Die Schatzinsel.
Jim Hawkins findet die Schatzkarte des Piraten Käpt n Flint. Damit beginnt das spanneden Abenteuer, das Jim Hawkins und seine Freunde über das Meer zu einer unheimlichen Insel führt. Doch auch die Piraten kennen das Geheimnis!
Mit einer Hörspiel-CD nach einem Roman von Robert J. Stevenson.
Jim Hawkins findet die Schatzkarte des Piraten Käpt n Flint. Damit beginnt das spanneden Abenteuer, das Jim Hawkins und seine Freunde über das Meer zu einer unheimlichen Insel führt. Doch auch die Piraten kennen das Geheimnis!
Mit einer Hörspiel-CD nach einem Roman von Robert J. Stevenson.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2013Meer der Liebe und des Fiebers
Einige der größten Bücher gelten immer noch als Jugendliteratur. Dabei verschwimmen in Romanen wie etwa der "Schatzinsel" die Grenzen zwischen Literatur und Leben
Im vorigen Herbst ist die "Bounty" gekentert. Und man dachte erst: Ist das nicht schon vor Jahrhunderten passiert? Aber es war nicht der Augenblick, um originell zu sein.
Sechs Meter hoch waren die Wellen über dem Dreimaster zusammengeschlagen, draußen vor der Küste von North Carolina. Die Küstenwache hatte vierzehn Schiffbrüchige in einen Hubschrauber gehievt, eine Frau fanden sie aber erst später, sie überlebte nicht, und der Kapitän bleibt verschollen, vermutlich ist er mit seinem Schiff untergegangen.
Die "Bounty" war auf dem Weg von Connecticut nach Florida, als sie in den Hurrikan "Sandy" geriet. Aber gleichzeitig hatte sich da auch die Fiktion auf den Weg in die Gegenwart gemacht - und war dort brutal angekommen: Bei der "Bounty" handelte es sich um den Nachbau des Schiffes, mit dem die berühmtesten Meuterer aller Zeiten in der Südsee gestrandet waren, 1790 war das. Vorher hatten sie noch ihren Kapitän Bligh davongejagt. Bis heute leben Nachfahren von Fletcher Christian, dem Anführer der Meuterei, auf der Insel Pitcairn.
Eine andere Verwandte, Claudene Christian, war an Bord der "Bounty", als der Hurrikan kam. Sie war die Frau, die zu spät geborgen wurde. Das Schiff, auf dem sie anheuerte - ihr war die Ironie der Sache klar, das hatte sie vorher einer Zeitung erzählt -, hatte 1962 die Titelrolle gespielt, als die wahre Geschichte der "Bounty" schon zum vierten Mal verfilmt wurde, dafür war es extra gebaut worden. Marlon Brando spielte damals Fletcher Christian. Fünfzig Jahre später war das Schiff dann im "Fluch der Karibik" zu sehen, in zwei Filmen der Serie sogar, und auch in einer Verfilmung der "Schatzinsel" von Robert Louis Stevenson, da hieß sie dann "Hispaniola".
Bis also ein echter Sturm die "Bounty" zerlegte - und nicht ein erfundener, aus dem Sonntagnachmittagsprogramm, aus einem Weihnachtsvierteiler, aus einem Buch, das man als Kind vorgelesen bekommt, als Jugendlicher nachliest und nie wieder vergisst. Als die "Bounty" unterging, da gingen auch Erzählungen mit ihr unter, die von exakt der existentiellen Erfahrung handelten, die das Segelschiff jetzt nicht mehr überstand.
Das Existentielle dieser Abenteuergeschichten, egal ob sie Stevenson schrieb, Joseph Conrad oder Jack London oder ob sie wahr sind wie im Fall der Meuterer von der "Bounty", es lässt einen nicht mehr los. Die Nahtoderfahrung. Der Schritt aus der Welt eines Sonntagnachmittags in eine andere, gefährlichere Welt, ohne Hausaufgaben und Urlaubsanträge und Hausratversicherungen. Die Rätsel dieser Bücher begleiten einen das ganze Leben lang. Die Betäubung. Ihr wohliger Schauder. Es ist ein bisschen wie mit der Malaria, die sich die Matrosen in diesen Geschichten unweigerlich einfangen: Man infiziert sich, beginnt zu fiebern, das lässt dann zwar nach, aber es kann immer wieder aufbrechen.
