen dort verbringen müssen. Eigentlich sollen die Flüchtlinge dort nur übergangsweise unterkommen, bis klar ist, ob sie einen Asylantrag stellen und weiterziehen können. „Ein frommer Wunsch!“ Viele müssten mehrere Jahre ausharren, bis sie endlich Klarheit über ihr weiteres Schicksal hätten – eine enervierende Zeit des Wartens und der Perspektivlosigkeit, die sich für die Betroffenen schier endlos hinzieht. „Wohin ich auch blicke, mit wem ich auch spreche in Moria, ich stoße auf Tragödien. Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge (…) ist gezeichnet von den Schrecken, die sie in ihren Herkunftsländern erlebt haben, oder durch die Leiden und Demütigungen, die sie während ihrer langen und schmerzlichen Odyssee erdulden mussten.“
Das jetzige System an der Südgrenze Europas geht auf die Zeit nach 2015 zurück, als Flüchtlinge zu Hunderttausenden nach Europa strömten, überwiegend aus den Krisengebieten des Nahen Ostens. Statt eine gemeinsame und EU-weite Regelung über den Umgang mit Asylsuchenden zu verabschieden und sie gerecht auf alle Länder zu verteilen, hat man das Problem mangels Übereinstimmung an die Außengrenze der Union verlagert und unter anderem sogenannte Hotspots zur Erstregistrierung eingerichtet. Auch Moria ist ein solcher Hotspot. Das Ganze wurde 2016 kombiniert mit einem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU mit der Türkei.
Alles in allem ist hier ein komplexes Flüchtlingsregime entstanden, wie Ziegler sinngemäß schreibt, bei dem sich Bürokratie, Korruption, Unvermögen, Überforderung und unklare Zuständigkeiten mit dem Willen zur Abschreckung weiterer Flüchtlinge ungut mischen. „Diese Strategie ist zutiefst unmoralisch“, lautet seine zusammenfassende und begründete Anklage an die EU, zu der auch ein ganzes Kapitel über die Opfer auf dem Mittelmeer gehört. Zuzustimmen ist auch seinem Lamento über die „flüchtlingsfeindlichen Staaten“ Osteuropas. Recht hat er zudem mit dem Vorwurf, die derzeitige Asyl-Praxis widerspreche den Grundüberzeugungen einer Europäischen Union, die sich Demokratie und Menschenrechte auf ihre blaue Fahne geschrieben habe.
Insofern hat Ziegler ein wichtiges Buch verfasst in einer Zeit, in der sich die EU mit einer frischen Kommission gerade wieder neu sortiert. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits angekündigt, dass sie bei den Asylverfahren mehr „Fairness und Lastenverteilung“ erreichen möchte, jedoch noch nicht erkennen lassen, wie das geschehen soll. Sie wird voraussichtlich im März einen Vorschlag dazu unterbreiten. Dieses Buch könnte ihr dafür entsprechende Hinweise geben.
Allerdings bewegt sich Zieglers Buch fast ausschließlich auf einer absoluten Anspruchs- und Rechteebene. Die politischen Realitäten scheinen ihn nicht besonders zu kümmern. Er denkt vom Ideal her und ist entsprechend kompromisslos in seiner Argumentation. Das unterstreicht auch seine in Teilen überzogene Rhetorik. So bedient er sich immer wieder platter Klischees, die mit der eigentlichen Sache nichts zu tun haben. UN-Generalsekretär António Guterres wird dann zu einem „echten Portugiesen, von überwältigender Vitalität und unerschöpflicher Energie“, der „Widerspruch nur schwer ertragen“ kann. Dirk Niebel, mittlerweile bei Rheinmetall, führt er als eine der „eigenartigsten Figuren unter den Waffenhändlern, die sich im Dunstkreis der Europäischen Kommission bewegen“ ein, ohne dass diese Rolle näher beschrieben oder belegt würde. Und generell kommt er bei den EU-Verantwortlichen selten ohne despektierliche Zusätze wie die „Funktionäre in Brüssel“, „die (finsteren) Bürokraten in Brüssel“, die „Brüsseler Betonköpfe“ oder sogar die „Übeltäter in Brüssel“ aus.
