Ein großer Roman über die unstillbare Sehnsucht nach Anerkennung
Kann man seine Mutter wirklich kennen? Norah blickt zurück auf das Leben ihrer Mutter, der einst gefeierten Schauspielerin Katherine O'Dell, die es von den irischen Dorfbühnen bis nach Hollywood geschafft hat. Doch mit zunehmendem Alter verblasste ihr Stern, sie betäubte sich mit Alkohol und Tabletten, bis es eines Tages zu einem bizarren Skandal kam: Ohne Vorwarnung schoss sie auf einen Filmproduzenten. Jeder Augenblick in Katherines Leben war große Geste, und Norah war ihr Publikum. Wer aber war diese Frau, die alles für die Kunst gab, deren Beziehungen kalt waren - und warum erzählte sie Norah nie, wer ihr Vater ist?
»Die Schauspielerin« ist ein eindringliches Buch über die so starke und doch auch so verwundbare Beziehung zwischen Mutter und Tochter - frappierend ehrlich, scharfzüngig und augenzwinkernd erzählt.« SWR-Bestenliste Juli/August 2020.
Kann man seine Mutter wirklich kennen? Norah blickt zurück auf das Leben ihrer Mutter, der einst gefeierten Schauspielerin Katherine O'Dell, die es von den irischen Dorfbühnen bis nach Hollywood geschafft hat. Doch mit zunehmendem Alter verblasste ihr Stern, sie betäubte sich mit Alkohol und Tabletten, bis es eines Tages zu einem bizarren Skandal kam: Ohne Vorwarnung schoss sie auf einen Filmproduzenten. Jeder Augenblick in Katherines Leben war große Geste, und Norah war ihr Publikum. Wer aber war diese Frau, die alles für die Kunst gab, deren Beziehungen kalt waren - und warum erzählte sie Norah nie, wer ihr Vater ist?
»Die Schauspielerin« ist ein eindringliches Buch über die so starke und doch auch so verwundbare Beziehung zwischen Mutter und Tochter - frappierend ehrlich, scharfzüngig und augenzwinkernd erzählt.« SWR-Bestenliste Juli/August 2020.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.06.2020LITERATUR
„Ich werde vom Blick meiner Mutter gehalten“
Hollywood, Irland, Butter, Alkohol: Anne Enrights opulenter Roman „Die Schauspielerin“ erzählt
von zwei Überlebewesen und der Erfahrung des Unterworfenseins
VON CLAUDIA TIESCHKY
Katherine O’Dell, die irische Hauptperson des Romans, kann mit jeder Diva aus Hollywood mithalten. Sie hat ja selber da Karriere gemacht und ist schon am Frühstückstisch ein Star – eine Frau, die gern Biografien von Diktatoren liest und die Yellow Press einlädt, wenn sie in ihrem männerlosen Haushalt eine der ersten Geschirrspülmaschinen Irlands anschafft. Doch auch die Beziehung von Katherine und ihrer Tochter ist ganz und gar unvergleichlich. Wir erfahren es von der Tochter, die diese Geschichte erzählt und sich langsam an eine verdrängte Vergewaltigung heranarbeitet.
Das Verhältnis der beiden hat eine Qualität, die Mütter und Töchter selten erreichen. Es geht ohne jede Rivalität, ohne größere gegenseitige Verletzungen, ohne Vorwürfe oder böse Dramen. An dem Tag, „als sie in die Welt geschossen kam, steckte ich in ihr, als winzige Eizelle“, weiß Norah zu berichten. „Sie sagte, ich sei vom Tag ihrer Geburt an in sie eingebettet gewesen wie eine kleine Matrjoschka“. Das ist wunderschön. Und ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Aber wahr muss eine Geschichte ja nicht sein, um erzählt zu werden. Sogar wenn die Tochter schildert, wie sich die Mutter mit 45 Jahren noch einmal für die Fotografen in das spektakuläre Kleid wirft, bei dem die Nähte fast über den Röllchen platzen, klingt Bewunderung mit und Zärtlichkeit. Keine verrät hier die andere. Insofern ist „Die Schauspielerin“ ein feministisches Buch.
Viele Jahre nach Katherines Tod klingelt bei Norah eines Tages die Journalistin Holly Devane. Norah ist Schriftstellerin, aber auch eine öffentliche Tochter: „Seit dem Tod meiner Mutter habe ich fünf Romane geschrieben, alle wurden beworben mit dem Satz ‚von der Tochter von Katherine O’Dell’. Ich kann mich nicht beschweren, denn es ist einfach wahr.“ Holly Devane, die „nicht so auf Männer“ steht, will ein Buch über Katherine schreiben.
