Dzevad Karahasan, der große bosnische Erzähler und Essayist, beheimatet in den literarischen Traditionen der antiken, der islamischen und der christlichen Welt, hat eine unzeitgemäße Auffassung vom Handwerk des Schreibens. Die Architektur eines Romans, seine vielschichtige Zeitstruktur, seine sprachliche Polyphonie verdankt sich einer ästhetischen Erfahrung der Stadt. Der Gegensatz von öffentlichen und privaten Räumen, die Begegnung, ja Konfrontation mit dem Andersartigen erzeugen Spannungen, die in der Narration ausgetragen werden. Exemplarisch für diese poetologische Erkenntnis steht…mehr
Dzevad Karahasan, der große bosnische Erzähler und Essayist, beheimatet in den literarischen Traditionen der antiken, der islamischen und der christlichen Welt, hat eine unzeitgemäße Auffassung vom Handwerk des Schreibens. Die Architektur eines Romans, seine vielschichtige Zeitstruktur, seine sprachliche Polyphonie verdankt sich einer ästhetischen Erfahrung der Stadt. Der Gegensatz von öffentlichen und privaten Räumen, die Begegnung, ja Konfrontation mit dem Andersartigen erzeugen Spannungen, die in der Narration ausgetragen werden. Exemplarisch für diese poetologische Erkenntnis steht Sarajevo, eine Stadt, die - wie Karahasan an Werken von Ivo Andric zeigt - ein raffiniertes, perspektivisch reiches Erzählen geradezu erzwingt, um dem Nebeneinanderbestehen verschiedener kultureller Traditionen und religiöser Praktiken an einem einzigen Ort gerecht zu werden. "Man könnte auf die Idee kommen, Sarajevo sei eine Stadt, die entstanden ist, damit die Narration irgendwo einen Heimatort finde." Karahasans Poetik der "erzählten Stadt" spricht von einer Literatur, die stärker als je zuvor in der Moderne, an den vielsprachigen, von Ungleichzeitigkeit und Vieldimensioniertheit geprägten Metropolen zu Hause ist.
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Autorenporträt
Dzevad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählte zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2004 und mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020. Dzevad Karahasan verstarb am 19. Mai 2023 im Alter von 70 Jahren in Graz. Katharina Wolf-Griesshaber, geboren 1955, studierte Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Heidelberg und Bochum. Sie lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Münster.
Rezensionen
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Diese Essays lehren den Leser, genau hinzugucken, auch das Abseitige zu bemerken, erzählt Ilma Rakusa noch voll des Leserglücks. Die "bescheidene Gründlichkeit" dieses Autors ist für sie der Hauptfaktor für die große Qualität dieser meisterhaften Essays über Fragen der Zeit-Raum-Problematik in der Literatur und Erzählformen, die sich am Modell der Stadt orientieren. Besonders erstaunlich findet die hier rezensierende Schriftstellern und Literaturwissenschaftlerin, wie es Dzevad Karahasan gelingt, etwa Sophokles' 'König Ödipus' oder Kleists 'Prinz Friedrich von Homburg' "allein aufgrund raumzeitlicher Strukturen zu deuten". Was genau das bedeutet, versteht man in ihrer Kritik zwar nicht so recht, aber Rakusas Begeisterung ist unzweifelhaft. Lob geht auch an die "geschmeidige" Übersetzung Katharina Wolf-Griesshabers.