Dadurch erhält das Buch einen unangenehm reißerischen Ton an falscher Stelle und trägt zudem zu einer Spracheskalation bei, wie sie leider immer mehr um sich greift. Dabei hätten Fakten und Eindrücke von der Griechenlandreise und der Abgleich mit den einschlägigen Menschenrechtsdokumenten genügt, um die zentrale Botschaft in die Welt zu transportieren: Der Umgang Europas mit Flüchtlingen und Asylsuchenden steht im krassen Widerspruch zu den eigenen Maßstäben und bedarf dringend einer umfassenden Neuregelung. Mehr hätte es nicht gebraucht.
FRIEDERIKE BAUER
Jean Ziegler: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. Verlag C. Bertelsmann, München 2020. Aus dem Französischen von Hainer Kober. 144 Seiten, 15 Euro. E-Book: 12,99 Euro.
Der Schweizer ist wie
immer kompromisslos in
seiner Haltung und Rhetorik
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ohne Kompass ist
Jean Ziegler war im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos
Jean Ziegler hat sich auf die Reise gemacht – an die Außengrenze Europas und damit auch an den Rand unserer Wertegemeinschaft: Er ist nach Griechenland geflogen, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen vom Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Was er dort vorgefunden und in seinem neuen Buch beschrieben hat, ist nicht ganz neu – diverse UN- und Nichtregierungsorganisationen weisen schon länger auf die Missstände dort hin –, aber in dieser eindringlichen Zusammenstellung bestürzend.
Die Zustände dort sind unmenschlich und untragbar. Das Lager Moria, in einer ehemaligen Kaserne angelegt, ist heillos überfüllt. Ursprünglich für 3000 Soldaten konzipiert, hausen dort nach UNHCR-Angaben mittlerweile deutlich mehr als 10 000 Flüchtlinge, viele davon (unbegleitete) Kinder. Weil der Platz längst nicht mehr ausreicht, weichen die Schutzsuchenden in die angrenzenden Olivenhaine aus. Sie leben völlig beengt zum Teil unter Plastikplanen, schlafen auf Pappkartons, erhalten zu wenig oder schlechtes Essen und müssen mit Sanitäranlagen auskommen, deren Gestank Ziegler „schockiert“.
Erschreckend sind aber nicht nur die unhaltbaren äußeren Bedingungen, sondern auch die Zeit, die deren Insassen dort verbringen müssen. Eigentlich sollen die Flüchtlinge dort nur übergangsweise unterkommen, bis klar ist, ob sie einen Asylantrag stellen und weiterziehen können. „Ein frommer Wunsch!“ Viele müssten mehrere Jahre ausharren, bis sie endlich Klarheit über ihr weiteres Schicksal hätten – eine enervierende Zeit des Wartens und der Perspektivlosigkeit, die sich für die Betroffenen schier endlos hinzieht. „Wohin ich auch blicke, mit wem ich auch spreche in Moria, ich stoße auf Tragödien. Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge (…) ist gezeichnet von den Schrecken, die sie in ihren Herkunftsländern erlebt haben, oder durch die Leiden und Demütigungen, die sie während ihrer langen und schmerzlichen Odyssee erdulden mussten.“
Das jetzige System an der Südgrenze Europas geht auf die Zeit nach 2015 zurück, als Flüchtlinge zu Hunderttausenden nach Europa strömten, überwiegend aus den Krisengebieten des Nahen Ostens. Statt eine gemeinsame und EU-weite Regelung über den Umgang mit Asylsuchenden zu verabschieden und sie gerecht auf alle Länder zu verteilen, hat man das Problem mangels Übereinstimmung an die Außengrenze der Union verlagert und unter anderem sogenannte Hotspots zur Erstregistrierung eingerichtet. Auch Moria ist ein solcher Hotspot. Das Ganze wurde 2016 kombiniert mit einem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU mit der Türkei.