Norahs Blick ist sofort zur Denunziation bereit („ihre blühende, der Dummheit so nahe Intelligenz“), aber Holly setzt sich ihm aus. Und sie wirft, bestimmt nicht ohne tiefere Absicht, die wichtigste Frage auf in puncto Katherine.
Auf einmal jedenfalls geht es, ohne dass das Wort fällt – um Sex. Allerdings um Sex, den es gar nicht gibt, so wie es Norahs Vater nicht gibt, um Sex als hartnäckig verschwiegene Erfahrung. Aber wie konnte das sein? War es Vergesslichkeit? Hat nicht jedes Kind einen Vater, so schön man ihm auch die Matrjoschka-Sache erzählt, als wäre es eine Jungfernzeugung gewesen? Und plötzlich will Norah es selber herausfinden und nicht Holly überlassen. In der Küche hantiert sie so lange gefährlich mit dem Geschirr, bis ihr Mann sagt, sie solle das verdammte Buch doch selber schreiben.
„Warum schreibst du das verdammte Buch nicht selbst?“, wäre bei Anne Enright dann der nächste Satz, denn ihr Lieblingsstilmittel besteht darin, dass sie etwas erzählt und dann ein wörtliches Zitat hinterherschiebt, in dem das Erzählte noch einmal gesagt wird. Das Verfahren ähnelt – schließlich ist Katherine ein Kinostar – dem Moment im Film, wenn eine Stimme aus dem Off spricht und das Erzählte dann in eine Szene übergeht. Neben dieser quasi-cineastischen Fertigkeit beherrscht Anne Enright ganz unglaubliche Vergleiche („An jenem Tag klapperte ihre Verrücktheit vor sich hin wie der Deckel eines Topfes mit kochendem Wasser.“) und schlagkräftige Sätze („Meine Mutter hatte ihre Kindheit umgeschrieben und dann die Originalfassung verloren.“). Warum schreibst du es nicht selbst, fragt also Norahs Mann, und die Erzählerin liefert und packt die Geschichte ihrer Mutter auf den Tisch und dazu fast ein Jahrhundert englische und irische Zeitgeschichte: die Kindheit mit den Eltern bei einer Wander-Theatertruppe, Flair und Repression der Hollywood-Studios und am Schluss noch die IRA, mit deren Sympathisanten Katherine Kontakt hält, eine Art radical chic – wenn demonstriert wird, dann mit Hausfrauenkopftuch von Hermès.
Gegen Ende ihrer Karriere avanciert Katherine dank eines heroischen Werbespots für Butter zu einer irischen Symbolfigur. Diese Frau ist eine Kämpferin, und ihre Tochter sieht alle ihre Schwächen, liegt ihr aber zu Füßen. Wenn Katherine endlich einmal von den vielen Reisen in ihr großes Haus zurückkommt, rollen sie sich beide gemütlich auf dem Sofa zusammen. Es ist eine Schutzzone, die Katherine mit ihrem Geld gebaut hat.
Adressat dieser Erzählung ist der Ehemann, das Du, zu dem Norah spricht, aber das die Autorin Anne Enright über weite Teile so kalt lässt, dass sie es komplett vergisst. Diese sehr sporadische Rahmenerzählung ist nicht besonders überzeugend, liefert aber erst einmal die Mechanik, mit der Katherines Herkunft und ihr Leben bis zum Tod mehr oder weniger lückenlos dargestellt wird.
Gleich in der ersten Szene ist sie der Mittelpunkt der Party aus Anlass von Norahs Volljährigkeit, und alles, was später noch kommt, klingt hier schon an: der ganze „glamouröse Haufen“, Theaterleute, die Dubliner Intellektuellen vom Rundfunk und von der Universität, eine Gesellschaft trinkfester Männer, die aber auch etwas Lauerndes haben, der anzügliche Niall Duggan („er war stets derjenige, mit dem ich reden wollte“, sagt Norah), Hughie Snell vom Fernsehen und Boyd O’Neill, den Katherine später in den Fuß schießen wird, der dann amputiert wird, aber da ist sie schon verrückt geworden, da hat der böse Niedergang begonnen.