Ich kenne jedenfalls kaum jemanden, dessen Augen nicht flackern, wenn man Bücher wie Stevensons "Schatzinsel" erwähnt. Oder den "Seewolf" von Jack London. Oder eben die "Meuterei auf der "Bounty", die Charles Bernard Nordhoff 1932 in einem ziemlich packenden Report aufgeschrieben hatte. Oder Joseph Conrads "Lord Jim". Oder Herman Melvilles "Moby-Dick", ach "Moby-Dick", größter Wal aller Bücher.
Und deswegen war es auch seltsam, als die "Bounty" im Oktober 2012 unterging. Weil sich da plötzlich etwas entschied und real wurde, was sonst in diesem wunderbaren Zwischenreich bleibt, in das man wechseln kann, wenn man will, so oft man will. Stürme wie "Sandy" hatte die "Bounty" ja immer wieder überlebt, und Flauten genauso und noch ganz andere Abenteuer - aber das war auf der Leinwand gewesen, wo sie Schiffe darstellte, mit denen man selbst in Tagträumen auch schon gefahren war. Die Leinwand eines Kinos, der Bildschirm eines Fernsehers, die Seiten eines Buchs sind eben durchlässige Membranen. Oder anders: Man löst sich beim Lesen und Zuschauen dieser Geschichten zugleich in ihnen auf. Über wie viele Romane der Weltliteratur kann man das sagen? Wie viele davon liest man wie um sein Leben?
Verrückterweise gelten die meisten dieser Bücher bis heute als Jugendliteratur. Und weil das wiederum lange als Genre minderer Ansprüche galt, bis es seit "Harry Potter" mit unfassbaren Verkaufszahlen die Branche auf den Kopf stellte und Maßgaben wie ein "empfohlenes Lesealter" außer Kraft setzte, kursierten jahrelang eingekürzte, ungenaue, verkitschte Übersetzungen. Keiner stieß sich daran. Ging ja um Kinder und Teenager, nicht um richtige Leser. Das ändert sich zum Glück seit einiger Zeit. "Moby-Dick" zum Beispiel - aber Herman Melville ist sowieso über alle Zweifel erhaben - ist mittlerweile sogar zweimal neu übersetzt worden, einmal von Friedhelm Rathjen (bei S. Fischer) und dann von Matthias Jendis für den Münchener Hanser-Verlag. In dem ist jetzt auch eine neue Übersetzung von Stevensons "Schatzinsel" erschienen, angefertigt von Andreas Nohl.
Der Augsburger Schriftsteller, Jahrgang 1954, hat für Hanser schon einen anderen Roman von Stevenson übersetzt, zum ersten Mal überhaupt auf Deutsch, den Thriller "St. Ives". Nohl hat 2010 auch Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu neuem Leben erweckt, Mark Twains Mississippi-Punks. In der gleichen Reihe brachte Karen Lauer im Frühling ihre Version des "Letzten Mohikaners" von James Fenimore Cooper heraus, noch so ein Buch über Aufbruch und Wildnis (diesmal im amerikanischen Westen, nicht auf See), das man vor allem aus herrlichen Verfilmungen kannte oder aus eingekürzten, adaptierten Versionen.
Und jetzt hört man einen anderen Ton. Man hört ihn auch in der "Schatzinsel", jener Geschichte des Piratenschatzes von Kapitän Flint, den eine Gruppe anständiger Gentlemen um Doktor Livesey und den jungen Jim Hawkins finden wollen. Aber die Crew der "Hispaniola" ist von Flints alten Kameraden unterwandert worden, und diese Kameraden, angeführt vom einbeinigen Long John Silver, wollen sich holen, was ihnen zusteht. Denken sie. Falsch gedacht.
Nohl hat Stevensons Buch, erschienen 1881, geschrieben zum Teil im Schnee von Davos, in schnörkelloses Deutsch verwandelt. "Der Ton ist plausibel", sagt Nohl. "Wir hüten uns davor, allzu historisch zu Werke zu gehen - die Übersetzung muss als Buch heute eins zu eins funktionieren, sonst braucht man es nicht zu machen."
Die Bücher aus der Hanser-Reihe sind alle toll gemacht: fester Einband, gutes Papier, in der "Schatzinsel" sind vorn die ominöse Karte und hinten ein Segelschiff samt Erläuterungen abgedruckt: Wo sind Wanten, Speigaten, Klüverbaum? Aber was sie davor bewahrt, eine Art Märklin-Eisenbahn für Erwachsene zu sein, die sich jetzt, wo sie es sich leisten können, besonders erlesene, aber unspielbare Meisterwerke kaufen, das sind die Geschichten selbst. Deren vordergründiger Reiz ist das Abenteuer: Ein Junge flieht mit einem anderen Flüchtling vor seinem Vater auf einem Floß den Mississippi hinunter; ein Junge findet eine Schatzkarte und bricht mit Freunden auf, ihn zu heben. Aber eigentlich werden hier existentielle Fragen geklärt. Es ist Weltliteratur.
"Es geht Twain und Stevenson nicht um Status oder um Liebe, sondern ums Überleben", sagt Nohl. "Als ich mit vierzehn Jahren Edgar Allan Poe zu lesen begann, ,Die Grube und das Pendel' zum Beispiel, da habe ich das als Handungsanleitung empfunden: Wenn du mal in eine solche Situation gerätst, kannst du dich mit Poe daran erinnern, mit welchen Techniken man dem Tod entgeht, wie man ganz brenzligen Situationen entkommen kann - indem man nämlich seine Vernunft und seine Intelligenz einsetzt."
Wenn das stimmt, wenn also so ein direktes Verhältnis von Literatur und Leben wirklich herstellbar ist, liest man die Bücher von Poe oder Stevenson anders als die von Henry James oder Theodor Fontane. Aus den einen lernt man, wie man Piraten kaltstellt, aus den anderen, eine mörderische Teegesellschaft ohne Kratzer zu überstehen.
Ist natürlich unfair, Schriftsteller so gegeneinander auszuspielen, gerade von Fontane kann man lernen, dass ein gesellschaftlicher Tod oft kein symbolischer bleibt: Aber es ist lustig, im Anhang der "Schatzinsel" zu lesen, wie Stevensons Stiefsohn Lloyd unter den Büchern seines Stiefvaters vor der Piratengeschichte litt. Diese anderen Bücher - Reisegeschichten, Essays - fand Lloyd zwar schön zu lesen, aber monströs öde. Und dass, obwohl Stevenson, genau wie sein Stiefsohn, Fenimore Cooper und Jules Verne liebte: "Er hatte also durchaus Sinn für gute Bücher." Mit anderen Worten: Mein Vater hat doch Stephen King auch geliebt, warum schreibt er nur so einen Stuss!
Mit der "Schatzinsel" befreite sich Stevenson daraus, überwand die Genreregeln seiner Zeit - und wurde sehr erfolgreich damit. Genau wie Twain, genau wie Jack London. Wer so schrieb, wurde geliebt. Aber wie ging das? Nohl zitiert in seinem Nachwort einen programmatischen Satz Stevensons: Bei jeder Beschreibung müsse die Aufmerksamkeit des Lesers auf den "wesentlichen Reiz der Situation" gerichtet werden. The essential interest of the situation: Das könnte wirklich von Stephen King stammen. "Es ist der Maßstab für alles gelungene Erzählen", sagt Nohl. "Bei Stevenson ist es die äußerste Blickschärfe, die Art, mit der er eine Situation präpariert." Und es ist die Technik, mit der er verzögert, hinhält. Wie er Cliffhanger in seinen Text hineinschreibt, indem er mal den jungen Jim Hawkins, mal Doktor Livesey von der Jagd auf den Schatz erzählen lässt. Wie Ungeheuerliches längst geschehen ist, man als Leser aber von jetzt auf gleich nur mit ihren Folgen konfrontiert wird und geschockt nach und nach herausfinden muss, was in Wirklichkeit geschah.
Die "Schatzinsel" entstand, als der Vater und der Sohn zusammen spielten, Lloyd hatte eine Karte gezeichnet, Stevenson sie vollendet und mit ihr, als Kompass, eine Geschichte dazu erfunden. Aus dem Leben hinaus wanderte da eine Geschichte in die Literatur hinein. Andreas Nohl erzählt, dass er wegen "Huckleberry Finn" selbst Schriftsteller werden wollte: "Weil ich das ungeheure Glück dieses Buchs nicht enden lassen wollte. Und so habe ich es weitergeschrieben, auch mit einem Freund zusammen." Und mit dem ungeheuren Glück der "Schatzinsel" ist es auch noch nicht vorbei: Im Februar erscheint "Silver" von Andrew Motion im Mare-Verlag, ein neues Schiff bricht zur Schatzinsel auf, an Bord sind Jim Hawkins Jr. und die Tochter des Einbeinigen.
Andreas Nohl wiederum ist unterwegs nach Indien - er arbeitet für Hanser an einer Übersetzung von Rudyard Kiplings "Kim". Und dessen "Dschungelbuch". Noch so eine Geschichte eines Waisenjungen, der ums Überleben kämpft. Nichts für Kinder, nichts für Erwachsene, sondern für alle, die lesen können, als läge alles daran.
TOBIAS RÜTHER
Robert Louis Stevenson: "Die Schatzinsel". Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Hanser-Verlag, 384 Seiten, 27,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einige der größten Bücher gelten immer noch als Jugendliteratur. Dabei verschwimmen in Romanen wie etwa der "Schatzinsel" die Grenzen zwischen Literatur und Leben
Im vorigen Herbst ist die "Bounty" gekentert. Und man dachte erst: Ist das nicht schon vor Jahrhunderten passiert? Aber es war nicht der Augenblick, um originell zu sein.
Sechs Meter hoch waren die Wellen über dem Dreimaster zusammengeschlagen, draußen vor der Küste von North Carolina. Die Küstenwache hatte vierzehn Schiffbrüchige in einen Hubschrauber gehievt, eine Frau fanden sie aber erst später, sie überlebte nicht, und der Kapitän bleibt verschollen, vermutlich ist er mit seinem Schiff untergegangen.
Die "Bounty" war auf dem Weg von Connecticut nach Florida, als sie in den Hurrikan "Sandy" geriet. Aber gleichzeitig hatte sich da auch die Fiktion auf den Weg in die Gegenwart gemacht - und war dort brutal angekommen: Bei der "Bounty" handelte es sich um den Nachbau des Schiffes, mit dem die berühmtesten Meuterer aller Zeiten in der Südsee gestrandet waren, 1790 war das. Vorher hatten sie noch ihren Kapitän Bligh davongejagt. Bis heute leben Nachfahren von Fletcher Christian, dem Anführer der Meuterei, auf der Insel Pitcairn.
Eine andere Verwandte, Claudene Christian, war an Bord der "Bounty", als der Hurrikan kam. Sie war die Frau, die zu spät geborgen wurde. Das Schiff, auf dem sie anheuerte - ihr war die Ironie der Sache klar, das hatte sie vorher einer Zeitung erzählt -, hatte 1962 die Titelrolle gespielt, als die wahre Geschichte der "Bounty" schon zum vierten Mal verfilmt wurde, dafür war es extra gebaut worden. Marlon Brando spielte damals Fletcher Christian. Fünfzig Jahre später war das Schiff dann im "Fluch der Karibik" zu sehen, in zwei Filmen der Serie sogar, und auch in einer Verfilmung der "Schatzinsel" von Robert Louis Stevenson, da hieß sie dann "Hispaniola".
Bis also ein echter Sturm die "Bounty" zerlegte - und nicht ein erfundener, aus dem Sonntagnachmittagsprogramm, aus einem Weihnachtsvierteiler, aus einem Buch, das man als Kind vorgelesen bekommt, als Jugendlicher nachliest und nie wieder vergisst. Als die "Bounty" unterging, da gingen auch Erzählungen mit ihr unter, die von exakt der existentiellen Erfahrung handelten, die das Segelschiff jetzt nicht mehr überstand.
Das Existentielle dieser Abenteuergeschichten, egal ob sie Stevenson schrieb, Joseph Conrad oder Jack London oder ob sie wahr sind wie im Fall der Meuterer von der "Bounty", es lässt einen nicht mehr los. Die Nahtoderfahrung. Der Schritt aus der Welt eines Sonntagnachmittags in eine andere, gefährlichere Welt, ohne Hausaufgaben und Urlaubsanträge und Hausratversicherungen. Die Rätsel dieser Bücher begleiten einen das ganze Leben lang. Die Betäubung. Ihr wohliger Schauder. Es ist ein bisschen wie mit der Malaria, die sich die Matrosen in diesen Geschichten unweigerlich einfangen: Man infiziert sich, beginnt zu fiebern, das lässt dann zwar nach, aber es kann immer wieder aufbrechen.
Ich kenne jedenfalls kaum jemanden, dessen Augen nicht flackern, wenn man Bücher wie Stevensons "Schatzinsel" erwähnt. Oder den "Seewolf" von Jack London. Oder eben die "Meuterei auf der "Bounty", die Charles Bernard Nordhoff 1932 in einem ziemlich packenden Report aufgeschrieben hatte. Oder Joseph Conrads "Lord Jim". Oder Herman Melvilles "Moby-Dick", ach "Moby-Dick", größter Wal aller Bücher.