Alles in allem ist hier ein komplexes Flüchtlingsregime entstanden, wie Ziegler sinngemäß schreibt, bei dem sich Bürokratie, Korruption, Unvermögen, Überforderung und unklare Zuständigkeiten mit dem Willen zur Abschreckung weiterer Flüchtlinge ungut mischen. „Diese Strategie ist zutiefst unmoralisch“, lautet seine zusammenfassende und begründete Anklage an die EU, zu der auch ein ganzes Kapitel über die Opfer auf dem Mittelmeer gehört. Zuzustimmen ist auch seinem Lamento über die „flüchtlingsfeindlichen Staaten“ Osteuropas. Recht hat er zudem mit dem Vorwurf, die derzeitige Asyl-Praxis widerspreche den Grundüberzeugungen einer Europäischen Union, die sich Demokratie und Menschenrechte auf ihre blaue Fahne geschrieben habe.
Insofern hat Ziegler ein wichtiges Buch verfasst in einer Zeit, in der sich die EU mit einer frischen Kommission gerade wieder neu sortiert. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits angekündigt, dass sie bei den Asylverfahren mehr „Fairness und Lastenverteilung“ erreichen möchte, jedoch noch nicht erkennen lassen, wie das geschehen soll. Sie wird voraussichtlich im März einen Vorschlag dazu unterbreiten. Dieses Buch könnte ihr dafür entsprechende Hinweise geben.
Allerdings bewegt sich Zieglers Buch fast ausschließlich auf einer absoluten Anspruchs- und Rechteebene. Die politischen Realitäten scheinen ihn nicht besonders zu kümmern. Er denkt vom Ideal her und ist entsprechend kompromisslos in seiner Argumentation. Das unterstreicht auch seine in Teilen überzogene Rhetorik. So bedient er sich immer wieder platter Klischees, die mit der eigentlichen Sache nichts zu tun haben. UN-Generalsekretär António Guterres wird dann zu einem „echten Portugiesen, von überwältigender Vitalität und unerschöpflicher Energie“, der „Widerspruch nur schwer ertragen“ kann. Dirk Niebel, mittlerweile bei Rheinmetall, führt er als eine der „eigenartigsten Figuren unter den Waffenhändlern, die sich im Dunstkreis der Europäischen Kommission bewegen“ ein, ohne dass diese Rolle näher beschrieben oder belegt würde. Und generell kommt er bei den EU-Verantwortlichen selten ohne despektierliche Zusätze wie die „Funktionäre in Brüssel“, „die (finsteren) Bürokraten in Brüssel“, die „Brüsseler Betonköpfe“ oder sogar die „Übeltäter in Brüssel“ aus.
Dadurch erhält das Buch einen unangenehm reißerischen Ton an falscher Stelle und trägt zudem zu einer Spracheskalation bei, wie sie leider immer mehr um sich greift. Dabei hätten Fakten und Eindrücke von der Griechenlandreise und der Abgleich mit den einschlägigen Menschenrechtsdokumenten genügt, um die zentrale Botschaft in die Welt zu transportieren: Der Umgang Europas mit Flüchtlingen und Asylsuchenden steht im krassen Widerspruch zu den eigenen Maßstäben und bedarf dringend einer umfassenden Neuregelung. Mehr hätte es nicht gebraucht.
FRIEDERIKE BAUER
Jean Ziegler: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. Verlag C. Bertelsmann, München 2020. Aus dem Französischen von Hainer Kober. 144 Seiten, 15 Euro. E-Book: 12,99 Euro.
Der Schweizer ist wie
immer kompromisslos in
seiner Haltung und Rhetorik
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2020So einfach lässt sich Europas Migrationspolitik anprangern
Wie man ein wichtiges Thema verschenkt, indem man statt Fakten unbelegte Geschichten auftischt: Der Schweizer Jean Ziegler fabuliert über die Flüchtlingskrise
Jean Ziegler hat nichts begriffen und ein Buch darüber geschrieben. Die Grundlage für "Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten" bildet ein Ausflug, den der Schweizer im Mai 2019 unternommen hat. Ziegler reiste da für einige Tage nach Lesbos, an einen der Schreckensorte der Migrationskrise, wo in und um das dortige Lager Moria mehrere zehntausend Menschen unter elenden Bedingungen hausen. Der Autor will auf ihre Lage aufmerksam machen und fordert eine Wende in der europäischen Migrationspolitik. Leider ist sein Buch haarsträubend oberflächlich, voller Fehler und Unterstellungen.