Das liest sich alles flott weg, führt prachtvoll farbig geschrieben über die Frage hinweg, was der Grund für diese schnürsenkelgerade Erzählung ist. Warum sich Norah und Katherine eigentlich so nahe stehen, wo sie so verschieden sind. Woher kommt diese Einigkeit zwischen der Schauspielerin, die kein einziges Paar flacher Schuhe besitzt und ihrer viel sachlicheren Tochter, die über das Foto ihres einundzwanzigsten Geburtstags sagt: „Ich werde vom Blick meiner Mutter gehalten.“ Warum keine Abgrenzung, keine Rebellion?
Das ist verwirrend, und das erklärt Anne Enright nicht. Sie erzählt (und Eva Bonné übersetzte) einfach sehr viel und sehr gekonnt. Da fragt man nicht mehr lange, sondern schwelgt mit ihr in der Opulenz der Geschichte, Hollywood, Irland, Butter, Alkohol.
Aber irgendwann führt die Übereinstimmung von Mutter und Tochter, an der einfach nichts falsch werden will, in eine wachsende Beklemmung hinein. Denn in Norahs Erzählton schwingt nicht nur gut geschulte Boshaftigkeit mit, sondern auch eine rätselhafte Aggression. Es gibt etwas, das Mutter und Tochter verbindet, das ist die vergrabene Erinnerung von sich selbst als Opfer. Sie erweisen sich als ein und dasselbe Überlebewesen. Denn unter der schönen Oberfläche gibt es in diesem Leben eine andere Wahrheit, die mit tief internalisierter sexueller Gewalt gegen Frauen zu tun hat.
Ohne zu viel zu verraten, läuft am Ende alles auf eine lange zurückliegende Vergewaltigung hinaus, und das Besondere ist, wie Enright diese Geschichte aus der Opferperspektive aufrollt, wie sie sich diskret und fast beiläufig der Erfahrung des gewaltsamen Unterworfenwerdens nähert, die doch alles grundiert.
Und dann taucht er endlich einmal länger auf, der künftige Ehemann, das jetzt alternde Du als junger Student. Norah erzählt ihm, als ob er das nicht selber wüsste, noch einmal, wie sie sich kennengelernt, verloren und wiedergefunden haben. So als bekäme das alles jetzt, in Verbindung mit Katherines Geschichte, eine andere Bedeutung.
Man ist nicht ganz sicher, ob er wirklich noch zuhört – aber er müsste nach der Vorgeschichte ermessen können, was für ein außerordentlich guter Mann er ist. Und was für eine unwahrscheinliche Wendung eine so gemütlich verlotternde Ehe bedeutet, wenn man so nahe an der Selbstvernichtung war. Ein äußerst pragmatisches und märchenhaft friedliches Happy End.
Anne Enright: Die Schauspielerin. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag, München 2020. 304 Seiten, 22 Euro.
Auf einmal geht es,
ohne dass das Wort fällt,
um Sex
Eine so gemütlich verlotternde
Ehe ist eine sehr
unwahrscheinliche Wendung
„Sie sagte, ich sei vom Tag ihrer Geburt an in sie eingebettet gewesen wie eine kleine Matrjoschka“: Anne Enright schildert eine Mutter-Tochter-Beziehung, so innig wie hier bei Yvonne de Carlo und Beverly Simmons.
Foto: getty Images
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„Ich werde vom Blick meiner Mutter gehalten“
Hollywood, Irland, Butter, Alkohol: Anne Enrights opulenter Roman „Die Schauspielerin“ erzählt
von zwei Überlebewesen und der Erfahrung des Unterworfenseins
VON CLAUDIA TIESCHKY
Katherine O’Dell, die irische Hauptperson des Romans, kann mit jeder Diva aus Hollywood mithalten. Sie hat ja selber da Karriere gemacht und ist schon am Frühstückstisch ein Star – eine Frau, die gern Biografien von Diktatoren liest und die Yellow Press einlädt, wenn sie in ihrem männerlosen Haushalt eine der ersten Geschirrspülmaschinen Irlands anschafft. Doch auch die Beziehung von Katherine und ihrer Tochter ist ganz und gar unvergleichlich. Wir erfahren es von der Tochter, die diese Geschichte erzählt und sich langsam an eine verdrängte Vergewaltigung heranarbeitet.
