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Die meisten Vergewaltiger kannten ihre Opfer vorher, wodurch die Strafverfolgung und die gerichtliche Suche nach der Wahrheit oft komplex und undurchsichtig ist und die vergewaltigten Frauen ein zweites Mal traumatisiert werden. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Jon Krakauer mit Vergewaltigungsfällen in der amerikanischen Universitätsstadt Missoula. Minutiös und doch einfühlsam skizziert er die Ereignisse, die eine ganze Gesellschaft an der Frage nach Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge verzweifeln lassen, er spricht mit den Beschuldigten und den Opfern und schildert packend, wie…mehr

Produktbeschreibung
Die meisten Vergewaltiger kannten ihre Opfer vorher, wodurch die Strafverfolgung und die gerichtliche Suche nach der Wahrheit oft komplex und undurchsichtig ist und die vergewaltigten Frauen ein zweites Mal traumatisiert werden. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Jon Krakauer mit Vergewaltigungsfällen in der amerikanischen Universitätsstadt Missoula. Minutiös und doch einfühlsam skizziert er die Ereignisse, die eine ganze Gesellschaft an der Frage nach Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge verzweifeln lassen, er spricht mit den Beschuldigten und den Opfern und schildert packend, wie schmerzhaft die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne bei Gericht sein kann.
Autorenporträt
Krakauer, Jon
Jon Krakauer, geboren 1954, arbeitet als Wissenschaftsjournalist für amerikanische Zeitschriften. Er wurde durch den Millionenbestseller »In eisige Höhen«, in dem er den Überlebenskampf der Bergsteiger am Mount Everest schildert, weltberühmt. Für seine Reportagen wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen von ihm außerdem: »Auf den Gipfeln der Welt«, »Mord im Auftrag Gottes«, »In die Wildnis« (von Sean Penn verfilmt). Jon Krakauer lebt mit seiner Frau in Boulder, Colorado.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2017

Was in Lehrbüchern der Polizei nicht alles steht
Jon Krakauer und Mithu Sanyal untersuchen den gesellschaftlichen wie juristischen Umgang mit Vergewaltigungen

Vergewaltigung, Notzucht, Schändung: Die Worte sind so hässlich wie die Sache. Das ultimative Sexualdelikt hat hohe Dunkelziffern, seine Details lassen sich schlecht in Protokolle bringen, oft steht Aussage gegen Aussage, und in der Frage der Gegenwehr richtet sich der Blick auf das Opfer: Hat sie es nicht doch gewollt? Hatte er dies zumindest geglaubt? Hätte sie also vorsichtiger sein müssen?

Kein anderes Sexualverbrechen sei "so tief verstrickt in die Auseinandersetzung über Geschlechterpolitik und Sexualität" - diesen Satz stellt der Investigativjournalist Jon Krakauer seinen Recherchen über eine dreijährige Vergewaltigungsserie in einem amerikanischen Universitätsstädtchen in Montana voran. "Die Schande von Missoula" ist ein umfangreiches gut dokumentiertes Buch, unaufgeregt, beeindruckend durch quälend geduldig berichtete Details.

Aufgrund zahlreicher, teils brutaler Vergewaltigungen von Studentinnen wird Missoula vor einigen Jahren zum überregionalen Skandal. Denn die Presse deckt auf, dass zwischen 2010 und 2012 die Taten zwar angezeigt worden waren, doch die Behörden sie nicht verfolgten. Daraufhin ermittelt die Justiz, die Betroffenen geraten in einen unabsehbaren Verfahrensstrudel, der Ort polarisiert sich, auch den Opfern schlägt blanker Hass entgegen. Die Täter stehen früh fest, es sind Mitstudenten. Aufgrund erdrückender Beweislage und nach Geständnissen werden etliche verurteilt. Aber jahrelange Berufungsverfahren enden schließlich dann doch fast durchweg mit Freisprüchen. Unter anderem hatte sich eine Staatsanwältin zur Verteidigerin der Täter gemacht und die Glaubwürdigkeit der jungen Frauen, die getrunken und geflirtet hatten, in Kreuzverhören unterminiert. Inzwischen gelten die Verfahren als Justizskandal.

Krakauer rekonstruiert in jedem Einzelfall über Kapitel hinweg, was den Akten nach geschah: Redlich wurde versucht, Tathergänge gegen jeden Zweifel abgesichert zu dokumentieren, doch zugleich geht eine erdrückende Zahl amtlicher Akteure davon aus, dass hier Mädchen vermeintlich nette Jungs eines Vergehens bezichtigen, das deren Zukunft zu ruinieren droht. So beginnen Inquisitionen. Die Studentinnen müssen sich rechtfertigen, warum sie so unvorsichtig waren, auf Partys zu gehen und dort Alkohol zu trinken. Sie müssen angeben, ob sie in einer festen Beziehung leben, denn Polizeilehrbüchern zufolge neigen Mädchen dazu, Vergewaltigungsvorwürfe zu erfinden, um Partner eifersüchtig zu machen. Man attestiert ihnen Fahrlässigkeit, weil sie sich allein mit Mitstudenten im Wohnheimzimmer aufhielten. Ihre Verletzungen - Blut, Risse, Würgemale - werden kleingeredet.

Krakauers Bilanz zufolge fehlte es durchweg nicht an Beweisen. Die Opfer hatten sich beherzt gewehrt, die Taten dokumentiert und auch den Mut besessen, sich offizielle Hilfe zu holen. Ebenso sind Fehler von Behörden sowie Versuche, diese zu vertuschen, eindeutig belegt. Dass die Täter als gefeierte Footballspieler die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten mobilisieren konnten, trug zum Leerlaufen des Strafverfahrens bei. Dass es im amerikanischen Strafverfahrensrecht ums Gewinnen geht, nicht aber um die möglichst vollständige Klärung des Sachverhalts, macht es Vergewaltigungsopfern zusätzlich schwer. Was sie nicht selbst einbringen, zählt auch nicht für das Gericht. Die "Schande" Missoulas ist somit von erdrückender Normalität. Krakauer zufolge hätte die Geschichte überall spielen können.

"Sobald wir das V-Wort in den Mund nehmen, laufen die Uhren rückwärts und es ist für immer 1955", stellt auch die Kulturwissenschaftlerin und Sachbuchautorin Mithu Sanyal fest. Sanyal unternimmt in ihrem Buch eine kulturhistorische Analyse, die sie auf eine politische Brennweite einstellt: In dem inzwischen strafrechtlich neu gefassten Delikt, mit dem wir heute umgehen, schießen die unterschiedlichsten Aspekte zusammen. Wer Vergewaltigungen vor allem als traumatisierendes Ereignis deutet, verkennt, wie sehr sich gerade mit einer Dämonisierung seiner Wirkungen die tückische Macht des Verbrechens steigert. Auch geschockte Umgebungen lähmen die Opfer. Und Therapien, die Schwächebekundungen einfordern, schreiben Sorgen und Ängste fest. Selbst die berechtigte Forderung "Nein heißt nein!" konserviert noch das Schema vom aktiven Mann, demgegenüber die Frau zuletzt lediglich passiv reagiert.

Problematisch ist namentlich die Idee einer besonderen Verletzlichkeit der Frau - psychisch oder gar vermittels der Geschlechtsorgane selbst. Nicht weit sind da krude Annahmen wie diejenige, durch eine gewisse Gewaltsamkeit der Penetration werde die Vagina erotisiert. Weshalb Frauen wiederum selbst nicht so genau wüssten, was sie (nicht) wollten, und so den Täter womöglich unwillentlich zur Tat verleiten. Frauen müssten folglich dafür Sorge tragen, nichts Falsches auszustrahlen, müssten sich selbst misstrauen, denn sie machten die Männer quasi verrückt. Ist man erst einmal da angelangt, trägt das Opfer immer Mitschuld: Trotz Nein gäbe es meist ein Ja. "Echte" Vergewaltigungen gäbe es nur wenige, hingegen viele "scheinbare" Fälle und auch viele Falschanzeigen. Die unzurechnungsfähige Hysterikerin lässt grüßen.

Nach Sanyal verhärtet zweierlei den ideologischen Knoten. Zum einen existieren bis heute hartnäckige Wertungsmuster, welche ein Opfer nach der Tat zusätzlich ausgrenzen oder ausstoßen. Ein altes Wort dafür lautet "Ehre". Durch die Vergewaltigung wird demnach nicht nur die Seele, sondern auch der soziale Wert der Person verletzt. Eine Vergewaltigte müsste demnach damit leben, dass nach der Tat niemand mehr sie "ehrlich" lieben kann. In der Rechtssprechung forderte man lange Zeit von den Opfern "Ehrbeweise", bevor das Gericht eine mögliche Straftat überhaupt verfolgte. Hier zeigte das Patriarchat seine Fratze: Nur eine Frau, die eine "Ehre" hat, so der Gedanke, kann überhaupt vergewaltigt werden. Auch heute fragt sich, so Sanyal, ob beispielsweise im Falle Gina-Lisa Lohfink - einem nach eigenen Angaben durch K.-o.-Tropfen beeinträchtigten, aber um Beweise verlegenen, bei rüdem Sex gefilmten TV-Sternchen - nicht eine Art öffentliches "Hurenstigma" wirksam war. Das Ehrkriterium existiert nicht mehr als Begriff, aber durchaus als Bewertungsmaß.

Zum Zweiten ist Beschränkung von Delikt und Akt auf weibliche Opfer falsch. Auch Jungen und Männer werden vergewaltigt, wenngleich auch deutsche Strafrechtsparagraphen dies bis vor kurzem ignorierten. Kern des Vergewaltigungsphänomens ist das Hinnehmenmüssen, sind Würderaub und Sexsklaverei, aber nicht das Frausein. Ein verkorkstes Maskulinitätsbild, das noch nicht einmal die Möglichkeit des vergewaltigten Mannes als Straftatbestand einräumt, gehörte demzufolge zur traurigen Geschichte des Delikts.

Entschlossener als Krakauer geht es Sanyal um die Revision psychologisierender Opferkonzepte. Ihr Punkt: Feministische Kritik am Dominanzmuster männlich-gewalthaltiger Penetration darf nicht in eine Kulturgeschichte der Frau als Beute münden. Ebenso mache nichts den weiblichen Körper für Vergewaltigungen besonders verwundbar. Womöglich sollte man also die hässliche Tat schlicht als Gewaltakt betrachten, als erbärmliche Form des Prügelns. Alles "Sexuelle" daran wäre vor allem für den Täter peinlich. Ansonsten? Eine tückische Überhöhung. Allerdings eine von elender, zäher Macht.

PETRA GEHRING

Jon Krakauer: "Die Schande von Missoula". Vergewaltigung im Land der Freiheit.

Aus dem Englischen von Hans Freundl und Sigrid Schmid. Piper Verlag München 2016, 480 S., geb., 26,- [Euro].

Mithu Melanie Sanyal:

"Vergewaltigung". Aspekte eines Verbrechens.

Edition Nautilus, Hamburg 2016. 238 S., br., 16,- [Euro].

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"Ein wichtiges Buch!", Nürnberger Zeitung, 31.03.2017