Und deswegen war es auch seltsam, als die "Bounty" im Oktober 2012 unterging. Weil sich da plötzlich etwas entschied und real wurde, was sonst in diesem wunderbaren Zwischenreich bleibt, in das man wechseln kann, wenn man will, so oft man will. Stürme wie "Sandy" hatte die "Bounty" ja immer wieder überlebt, und Flauten genauso und noch ganz andere Abenteuer - aber das war auf der Leinwand gewesen, wo sie Schiffe darstellte, mit denen man selbst in Tagträumen auch schon gefahren war. Die Leinwand eines Kinos, der Bildschirm eines Fernsehers, die Seiten eines Buchs sind eben durchlässige Membranen. Oder anders: Man löst sich beim Lesen und Zuschauen dieser Geschichten zugleich in ihnen auf. Über wie viele Romane der Weltliteratur kann man das sagen? Wie viele davon liest man wie um sein Leben?
Verrückterweise gelten die meisten dieser Bücher bis heute als Jugendliteratur. Und weil das wiederum lange als Genre minderer Ansprüche galt, bis es seit "Harry Potter" mit unfassbaren Verkaufszahlen die Branche auf den Kopf stellte und Maßgaben wie ein "empfohlenes Lesealter" außer Kraft setzte, kursierten jahrelang eingekürzte, ungenaue, verkitschte Übersetzungen. Keiner stieß sich daran. Ging ja um Kinder und Teenager, nicht um richtige Leser. Das ändert sich zum Glück seit einiger Zeit. "Moby-Dick" zum Beispiel - aber Herman Melville ist sowieso über alle Zweifel erhaben - ist mittlerweile sogar zweimal neu übersetzt worden, einmal von Friedhelm Rathjen (bei S. Fischer) und dann von Matthias Jendis für den Münchener Hanser-Verlag. In dem ist jetzt auch eine neue Übersetzung von Stevensons "Schatzinsel" erschienen, angefertigt von Andreas Nohl.
Der Augsburger Schriftsteller, Jahrgang 1954, hat für Hanser schon einen anderen Roman von Stevenson übersetzt, zum ersten Mal überhaupt auf Deutsch, den Thriller "St. Ives". Nohl hat 2010 auch Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu neuem Leben erweckt, Mark Twains Mississippi-Punks. In der gleichen Reihe brachte Karen Lauer im Frühling ihre Version des "Letzten Mohikaners" von James Fenimore Cooper heraus, noch so ein Buch über Aufbruch und Wildnis (diesmal im amerikanischen Westen, nicht auf See), das man vor allem aus herrlichen Verfilmungen kannte oder aus eingekürzten, adaptierten Versionen.
Und jetzt hört man einen anderen Ton. Man hört ihn auch in der "Schatzinsel", jener Geschichte des Piratenschatzes von Kapitän Flint, den eine Gruppe anständiger Gentlemen um Doktor Livesey und den jungen Jim Hawkins finden wollen. Aber die Crew der "Hispaniola" ist von Flints alten Kameraden unterwandert worden, und diese Kameraden, angeführt vom einbeinigen Long John Silver, wollen sich holen, was ihnen zusteht. Denken sie. Falsch gedacht.
Nohl hat Stevensons Buch, erschienen 1881, geschrieben zum Teil im Schnee von Davos, in schnörkelloses Deutsch verwandelt. "Der Ton ist plausibel", sagt Nohl. "Wir hüten uns davor, allzu historisch zu Werke zu gehen - die Übersetzung muss als Buch heute eins zu eins funktionieren, sonst braucht man es nicht zu machen."
Die Bücher aus der Hanser-Reihe sind alle toll gemacht: fester Einband, gutes Papier, in der "Schatzinsel" sind vorn die ominöse Karte und hinten ein Segelschiff samt Erläuterungen abgedruckt: Wo sind Wanten, Speigaten, Klüverbaum? Aber was sie davor bewahrt, eine Art Märklin-Eisenbahn für Erwachsene zu sein, die sich jetzt, wo sie es sich leisten können, besonders erlesene, aber unspielbare Meisterwerke kaufen, das sind die Geschichten selbst. Deren vordergründiger Reiz ist das Abenteuer: Ein Junge flieht mit einem anderen Flüchtling vor seinem Vater auf einem Floß den Mississippi hinunter; ein Junge findet eine Schatzkarte und bricht mit Freunden auf, ihn zu heben. Aber eigentlich werden hier existentielle Fragen geklärt. Es ist Weltliteratur.
"Es geht Twain und Stevenson nicht um Status oder um Liebe, sondern ums Überleben", sagt Nohl. "Als ich mit vierzehn Jahren Edgar Allan Poe zu lesen begann, ,Die Grube und das Pendel' zum Beispiel, da habe ich das als Handungsanleitung empfunden: Wenn du mal in eine solche Situation gerätst, kannst du dich mit Poe daran erinnern, mit welchen Techniken man dem Tod entgeht, wie man ganz brenzligen Situationen entkommen kann - indem man nämlich seine Vernunft und seine Intelligenz einsetzt."
Wenn das stimmt, wenn also so ein direktes Verhältnis von Literatur und Leben wirklich herstellbar ist, liest man die Bücher von Poe oder Stevenson anders als die von Henry James oder Theodor Fontane. Aus den einen lernt man, wie man Piraten kaltstellt, aus den anderen, eine mörderische Teegesellschaft ohne Kratzer zu überstehen.
Ist natürlich unfair, Schriftsteller so gegeneinander auszuspielen, gerade von Fontane kann man lernen, dass ein gesellschaftlicher Tod oft kein symbolischer bleibt: Aber es ist lustig, im Anhang der "Schatzinsel" zu lesen, wie Stevensons Stiefsohn Lloyd unter den Büchern seines Stiefvaters vor der Piratengeschichte litt. Diese anderen Bücher - Reisegeschichten, Essays - fand Lloyd zwar schön zu lesen, aber monströs öde. Und dass, obwohl Stevenson, genau wie sein Stiefsohn, Fenimore Cooper und Jules Verne liebte: "Er hatte also durchaus Sinn für gute Bücher." Mit anderen Worten: Mein Vater hat doch Stephen King auch geliebt, warum schreibt er nur so einen Stuss!
Mit der "Schatzinsel" befreite sich Stevenson daraus, überwand die Genreregeln seiner Zeit - und wurde sehr erfolgreich damit. Genau wie Twain, genau wie Jack London. Wer so schrieb, wurde geliebt. Aber wie ging das? Nohl zitiert in seinem Nachwort einen programmatischen Satz Stevensons: Bei jeder Beschreibung müsse die Aufmerksamkeit des Lesers auf den "wesentlichen Reiz der Situation" gerichtet werden. The essential interest of the situation: Das könnte wirklich von Stephen King stammen. "Es ist der Maßstab für alles gelungene Erzählen", sagt Nohl. "Bei Stevenson ist es die äußerste Blickschärfe, die Art, mit der er eine Situation präpariert." Und es ist die Technik, mit der er verzögert, hinhält. Wie er Cliffhanger in seinen Text hineinschreibt, indem er mal den jungen Jim Hawkins, mal Doktor Livesey von der Jagd auf den Schatz erzählen lässt. Wie Ungeheuerliches längst geschehen ist, man als Leser aber von jetzt auf gleich nur mit ihren Folgen konfrontiert wird und geschockt nach und nach herausfinden muss, was in Wirklichkeit geschah.
Die "Schatzinsel" entstand, als der Vater und der Sohn zusammen spielten, Lloyd hatte eine Karte gezeichnet, Stevenson sie vollendet und mit ihr, als Kompass, eine Geschichte dazu erfunden. Aus dem Leben hinaus wanderte da eine Geschichte in die Literatur hinein. Andreas Nohl erzählt, dass er wegen "Huckleberry Finn" selbst Schriftsteller werden wollte: "Weil ich das ungeheure Glück dieses Buchs nicht enden lassen wollte. Und so habe ich es weitergeschrieben, auch mit einem Freund zusammen." Und mit dem ungeheuren Glück der "Schatzinsel" ist es auch noch nicht vorbei: Im Februar erscheint "Silver" von Andrew Motion im Mare-Verlag, ein neues Schiff bricht zur Schatzinsel auf, an Bord sind Jim Hawkins Jr. und die Tochter des Einbeinigen.
Andreas Nohl wiederum ist unterwegs nach Indien - er arbeitet für Hanser an einer Übersetzung von Rudyard Kiplings "Kim". Und dessen "Dschungelbuch". Noch so eine Geschichte eines Waisenjungen, der ums Überleben kämpft. Nichts für Kinder, nichts für Erwachsene, sondern für alle, die lesen können, als läge alles daran.
TOBIAS RÜTHER
Robert Louis Stevenson: "Die Schatzinsel". Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Hanser-Verlag, 384 Seiten, 27,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main