Das Verhältnis der beiden hat eine Qualität, die Mütter und Töchter selten erreichen. Es geht ohne jede Rivalität, ohne größere gegenseitige Verletzungen, ohne Vorwürfe oder böse Dramen. An dem Tag, „als sie in die Welt geschossen kam, steckte ich in ihr, als winzige Eizelle“, weiß Norah zu berichten. „Sie sagte, ich sei vom Tag ihrer Geburt an in sie eingebettet gewesen wie eine kleine Matrjoschka“. Das ist wunderschön. Und ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Aber wahr muss eine Geschichte ja nicht sein, um erzählt zu werden. Sogar wenn die Tochter schildert, wie sich die Mutter mit 45 Jahren noch einmal für die Fotografen in das spektakuläre Kleid wirft, bei dem die Nähte fast über den Röllchen platzen, klingt Bewunderung mit und Zärtlichkeit. Keine verrät hier die andere. Insofern ist „Die Schauspielerin“ ein feministisches Buch.
Viele Jahre nach Katherines Tod klingelt bei Norah eines Tages die Journalistin Holly Devane. Norah ist Schriftstellerin, aber auch eine öffentliche Tochter: „Seit dem Tod meiner Mutter habe ich fünf Romane geschrieben, alle wurden beworben mit dem Satz ‚von der Tochter von Katherine O’Dell’. Ich kann mich nicht beschweren, denn es ist einfach wahr.“ Holly Devane, die „nicht so auf Männer“ steht, will ein Buch über Katherine schreiben.
Norahs Blick ist sofort zur Denunziation bereit („ihre blühende, der Dummheit so nahe Intelligenz“), aber Holly setzt sich ihm aus. Und sie wirft, bestimmt nicht ohne tiefere Absicht, die wichtigste Frage auf in puncto Katherine.
Auf einmal jedenfalls geht es, ohne dass das Wort fällt – um Sex. Allerdings um Sex, den es gar nicht gibt, so wie es Norahs Vater nicht gibt, um Sex als hartnäckig verschwiegene Erfahrung. Aber wie konnte das sein? War es Vergesslichkeit? Hat nicht jedes Kind einen Vater, so schön man ihm auch die Matrjoschka-Sache erzählt, als wäre es eine Jungfernzeugung gewesen? Und plötzlich will Norah es selber herausfinden und nicht Holly überlassen. In der Küche hantiert sie so lange gefährlich mit dem Geschirr, bis ihr Mann sagt, sie solle das verdammte Buch doch selber schreiben.
„Warum schreibst du das verdammte Buch nicht selbst?“, wäre bei Anne Enright dann der nächste Satz, denn ihr Lieblingsstilmittel besteht darin, dass sie etwas erzählt und dann ein wörtliches Zitat hinterherschiebt, in dem das Erzählte noch einmal gesagt wird. Das Verfahren ähnelt – schließlich ist Katherine ein Kinostar – dem Moment im Film, wenn eine Stimme aus dem Off spricht und das Erzählte dann in eine Szene übergeht. Neben dieser quasi-cineastischen Fertigkeit beherrscht Anne Enright ganz unglaubliche Vergleiche („An jenem Tag klapperte ihre Verrücktheit vor sich hin wie der Deckel eines Topfes mit kochendem Wasser.“) und schlagkräftige Sätze („Meine Mutter hatte ihre Kindheit umgeschrieben und dann die Originalfassung verloren.“). Warum schreibst du es nicht selbst, fragt also Norahs Mann, und die Erzählerin liefert und packt die Geschichte ihrer Mutter auf den Tisch und dazu fast ein Jahrhundert englische und irische Zeitgeschichte: die Kindheit mit den Eltern bei einer Wander-Theatertruppe, Flair und Repression der Hollywood-Studios und am Schluss noch die IRA, mit deren Sympathisanten Katherine Kontakt hält, eine Art radical chic – wenn demonstriert wird, dann mit Hausfrauenkopftuch von Hermès.
Gegen Ende ihrer Karriere avanciert Katherine dank eines heroischen Werbespots für Butter zu einer irischen Symbolfigur. Diese Frau ist eine Kämpferin, und ihre Tochter sieht alle ihre Schwächen, liegt ihr aber zu Füßen. Wenn Katherine endlich einmal von den vielen Reisen in ihr großes Haus zurückkommt, rollen sie sich beide gemütlich auf dem Sofa zusammen. Es ist eine Schutzzone, die Katherine mit ihrem Geld gebaut hat.
Adressat dieser Erzählung ist der Ehemann, das Du, zu dem Norah spricht, aber das die Autorin Anne Enright über weite Teile so kalt lässt, dass sie es komplett vergisst. Diese sehr sporadische Rahmenerzählung ist nicht besonders überzeugend, liefert aber erst einmal die Mechanik, mit der Katherines Herkunft und ihr Leben bis zum Tod mehr oder weniger lückenlos dargestellt wird.