Da ist zum einen die Sprache. Mit seiner Charakterisierung der Europäischen Union bekäme Ziegler auf jedem AfD-Parteitag viel Beifall: Von "Brüsseler Betonköpfen" ist da die Rede, von "tauben und blinden Beamten" oder den "finsteren Bürokraten der EU". Wer mit der EU kooperiert, ist natürlich deren "Handlanger", Asylinterviews sind grundsätzlich "Verhöre". Die Insinuation, Moria sei das Warschauer Getto unserer Tage, ist so töricht, dass es nicht lohnt, sich darüber aufzuregen.
Beschreibt Ziegler dagegen seine Gewährsleute, wird es nach einem Griff in die Phrasentruhe schlechter Reportagen sofort heimelig warm: Da tritt dann eine junge Frau "mit strahlenden Augen und unerschütterlichen Überzeugungen" auf (oder war es umgekehrt?), deren Analyse der üblen Folgen europäischer Flüchtlingspolitik keineswegs falsch ist. Denn fraglos klafft in der EU beim Umgang mit Flüchtlingen und Migranten ein Abgrund zwischen menschenrechtlicher Rhetorik und angewandter Politik. Doch statt das Offenkundige und Nachweisbare herauszuarbeiten, was doch schlimm genug ist, fabuliert Ziegler auf Lesbos davon, die EU finanziere an der türkischen Grenze zu Syrien den Aufbau von "mit Maschinengewehren bestückten Selbstschussanlagen" - ein Geschäft, bei dem laut Autor der einstige FDP-Generalsekretär und Entwicklungsminister Dirk Niebel, inzwischen Berater bei Rheinmetall, eine zentrale Rolle spielt. Belege fehlen entweder ganz oder enden in Fußnoten, die auf Texte verweisen, in denen es ebenfalls keine Belege gibt.
Zwar haben türkische Medien wie "Yeni Safak", ein Revolverblatt des Erdogan-Regimes, tatsächlich über entsprechende Pläne berichtet. Das wurde auch von ausländischen Medien aufgegriffen. Aber seriöse Darstellungen? Nachfrage bei einer Mitarbeiterin von "Human Rights Watch": Gibt es Indizien dafür, dass die EU den Außengrenzen der Türkei die Installation von Selbstschussanlagen finanziert? Antwort: Man habe entsprechende Berichte sehr ernst genommen, aber keine Anhaltspunkte dafür gefunden. Deshalb hat die Menschenrechtsorganisation auch keinen eigenen Bericht dazu veröffentlicht.
Auch über die Lage auf Lesbos, die schon ohne jede Übertreibung übel genug ist, schreibt Ziegler Hanebüchenes: "Jeden Morgen inspizieren bewaffnete griechische Polizisten die Küsten. Sie nehmen die Flüchtlinge fest, die sich mehr schlecht als recht zwischen den Felsen verstecken. Sie legen ihnen, gelegentlich auch den Kindern, Handschellen an." Was für ein Unsinn. Jeder, der nicht nur für kurze Abenteuerferien auf den griechischen Ägäisinseln war, wird bestätigen, dass man der griechischen Polizei zwar einiges vorwerfen kann, nicht aber, dass sie so dumm wäre, Menschen, die sowieso schon auf der Insel sind, Handschellen anzulegen, auch wenn das in irgendeinem Einzelfall vorgekommen sein mag.
Es gibt unzählige Reportagen, in denen das Schicksal von Migranten oder Flüchtlingen mit genauerem Blick geschildert wird als in dieser Anthologie von Klischees. Noch absurder ist diese Stelle: "An Land werden die Mitglieder einer Familie nicht selten durch das Eingreifen der Polizei getrennt. So ist ein Kind plötzlich allein. Es ist von seinen Eltern fortgerissen worden. Sie werden sich wahrscheinlich nie wiedersehen." Der Athener Menschenrechtsanwalt Panagiotis Nikas, der eine Hilfsorganisation zur Betreuung unbegleiteter Minderjähriger leitet, kann darüber nur den Kopf schütteln. Nicht nur sei ihm kein solcher Fall bekannt, es widerspreche auch jeder Logik und nicht zuletzt dem Eigeninteresse der Behörden. Der Betreuungsaufwand für unbegleitete Minderjährige sei schließlich ungleich höher und teurer - warum also sollte die griechische Polizei "nicht selten", also oft, Eltern ihre Kinder entreißen? Belege für solche Fälle gibt es bei Ziegler natürlich wiederum nicht - weil sich nicht belegen lässt, was nicht geschieht.
So geht es Seite um Seite. Dass einige Migranten die Strecke von der türkischen Küste bis Lesbos schwimmend zurücklegen, ist fast genauso unglaubwürdig wie die Geschichte eines Babys, das, wie Ziegler zu wissen behauptet, vermutlich an Unterkühlung gestorben sei, da die europäische Grenzschutzagentur Frontex Ärzten den Zugang zu dem Boot verwehrte, auf dem es sich befand. Dazu heißt es bei Ziegler: "Mit dem Vorwurf konfrontiert, antwortete die Frontex-Kommandantur: ,Wir haben nicht die Aufgabe, Schiffbrüchige zu retten, sondern für die Sicherheit der Grenze zu sorgen.'" Wahrlich, ein starkes Stück! Doch wer genau hat den Tod eines Kindes dermaßen zynisch kommentiert? Auf schriftliche Nachfrage gibt der Autor zu, die Aussage nicht selbst gehört zu haben, obwohl er es in seinem Buch so wirken lässt, als sei er Zeuge gewesen. Vielmehr zitiert er nun eine Menschenrechtlerin als Zeugin. Eine Nachfrage bei der ergab jedoch, es müsse sich um ein "Missverständnis" handeln, denn weder habe sie selbst mit Frontex darüber gesprochen, noch wisse sie von Dritten von der Aussage.
Das ist das Strickmuster dieses Buches. Nichts Genaues weiß man nicht, aber man kann ja mal alles Mögliche behaupten. An entscheidenden Stellen fehlen entweder die Verweise oder ein quellenkritischer Umgang damit. Zwar folgt einem Rousseau-Zitat aus dem Jahr 1755 brav eine Fußnote dazu, aus welchem Buch und von welcher Seite es übernommen wurde, aber geht es dann um die Gegenwart, hat sich selbst Entscheidendes offenbar nur "Berichten zufolge" ereignet. Berichten zufolge hat bekanntlich auch Bill Gates das Coronavirus erfunden. Details interessieren Ziegler kaum und Fakten nur, wenn sie in seine Ideologie passen. Bedauerlich, dass ein wichtiges Thema derart frivol verschenkt wird.
Die Wirkung des Buches ist absehbar: Beifall in der eigenen weltanschaulichen Nische, Wirkungslosigkeit in der Politik. Auf einer Jubiläumsfeier von Pro Asyl kämen seine Thesen gewiss bestens an. Aber eine ernsthafte Analyse dazu, welche Argumente gewählte Politiker dazu bringen könnten, die Politik an Europas Außengrenzen tatsächlich zu ändern, und wie diese Argumente mehrheitsfähig gemacht werden könnten, findet in ihm nicht statt. Zieglers Empörung genügt sich selbst. Dieses Buch lässt sich in wenigen Stunden lesen, aber selbst das ist vergeudete Zeit.
MICHAEL MARTENS
Jean Ziegler: "Die Schande Europas". Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Aus dem Französischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann Verlag, München 2020. 144 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man ein wichtiges Thema verschenkt, indem man statt Fakten unbelegte Geschichten auftischt: Der Schweizer Jean Ziegler fabuliert über die Flüchtlingskrise
Jean Ziegler hat nichts begriffen und ein Buch darüber geschrieben. Die Grundlage für "Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten" bildet ein Ausflug, den der Schweizer im Mai 2019 unternommen hat. Ziegler reiste da für einige Tage nach Lesbos, an einen der Schreckensorte der Migrationskrise, wo in und um das dortige Lager Moria mehrere zehntausend Menschen unter elenden Bedingungen hausen. Der Autor will auf ihre Lage aufmerksam machen und fordert eine Wende in der europäischen Migrationspolitik. Leider ist sein Buch haarsträubend oberflächlich, voller Fehler und Unterstellungen.
