Natalie Zemon Davis ist mit ihren Arbeiten zur Historischen Anthropologie für eine ganze Generation von Forscherinnen und Forschern zum Vorbild geworden. In dieser meisterhaften Studie beschreibt sie die alles überragende Macht der Geschenke im frühneuzeitlichen Frankreich und entwickelt eine Theorie des Schenkens in der Moderne. Ein Ausblick auf die immer noch mächtige Rolle von Geschenken in der Gegenwart - man denke nur an Korruption und an Seilschaften - beschließt den Band.
Natalie Zemon Davis erforscht mit ethnologischem Blick die französische Gesellschaft der Renaissance / Von Martin Mulsow
Es gibt bei Rabelais eine Episode, in der Gargantua von seinem Vater Grandgousier und dessen Begegnung mit dem Piratenkönig der Kanarischen Inseln erzählt. Als Grandgousier den König besiegt hatte, warf er ihn nicht etwa ins Gefängnis und erpreßte ihn nicht auf Lösegeld hin, sondern überhäufte ihn mit Geschenken und Gunstbeweisen und schickte ihn zurück in sein Land. Von dieser Großmut bewegt, setzte sich der Piratenkönig mit seinen Beratern zusammen, um zu überlegen, wie die Geschenke ähnlich vergolten werden konnten. Schließlich boten sie Grandgousier das ganze Königreich der Kanaren an und dazu neuntausend Schiffe voll Gold und Silber.
Man ist versucht, sich den französischen Anthropologen Marcel Mauss als Feldforscher und Beobachter dieser Szene vorzustellen. Mauss war nicht auf den Kanaren, hat aber die polynesischen Maori in ihren Praktiken untersucht, Geschenke auszutauschen. Seine Beobachtung gleicht dem, was Rabelais schildert. So schreibt Mauss in seinem klassisch gewordenen Buch "Die Gabe" von 1925: "In vielen Kulturen finden Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen."
Natalie Zemon Davis ist nicht die erste, die die Thesen von Mauss nach Europa zurückbringt. Schon seit einiger Zeit haben Historiker und Soziologen entdeckt, daß in der "Reziprozität" von "Geschenksystemen" ein anthropologischer Schlüssel vergangener Gesellschaftsstrukturen liegt. Mauss selbst hat eine evolutionäre Perspektive angedeutet: Aus Geschenkbeziehungen in frühen Gesellschaften wurden die kommerziellen und vertraglichen Beziehungen, die heute das Leben dominieren. Doch wann war der Übergang? Ist das frühneuzeitliche Europa in diesem Sinne schon modern oder noch altertümlich?
Die These der amerikanischen Historikerin ist, daß im Frankreich des sechzehnten Jahrhunderts Geschenke noch einen wesentlichen Teil der konnektiven Strukturen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft geprägt haben, daß daneben aber auch schon die Verhaltensmodi von Kaufen, Verkaufen und auch von Zwang existierten. Diese Austauschbeziehungen überlagern sich, ohne daß deutlich eine Entwicklungsrichtung auszumachen wäre. In der Beobachtung dieser Vielfalt und dieser Überlagerungen liegt denn auch der Reichtum des Buches. Und sein Handicap: Dieser Stoff läßt sich nicht so gut erzählen wie die Geschichte von Martin Guerre und andere Episoden, durch die Davis berühmt geworden ist. Die ersten Kapitel des Buches ermüden zuweilen durch das Aneinanderreihen von Details.
Am Beginn steht der Rhythmus des Schenkens im Lauf des Jahres und im Kreis von Verwandtschaft und Nachbarschaft. Umherziehende Kinder, die zu bestimmten Tagen Präsente erbitten, mildtätige Gaben an die Armen, Buchgeschenke zum Neujahrstag, Heiratsgaben, Nachbarschaftshilfe - die Welt der Geschenksysteme scheint unerschöpflich. Interessant wird es in dem Moment, in dem Davis über "fehlgehende" Geschenke, über Bestechung und politische Beziehungen redet. Denn wie hat der Bereich des Schenkens reagiert, als die Märkte sich ausgedehnt haben? Ist er zurückgedrängt worden und hat Löcher in den sozialen Beziehungen hinterlassen? Nein, nach Davis hat er flexibel reagiert. Ein Buch beispielsweise konnte Handelsware sein, aber auch Geschenk, Erbe und Vermächtnis. Königliche Beamte erhielten Schenkungen von Geld, aber auch von Gewändern oder Land. Kaum noch zu sagen, wo bei Schenkungen, die Freundschaften und die Verpflichtung zur Dankbarkeit schufen, Bestechung anfing und wo nicht. Juristen wie Jean Bodin haben versucht, eine Schneise durch diesen Dschungel zu schlagen.