Gleich in der ersten Szene ist sie der Mittelpunkt der Party aus Anlass von Norahs Volljährigkeit, und alles, was später noch kommt, klingt hier schon an: der ganze „glamouröse Haufen“, Theaterleute, die Dubliner Intellektuellen vom Rundfunk und von der Universität, eine Gesellschaft trinkfester Männer, die aber auch etwas Lauerndes haben, der anzügliche Niall Duggan („er war stets derjenige, mit dem ich reden wollte“, sagt Norah), Hughie Snell vom Fernsehen und Boyd O’Neill, den Katherine später in den Fuß schießen wird, der dann amputiert wird, aber da ist sie schon verrückt geworden, da hat der böse Niedergang begonnen.
Das liest sich alles flott weg, führt prachtvoll farbig geschrieben über die Frage hinweg, was der Grund für diese schnürsenkelgerade Erzählung ist. Warum sich Norah und Katherine eigentlich so nahe stehen, wo sie so verschieden sind. Woher kommt diese Einigkeit zwischen der Schauspielerin, die kein einziges Paar flacher Schuhe besitzt und ihrer viel sachlicheren Tochter, die über das Foto ihres einundzwanzigsten Geburtstags sagt: „Ich werde vom Blick meiner Mutter gehalten.“ Warum keine Abgrenzung, keine Rebellion?
Das ist verwirrend, und das erklärt Anne Enright nicht. Sie erzählt (und Eva Bonné übersetzte) einfach sehr viel und sehr gekonnt. Da fragt man nicht mehr lange, sondern schwelgt mit ihr in der Opulenz der Geschichte, Hollywood, Irland, Butter, Alkohol.
Aber irgendwann führt die Übereinstimmung von Mutter und Tochter, an der einfach nichts falsch werden will, in eine wachsende Beklemmung hinein. Denn in Norahs Erzählton schwingt nicht nur gut geschulte Boshaftigkeit mit, sondern auch eine rätselhafte Aggression. Es gibt etwas, das Mutter und Tochter verbindet, das ist die vergrabene Erinnerung von sich selbst als Opfer. Sie erweisen sich als ein und dasselbe Überlebewesen. Denn unter der schönen Oberfläche gibt es in diesem Leben eine andere Wahrheit, die mit tief internalisierter sexueller Gewalt gegen Frauen zu tun hat.
Ohne zu viel zu verraten, läuft am Ende alles auf eine lange zurückliegende Vergewaltigung hinaus, und das Besondere ist, wie Enright diese Geschichte aus der Opferperspektive aufrollt, wie sie sich diskret und fast beiläufig der Erfahrung des gewaltsamen Unterworfenwerdens nähert, die doch alles grundiert.
Und dann taucht er endlich einmal länger auf, der künftige Ehemann, das jetzt alternde Du als junger Student. Norah erzählt ihm, als ob er das nicht selber wüsste, noch einmal, wie sie sich kennengelernt, verloren und wiedergefunden haben. So als bekäme das alles jetzt, in Verbindung mit Katherines Geschichte, eine andere Bedeutung.
Man ist nicht ganz sicher, ob er wirklich noch zuhört – aber er müsste nach der Vorgeschichte ermessen können, was für ein außerordentlich guter Mann er ist. Und was für eine unwahrscheinliche Wendung eine so gemütlich verlotternde Ehe bedeutet, wenn man so nahe an der Selbstvernichtung war. Ein äußerst pragmatisches und märchenhaft friedliches Happy End.
Anne Enright: Die Schauspielerin. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag, München 2020. 304 Seiten, 22 Euro.
Auf einmal geht es,
ohne dass das Wort fällt,
um Sex
Eine so gemütlich verlotternde
Ehe ist eine sehr
unwahrscheinliche Wendung
„Sie sagte, ich sei vom Tag ihrer Geburt an in sie eingebettet gewesen wie eine kleine Matrjoschka“: Anne Enright schildert eine Mutter-Tochter-Beziehung, so innig wie hier bei Yvonne de Carlo und Beverly Simmons.
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»Enrights Verständnis von den vielfältigen Schattierungen eines Charakters ist umfassend, und ihr blitzender Stil (den Eva Bonné hervorragend ins Deutsche übertragen hat) lässt einen beim Lesen manchmal regelrecht aufjubeln.« Spiegel online, Claudia Voigt
»Eine hellsichtig-wütende Liebeserklärung an die Mutter.« Der Tagesspiegel