Da ist zum einen die Sprache. Mit seiner Charakterisierung der Europäischen Union bekäme Ziegler auf jedem AfD-Parteitag viel Beifall: Von "Brüsseler Betonköpfen" ist da die Rede, von "tauben und blinden Beamten" oder den "finsteren Bürokraten der EU". Wer mit der EU kooperiert, ist natürlich deren "Handlanger", Asylinterviews sind grundsätzlich "Verhöre". Die Insinuation, Moria sei das Warschauer Getto unserer Tage, ist so töricht, dass es nicht lohnt, sich darüber aufzuregen.
Beschreibt Ziegler dagegen seine Gewährsleute, wird es nach einem Griff in die Phrasentruhe schlechter Reportagen sofort heimelig warm: Da tritt dann eine junge Frau "mit strahlenden Augen und unerschütterlichen Überzeugungen" auf (oder war es umgekehrt?), deren Analyse der üblen Folgen europäischer Flüchtlingspolitik keineswegs falsch ist. Denn fraglos klafft in der EU beim Umgang mit Flüchtlingen und Migranten ein Abgrund zwischen menschenrechtlicher Rhetorik und angewandter Politik. Doch statt das Offenkundige und Nachweisbare herauszuarbeiten, was doch schlimm genug ist, fabuliert Ziegler auf Lesbos davon, die EU finanziere an der türkischen Grenze zu Syrien den Aufbau von "mit Maschinengewehren bestückten Selbstschussanlagen" - ein Geschäft, bei dem laut Autor der einstige FDP-Generalsekretär und Entwicklungsminister Dirk Niebel, inzwischen Berater bei Rheinmetall, eine zentrale Rolle spielt. Belege fehlen entweder ganz oder enden in Fußnoten, die auf Texte verweisen, in denen es ebenfalls keine Belege gibt.
Zwar haben türkische Medien wie "Yeni Safak", ein Revolverblatt des Erdogan-Regimes, tatsächlich über entsprechende Pläne berichtet. Das wurde auch von ausländischen Medien aufgegriffen. Aber seriöse Darstellungen? Nachfrage bei einer Mitarbeiterin von "Human Rights Watch": Gibt es Indizien dafür, dass die EU den Außengrenzen der Türkei die Installation von Selbstschussanlagen finanziert? Antwort: Man habe entsprechende Berichte sehr ernst genommen, aber keine Anhaltspunkte dafür gefunden. Deshalb hat die Menschenrechtsorganisation auch keinen eigenen Bericht dazu veröffentlicht.
Auch über die Lage auf Lesbos, die schon ohne jede Übertreibung übel genug ist, schreibt Ziegler Hanebüchenes: "Jeden Morgen inspizieren bewaffnete griechische Polizisten die Küsten. Sie nehmen die Flüchtlinge fest, die sich mehr schlecht als recht zwischen den Felsen verstecken. Sie legen ihnen, gelegentlich auch den Kindern, Handschellen an." Was für ein Unsinn. Jeder, der nicht nur für kurze Abenteuerferien auf den griechischen Ägäisinseln war, wird bestätigen, dass man der griechischen Polizei zwar einiges vorwerfen kann, nicht aber, dass sie so dumm wäre, Menschen, die sowieso schon auf der Insel sind, Handschellen anzulegen, auch wenn das in irgendeinem Einzelfall vorgekommen sein mag.
Es gibt unzählige Reportagen, in denen das Schicksal von Migranten oder Flüchtlingen mit genauerem Blick geschildert wird als in dieser Anthologie von Klischees. Noch absurder ist diese Stelle: "An Land werden die Mitglieder einer Familie nicht selten durch das Eingreifen der Polizei getrennt. So ist ein Kind plötzlich allein. Es ist von seinen Eltern fortgerissen worden. Sie werden sich wahrscheinlich nie wiedersehen." Der Athener Menschenrechtsanwalt Panagiotis Nikas, der eine Hilfsorganisation zur Betreuung unbegleiteter Minderjähriger leitet, kann darüber nur den Kopf schütteln. Nicht nur sei ihm kein solcher Fall bekannt, es widerspreche auch jeder Logik und nicht zuletzt dem Eigeninteresse der Behörden. Der Betreuungsaufwand für unbegleitete Minderjährige sei schließlich ungleich höher und teurer - warum also sollte die griechische Polizei "nicht selten", also oft, Eltern ihre Kinder entreißen? Belege für solche Fälle gibt es bei Ziegler natürlich wiederum nicht - weil sich nicht belegen lässt, was nicht geschieht.
So geht es Seite um Seite. Dass einige Migranten die Strecke von der türkischen Küste bis Lesbos schwimmend zurücklegen, ist fast genauso unglaubwürdig wie die Geschichte eines Babys, das, wie Ziegler zu wissen behauptet, vermutlich an Unterkühlung gestorben sei, da die europäische Grenzschutzagentur Frontex Ärzten den Zugang zu dem Boot verwehrte, auf dem es sich befand. Dazu heißt es bei Ziegler: "Mit dem Vorwurf konfrontiert, antwortete die Frontex-Kommandantur: ,Wir haben nicht die Aufgabe, Schiffbrüchige zu retten, sondern für die Sicherheit der Grenze zu sorgen.'" Wahrlich, ein starkes Stück! Doch wer genau hat den Tod eines Kindes dermaßen zynisch kommentiert? Auf schriftliche Nachfrage gibt der Autor zu, die Aussage nicht selbst gehört zu haben, obwohl er es in seinem Buch so wirken lässt, als sei er Zeuge gewesen. Vielmehr zitiert er nun eine Menschenrechtlerin als Zeugin. Eine Nachfrage bei der ergab jedoch, es müsse sich um ein "Missverständnis" handeln, denn weder habe sie selbst mit Frontex darüber gesprochen, noch wisse sie von Dritten von der Aussage.
Das ist das Strickmuster dieses Buches. Nichts Genaues weiß man nicht, aber man kann ja mal alles Mögliche behaupten. An entscheidenden Stellen fehlen entweder die Verweise oder ein quellenkritischer Umgang damit. Zwar folgt einem Rousseau-Zitat aus dem Jahr 1755 brav eine Fußnote dazu, aus welchem Buch und von welcher Seite es übernommen wurde, aber geht es dann um die Gegenwart, hat sich selbst Entscheidendes offenbar nur "Berichten zufolge" ereignet. Berichten zufolge hat bekanntlich auch Bill Gates das Coronavirus erfunden. Details interessieren Ziegler kaum und Fakten nur, wenn sie in seine Ideologie passen. Bedauerlich, dass ein wichtiges Thema derart frivol verschenkt wird.
Die Wirkung des Buches ist absehbar: Beifall in der eigenen weltanschaulichen Nische, Wirkungslosigkeit in der Politik. Auf einer Jubiläumsfeier von Pro Asyl kämen seine Thesen gewiss bestens an. Aber eine ernsthafte Analyse dazu, welche Argumente gewählte Politiker dazu bringen könnten, die Politik an Europas Außengrenzen tatsächlich zu ändern, und wie diese Argumente mehrheitsfähig gemacht werden könnten, findet in ihm nicht statt. Zieglers Empörung genügt sich selbst. Dieses Buch lässt sich in wenigen Stunden lesen, aber selbst das ist vergeudete Zeit.
MICHAEL MARTENS
Jean Ziegler: "Die Schande Europas". Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Aus dem Französischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann Verlag, München 2020. 144 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Jean Ziegler hat ein wichtiges Buch verfasst in einer Zeit, in der sich die EU mit einer frischen Kommission gerade wieder neu sortiert.« Süddeutsche Zeitung