Davis spricht viel von den emotionalen Kosten des Schenkens. Wie haben die Individuen aus ihrer eigenen Perspektive eine Welt, die auf sozialen Reziprozitäten und Ehre gegründet war, empfunden? War es nicht auch eine Belastung, in den nie endenden Kreislauf von Gaben und Gegengaben eingezwängt zu sein? So klagt Michel de Montaigne: "Ich finde, nichts kommt mich so teuer zu stehn wie das, was mir geschenkt wird und wofür mein Wille mit einer Dankesschuld belastet bleibt." Aus dieser Sicht erscheint die Ablösung von Geschenksystemen durch kommerzielle Verträge als Emanzipation. Ein Vertrag ist nüchtern und begrenzt, er benötigt keinen emotionalen Aufwand.
Und er zeitigt vielleicht nicht so desaströse Folgen, wie wenn ein Geschenk falsch ankommt. Das konnte zu Kleinkriegen zwischen Familien oder ganzen Familienverbänden führen. Was für die Franzosen nur "Nebengeschenke" waren, die man zu Hause benutzte, um etwas Vertrauen zu schaffen, etwa Messer oder Glasperlen, wurden im bewußten Mißverstehen zwischen ganz unterschiedlichen kulturellen Geschenksystemen "Hauptgeschenke". Da es "nur" Indianer waren, funktionierten die üblichen Mechanismen von Anstand und Ehrgefühl nicht, die sonst für eine vollgültige Erstattung sorgten.
Das ist der große Vorteil einer Beobachtung aus der engen Perspektive des Schenkens und auch die Stärke des Buches: Von hier aus ergeben sich überraschende Einsichten in Themenbereiche, die inzwischen reichlich mit Forschung bedacht worden sind. So zur frühneuzeitlichen Geschichte der Frauen, wenn ihre Eingeschlossenheit in Verpflichtungen sichtbar wird, bei der sie kaum je diejenigen sind, die dabei profitieren. Oder zur Theologie der Reformationszeit.
Denn die Sprache von Gabe und Geschenk betraf auch die Religion. "Im Grunde waren die religiösen Reformationen des sechzehnten Jahrhunderts ein Streit um Geschenke." Damit ist gemeint, daß die Frage, ob Menschen Gott etwas vergelten und ihn zu etwas verpflichten können, die Konfessionen gespalten hat. Und in der Tat wird die calvinistische Loslösung aus den traditionellen katholischen Vorstellungen von wechselseitigen Verpflichtungen in selten plastischer Weise deutlich. Keine Verpflichtung für Gott sollte es mehr geben, auf Opfer mit Versöhnung zu reagieren. "Das Himmelreich ist nicht ein Lohn für Knechte, sondern ein Erbe für Kinder." Begriffe wie Adoption, Erbe und Bund, die aus den Erfahrungen des Familienlebens heraus zu verstehen waren, sollten helfen, aus den Fallen des Reziprozitätsdenkens herauszuführen. Die calvinistische Abendmahlslehre bekommt hier, durch sorgfältige historische Semantik und kulturelle Einbettung, ihren Hintergrund an Alltagskultur zurück.
Dieses Kapitel ist sicherlich eines der stärksten im Buch. Es läßt erkennen, wie historische Anthropologie bis weit hinein in die "elitären" Disziplinen wie Theologie und Philosophie Verständnismöglichkeiten eröffnet. Der Gabentausch ist sowohl Teil der symbolischen Kultur einer Epoche als auch ihrer materiellen Kultur. Das Thema der Gabe hat das Potential, der Kulturwissenschaft auf die Sprünge zu helfen. Man kann verstehen, daß dieses Buch seine Autorin über zwanzig Jahre immer wieder beschäftigt und nie losgelassen hat. Es erzählt keine spannende Fallgeschichte, mit der sich schnell fertig werden ließe. Es ist vielmehr das Aufblättern eines ganzen Straußes von Themen, die alle in sich keimhaft Erzählungen bergen. Und alle einen ungewohnten Blick auf scheinbar Vertrautes freigeben.
Natalie Zemon Davis: "Die schenkende Gesellschaft". Zur Kultur der französischen Renaissance. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Kaiser. Verlag C. H. Beck, München 2002. 234 S., 23 Abb., br., 24,90
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Volker Reinhardt hat mit Interesse die Studie der Ethnologin Natalie Davis über die "schenkende Gesellschaft" im Frankreich des 16. Jahrhunderts gelesen. Das Buch gleiche einem "Almanach des Gebens und Nehmens" im Ancien Regime. Die Autorin verfolge das als "soziale Kunst verstandene" Schenken quer durch alle Stände und begreife auch Belohnungen wie kirchlichen Ablass als untersuchenswerte Geschenkformen. Einwände formuliert Reinhardt gegen das methodisch-theoretische Konzept der Autorin. Die zugrunde liegende ethnologische Perspektive vermöge es nicht, eine etwaige "besondere französische Art des Schenkens im 16. Jahrhundert" deutlich herauszufiltern. Weiterhin fehlt Reinhardt der sozialhistorische Blick auf den instrumentellen Charakter von Geschenken und Freundschaft, "ein Grundelement der profitablen Patronage-Beziehungen im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts". Ergiebiger wäre für Reinhardt folglich eine Analyse "der vielen amüsanten, lehrreichen und auch verblüffenden Geschenkgeschichten" nach sozialen Gesichtspunkten gewesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH