Dies ist die Geschichte von Eugen Althager, einem Intellektuellen und Außenseiter im Wien Anfang der dreißiger Jahre. Althager ist arbeitslos, und wir erleben seinen Kampf und seinen Abstieg - zusammen mit dem Verfall der bürgerlichen Kultur in Österreich. Denn die soziale und politische Lage ist äußerst gespannt: Ein Generalstreik bricht unter den Waffen der Staatsgewalt zusammen, jüdische Mitbürger werden auf offener Straße drangsaliert.
Ein äußerst farbiges, gedankenreiches und künstlerisch durchgearbeitetes Werk: voller Eindrücke aus den großen Caféhäusern Wiens, mit Großstadtszenen und einer Reihe eindrucksvoller Frauenfiguren. Althager wird durch die Zeitläufte in seine jüdische Identität förmlich hineingezwungen, und er zerbricht an diesem Prozess.
»Die Schiffbrüchigen« ist das spannende, weil subversive Gegenmodell zum Bildungsroman. Geschichte einer verratenen Freundschaft und Künstlerroman, enthält dieser Text schon alle gedanklichen Komplexe, die später Amérys Werk so einzigartig machten.
Ein äußerst farbiges, gedankenreiches und künstlerisch durchgearbeitetes Werk: voller Eindrücke aus den großen Caféhäusern Wiens, mit Großstadtszenen und einer Reihe eindrucksvoller Frauenfiguren. Althager wird durch die Zeitläufte in seine jüdische Identität förmlich hineingezwungen, und er zerbricht an diesem Prozess.
»Die Schiffbrüchigen« ist das spannende, weil subversive Gegenmodell zum Bildungsroman. Geschichte einer verratenen Freundschaft und Künstlerroman, enthält dieser Text schon alle gedanklichen Komplexe, die später Amérys Werk so einzigartig machten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2007Sein Leben davor
Dreißig Jahre nach seinem Tod erscheint Jean Amérys erster Roman "Die Schiffbrüchigen"
Fast ein Lebensalter lang war dieses Buch verloren. Zunächst schien es, im Krieg, zerstört für immer, dann tauchte es in einer Wiener Manuskriptvermittlung wieder auf. Danach war es die ganze Hoffnung des von einem Leben als Schriftsteller träumenden Jean Améry, der damals noch Johannes Mayer hieß, und schließlich seine große Enttäuschung, weil niemand auch nur halb so viel davon hielt wie er selbst. So wurde es von allen vergessen und irgendwann, in den Jahren nach seinem Tod vor beinahe dreißig Jahren - ein Gerücht: der erste Roman von Jean Améry, dem großen Essayisten, dem verbitterten Kämpfer, dem Zürnenden, dem überlebenden Juden aus den KZs des Krieges. Der Roman, mit dem alles begann, veröffentlicht jetzt, endlich, zweiundsiebzig Jahren nach seinem Entstehen: "Die Schiffbrüchigen". Es ist kaum zu glauben.
Der ganze spätere Améry ist schon darin, der Kämpfer gegen alle Widerstände, der Beharrende auf der Möglichkeit des Selbstmords als Flucht und Weg ins Freie, als selbstbestimmte Möglichkeit, das Leben zu beenden, als Ausdruck der Humanität, als letzter Akt der Freiheit. Der Jude Améry ist darin, der, katholisch erzogen, erst unter der herannahenden Nazi-Herrschaft sich langsam seines Jüdisch-Seins bewusst wird, es stolz zu tragen sich bemüht. Der Selbstüberwinder schließlich. Ganz nach dem Vorbild Thomas Mann, der junge, wälderliebende, dunkel-romantische Schwarmgeist, Mystiker und Schopenhauerianer, der, als er erkennt, dass die neuen Mächtigen, die Nazis, sich dieser deutschen Tradition bemächtigen, sie zu ihrer eigenen verfälschen und verhunzen, zu "spottschlechter Romantik" wie Thomas Mann das nannte, der sich also unter dem Eindruck der neuen Zeit gewaltsam abwendet von allem, was ihm heilig war, von Romantik, Wärme, Irrationalität, und gewaltsam hinüberrettet in die Welt der Aufklärung, der Klarheit und des Zynismus. Ja, und die Liebe zu Thomas Mann, zu seinem Werk, die Bewunderung für seinen geistigen, politischen Werdegang ist darin, auf beinahe jeder Seite. Eine rührende Gefolgschaft des jungen Dichters. Der Nobelpreisträger ist für den Protagonisten des Romans "einer, dessen Namen auszusprechen ihm auch in diesen Tagen noch manchmal Verlangen wurde, dessen Initialen er öfter im Café auf die Tischplatte kritzelte, um dann seltsam beruhigt auf das Buchstabenbild zu starren: Th. M.".
Der Brief von Thomas Mann
Er hat dem Vergötterten das Manuskript damals zugeschickt. Und Thomas Mann hat geantwortet. Der Inhalt war enttäuschend zwar, aber die Antwort schon allein war für den jungen Traumschriftsteller ein unglaubliches Glück: "Haben Sie bitte Nachsicht mit meinen nicht für alles ausreichenden Kräften und wenden Sie sich doch in Ihrer Stadt an jemanden. Es gibt dort Robert Musil, einen feinsten Künstler und Kenner." So tat er es, und Musil las, und Améry erinnerte sich später, dieser habe ihm geantwortet, "dass dieser Roman recht begabt sei, wenn er auch noch gewisse Unreifen zeige".
Da hatte Musil recht. Sprachlich ist der Frühroman des damals 22-Jährigen unbedenklich schwelgerisch, vor allem in den Liebesszenen schwülstig und pubertär "Brustknospen"-fasziniert. Und auch bedeutungsheischende altmodische Sprachformen wie etwa ein beharrlich wiederholtes "frug" statt "fragte", das auch in den dreißiger Jahren nicht üblich war, nehmen dem Text viel von seiner Eleganz, die doch immer wieder aufleuchtet und schon auf den späten Améry verweist. Nein, es ist kein Meisterwerk, das hier aus dem Verborgenen an den Tag gelegt wurde. Aber es ist ein beeindruckender Roman aus der Zeit, als das große Unglück begann, aus den Jahren 1933 und 1934 in Österreich, als der neue Geist langsam und kaum merklich zunächst, aber dann immer gewaltsamer ins tägliche Leben eingriff und schließlich alles veränderte.
Es ist die Geschichte Eugen Althagers, der alle Züge des Autors Mayer trägt. 1912 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren, der Vater fiel im Krieg, die Mutter erzog den Jungen im katholischen Glauben. Jetzt, als die Geschichte einsetzt, beginnt er ein "Schiffbrüchiger" zu werden. "Ich resümiere, dachte er: Eugen Althager, ein Mensch, deutscher, Jude, Katholik, schwach geboren. Vielleicht durch irgend einen Zufall während des Zeugungsaktes, durch ein falsches Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft, untauglich hineingeboren in eine Welt, deren Zufallsgeschichte es gefügt hatte, dass gerade die Jahre, deren Zeit das Leben Eugen Althagers erfüllte, außerordentliche Anforderungen stellte, an die Lebenssubstanz."
Anforderungen, denen Althager nicht gewachsen ist. Er ist arbeitslos, will auch nichts arbeiten, er will denken, Großes denken, seine Freundin bezahlt ihm seine Wohnung, sein Leben. Einmal druckt eine Zeitung ein Gedicht von ihm. Zum Leben reicht das alles nicht. Er ist ein Bohemien, der die Welt zerdenkt bis auf den letzten Grund, der aber seine Bohemehaftigkeit nicht recht genießen kann, weil ihm das Geld dazu fehlt. Jeder Kaffeehausbesuch muss eisern erspart werden, jeder Ausflug aufs Land kostet ihn ein kleines Vermögen. Dann verlässt ihn seine Freundin, in Deutschland weht der neue, eisige Wind, und auch in Österreich wird der Faschismus stark und stärker. Vieles ahnt dies Buch voraus: dass es zum Krieg kommen wird, schon bald, dass dieser Krieg alles zerstören wird, Europa, das Europa des Geistes und das der Wirklichkeit. Dass seinesgleichen wie Ungeziefer zerdrückt werden wird, ahnt Eugen Althager auch, und mit ihm ahnt es sein Erfinder.
Aber immer ist er nur zu leisem Widerstand bereit. Innerer Widerstand, ohne Wirkung, ohne Zweck. Ein Widerstand gegen die ganze Zeit, ein Alles-Wollen und Nichts-Erreichen, das ist das Drama des Eugen Althager in den Jahren, in denen das Unglück beginnt. Manifest wird all das in Österreich im Februar 1934, als der Aufstand der Arbeiter vom Dollfuß-Regime niedergeknüppelt wird. Es ist eine Abrechnung mit sich selbst, wenn er über dieses entscheidende Datum schreibt: "Wer in diesem Februar nicht Recht hatte waren: die Wissenden, die Stillen und Zögernden, denen ihr Denken zum Verderben geworden war, wer unrecht hatte, waren die Armen, Hungernden und nun zu spät Heroischen." Unrecht für immer. Von der Geschichte besiegt.
Doch es soll nicht beim heroischen Schweigen, heroischen Wissen bleiben. Es kommt der Durchbruch des Denkers zur Tat. Aber vorher noch: die große Scham. Es ist der bewegendste Abschnitt des Buches, als Eugen Althager auf einer Trambahnfahrt einen stiernackigen Deutschnationalen lauthals als stiernackigen Deutschnationalen beschimpft. Und jener Kraftmeier der neuen Zeit wendet sich unserem schmalen Denker zu, bittet ihn hinaus aus der Trambahn, fragt, ob er Akademiker sei, Eugen lügt schnell: "Ja". Dann folgt die andere Frage: "Sind Sie Arier?" In diesem Moment leuchtet ein ganzes Leben auf, ein Zeitalter, ein Moment, der alles birgt, das Schicksal Amérys, die ganze Wahrheit. Dieser Moment - es geht ganz offensichtlich darum, dass der Stiernacken ihn zum Duell fordern will, ein Jude aber wäre nicht satisfaktionsfähig. Alle sehen zu, warten, was der schmale Angreifer sagen wird, er errötet, zögert, all der frischerworbene, mühsame Stolz auf sein Judentum wird in diesem Moment zu nichts. "Und er schrie: Natürlich! dann sagte er noch ohne Zusammenhang: Sie werden schon sehen." Améry schreibt: "Ach, nun war alles vorbei. Die schöne und noble Entrüstung des adeligen Menschen wider den stierschädeligen Emporkömmling war nur das traurige Ressentiment Eines, der nicht mitmachen durfte." Und also verleugnet er sein Judentum. Das Duell, das nun folgt, plant er eigentlich erneut, durch Feigheit zu überstehen. Sich wehrlos geben, dann wird selbst das Nazi-Vieh Mitleid haben. Doch Eugen entschließt sich zum Kampf, er ficht wie wild, und natürlich ist dies sein Untergang. Der schmale Geist hat keine Chance gegen das Leben, den Stiernacken, den Nazi.
Der Stiernacken in der Tram
Dem Leser von heute stockt der Atem, wenn er das liest. Weil er ja das Schicksal kennt, das Améry wenige Jahre nach Vollendung des Romans erlitt. Die Flucht nach Belgien zunächst, die Verhaftung als feindlicher Ausländer, Inhaftierung, Flucht, Mitglied in einer Widerstandsgruppe, dann erneute Inhaftierung durch die SA, seine Identifizierung als Jude, die Folterungen, denen er widerstand, ohne Aufenthaltsort und Identität seiner Frau zu verraten, der erste Selbstmordversuch aus Angst vor sich selbst, vor einem möglichen Verrat unter den Qualen der Folter. Die Zeit in den KZs dann und die Befreiung schließlich, als völlig Abgemagerter. Es gab eine kurze Erlösung und dann gleich die Nachricht, dass seine Frau, der es den ganzen Krieg über gelungen war, sich zu verstecken, fünf Tage vor seiner Befreiung an Herzversagen gestorben war.
Améry zog sich zurück. Er hegte den Wunsch nach Rache, der sich als Ressentiment gegen die Deutschen, die Vergangenheit, Romantik und Mystik in ihm festsetzte. Glänzend waren seine Essays über seine Gefangenschaft, sein Leben, über das Alter und die Freiheit zum Selbstmord.
Am Ende des Buches wird Eugen Althager auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt. 44 Jahre später wird am selben Ort sein Erfinder zu Grabe getragen. Er hatte sich umgebracht, wie er es früh schon als letzten Akt der Freiheit angekündigt hatte: "Ihm war der seit der frühen Kindheit geläufige, grenzsetzende Gedanke an den Selbstmord Halt und Rechtfertigung", heißt es im Roman. Und im Leben, 1976, kurz nachdem er sein Buch über den Selbstmord veröffentlicht hatte, hat er auf die Frage eines Journalisten, warum er sich nicht einfach umbringe, statt gelehrte Bücher darüber zu schreiben, geantwortet: "Nur Geduld." Zwei Jahre später hat er sich, bei einem seiner wenigen Ausflüge zurück in die Heimat, in einem Salzburger Hotel das Leben genommen. Auf seinem Grabstein stehen nur sein neuer, französischer Name und seine Häftlingsnummer von Auschwitz.
Heute können wir zurückgehen, das Werk der Hoffnung, den Roman nachlesen. Alles hätte anders kommen können. Diese tragische Ahnung vermittelt die Lektüre dieses ergreifenden Romans.
VOLKER WEIDERMANN
Jean Améry: "Die Schiffbrüchigen". Klett-Cotta-Verlag, 2007. 330 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dreißig Jahre nach seinem Tod erscheint Jean Amérys erster Roman "Die Schiffbrüchigen"
Fast ein Lebensalter lang war dieses Buch verloren. Zunächst schien es, im Krieg, zerstört für immer, dann tauchte es in einer Wiener Manuskriptvermittlung wieder auf. Danach war es die ganze Hoffnung des von einem Leben als Schriftsteller träumenden Jean Améry, der damals noch Johannes Mayer hieß, und schließlich seine große Enttäuschung, weil niemand auch nur halb so viel davon hielt wie er selbst. So wurde es von allen vergessen und irgendwann, in den Jahren nach seinem Tod vor beinahe dreißig Jahren - ein Gerücht: der erste Roman von Jean Améry, dem großen Essayisten, dem verbitterten Kämpfer, dem Zürnenden, dem überlebenden Juden aus den KZs des Krieges. Der Roman, mit dem alles begann, veröffentlicht jetzt, endlich, zweiundsiebzig Jahren nach seinem Entstehen: "Die Schiffbrüchigen". Es ist kaum zu glauben.
Der ganze spätere Améry ist schon darin, der Kämpfer gegen alle Widerstände, der Beharrende auf der Möglichkeit des Selbstmords als Flucht und Weg ins Freie, als selbstbestimmte Möglichkeit, das Leben zu beenden, als Ausdruck der Humanität, als letzter Akt der Freiheit. Der Jude Améry ist darin, der, katholisch erzogen, erst unter der herannahenden Nazi-Herrschaft sich langsam seines Jüdisch-Seins bewusst wird, es stolz zu tragen sich bemüht. Der Selbstüberwinder schließlich. Ganz nach dem Vorbild Thomas Mann, der junge, wälderliebende, dunkel-romantische Schwarmgeist, Mystiker und Schopenhauerianer, der, als er erkennt, dass die neuen Mächtigen, die Nazis, sich dieser deutschen Tradition bemächtigen, sie zu ihrer eigenen verfälschen und verhunzen, zu "spottschlechter Romantik" wie Thomas Mann das nannte, der sich also unter dem Eindruck der neuen Zeit gewaltsam abwendet von allem, was ihm heilig war, von Romantik, Wärme, Irrationalität, und gewaltsam hinüberrettet in die Welt der Aufklärung, der Klarheit und des Zynismus. Ja, und die Liebe zu Thomas Mann, zu seinem Werk, die Bewunderung für seinen geistigen, politischen Werdegang ist darin, auf beinahe jeder Seite. Eine rührende Gefolgschaft des jungen Dichters. Der Nobelpreisträger ist für den Protagonisten des Romans "einer, dessen Namen auszusprechen ihm auch in diesen Tagen noch manchmal Verlangen wurde, dessen Initialen er öfter im Café auf die Tischplatte kritzelte, um dann seltsam beruhigt auf das Buchstabenbild zu starren: Th. M.".
Der Brief von Thomas Mann
Er hat dem Vergötterten das Manuskript damals zugeschickt. Und Thomas Mann hat geantwortet. Der Inhalt war enttäuschend zwar, aber die Antwort schon allein war für den jungen Traumschriftsteller ein unglaubliches Glück: "Haben Sie bitte Nachsicht mit meinen nicht für alles ausreichenden Kräften und wenden Sie sich doch in Ihrer Stadt an jemanden. Es gibt dort Robert Musil, einen feinsten Künstler und Kenner." So tat er es, und Musil las, und Améry erinnerte sich später, dieser habe ihm geantwortet, "dass dieser Roman recht begabt sei, wenn er auch noch gewisse Unreifen zeige".
Da hatte Musil recht. Sprachlich ist der Frühroman des damals 22-Jährigen unbedenklich schwelgerisch, vor allem in den Liebesszenen schwülstig und pubertär "Brustknospen"-fasziniert. Und auch bedeutungsheischende altmodische Sprachformen wie etwa ein beharrlich wiederholtes "frug" statt "fragte", das auch in den dreißiger Jahren nicht üblich war, nehmen dem Text viel von seiner Eleganz, die doch immer wieder aufleuchtet und schon auf den späten Améry verweist. Nein, es ist kein Meisterwerk, das hier aus dem Verborgenen an den Tag gelegt wurde. Aber es ist ein beeindruckender Roman aus der Zeit, als das große Unglück begann, aus den Jahren 1933 und 1934 in Österreich, als der neue Geist langsam und kaum merklich zunächst, aber dann immer gewaltsamer ins tägliche Leben eingriff und schließlich alles veränderte.
Es ist die Geschichte Eugen Althagers, der alle Züge des Autors Mayer trägt. 1912 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren, der Vater fiel im Krieg, die Mutter erzog den Jungen im katholischen Glauben. Jetzt, als die Geschichte einsetzt, beginnt er ein "Schiffbrüchiger" zu werden. "Ich resümiere, dachte er: Eugen Althager, ein Mensch, deutscher, Jude, Katholik, schwach geboren. Vielleicht durch irgend einen Zufall während des Zeugungsaktes, durch ein falsches Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft, untauglich hineingeboren in eine Welt, deren Zufallsgeschichte es gefügt hatte, dass gerade die Jahre, deren Zeit das Leben Eugen Althagers erfüllte, außerordentliche Anforderungen stellte, an die Lebenssubstanz."
Anforderungen, denen Althager nicht gewachsen ist. Er ist arbeitslos, will auch nichts arbeiten, er will denken, Großes denken, seine Freundin bezahlt ihm seine Wohnung, sein Leben. Einmal druckt eine Zeitung ein Gedicht von ihm. Zum Leben reicht das alles nicht. Er ist ein Bohemien, der die Welt zerdenkt bis auf den letzten Grund, der aber seine Bohemehaftigkeit nicht recht genießen kann, weil ihm das Geld dazu fehlt. Jeder Kaffeehausbesuch muss eisern erspart werden, jeder Ausflug aufs Land kostet ihn ein kleines Vermögen. Dann verlässt ihn seine Freundin, in Deutschland weht der neue, eisige Wind, und auch in Österreich wird der Faschismus stark und stärker. Vieles ahnt dies Buch voraus: dass es zum Krieg kommen wird, schon bald, dass dieser Krieg alles zerstören wird, Europa, das Europa des Geistes und das der Wirklichkeit. Dass seinesgleichen wie Ungeziefer zerdrückt werden wird, ahnt Eugen Althager auch, und mit ihm ahnt es sein Erfinder.
Aber immer ist er nur zu leisem Widerstand bereit. Innerer Widerstand, ohne Wirkung, ohne Zweck. Ein Widerstand gegen die ganze Zeit, ein Alles-Wollen und Nichts-Erreichen, das ist das Drama des Eugen Althager in den Jahren, in denen das Unglück beginnt. Manifest wird all das in Österreich im Februar 1934, als der Aufstand der Arbeiter vom Dollfuß-Regime niedergeknüppelt wird. Es ist eine Abrechnung mit sich selbst, wenn er über dieses entscheidende Datum schreibt: "Wer in diesem Februar nicht Recht hatte waren: die Wissenden, die Stillen und Zögernden, denen ihr Denken zum Verderben geworden war, wer unrecht hatte, waren die Armen, Hungernden und nun zu spät Heroischen." Unrecht für immer. Von der Geschichte besiegt.
Doch es soll nicht beim heroischen Schweigen, heroischen Wissen bleiben. Es kommt der Durchbruch des Denkers zur Tat. Aber vorher noch: die große Scham. Es ist der bewegendste Abschnitt des Buches, als Eugen Althager auf einer Trambahnfahrt einen stiernackigen Deutschnationalen lauthals als stiernackigen Deutschnationalen beschimpft. Und jener Kraftmeier der neuen Zeit wendet sich unserem schmalen Denker zu, bittet ihn hinaus aus der Trambahn, fragt, ob er Akademiker sei, Eugen lügt schnell: "Ja". Dann folgt die andere Frage: "Sind Sie Arier?" In diesem Moment leuchtet ein ganzes Leben auf, ein Zeitalter, ein Moment, der alles birgt, das Schicksal Amérys, die ganze Wahrheit. Dieser Moment - es geht ganz offensichtlich darum, dass der Stiernacken ihn zum Duell fordern will, ein Jude aber wäre nicht satisfaktionsfähig. Alle sehen zu, warten, was der schmale Angreifer sagen wird, er errötet, zögert, all der frischerworbene, mühsame Stolz auf sein Judentum wird in diesem Moment zu nichts. "Und er schrie: Natürlich! dann sagte er noch ohne Zusammenhang: Sie werden schon sehen." Améry schreibt: "Ach, nun war alles vorbei. Die schöne und noble Entrüstung des adeligen Menschen wider den stierschädeligen Emporkömmling war nur das traurige Ressentiment Eines, der nicht mitmachen durfte." Und also verleugnet er sein Judentum. Das Duell, das nun folgt, plant er eigentlich erneut, durch Feigheit zu überstehen. Sich wehrlos geben, dann wird selbst das Nazi-Vieh Mitleid haben. Doch Eugen entschließt sich zum Kampf, er ficht wie wild, und natürlich ist dies sein Untergang. Der schmale Geist hat keine Chance gegen das Leben, den Stiernacken, den Nazi.
Der Stiernacken in der Tram
Dem Leser von heute stockt der Atem, wenn er das liest. Weil er ja das Schicksal kennt, das Améry wenige Jahre nach Vollendung des Romans erlitt. Die Flucht nach Belgien zunächst, die Verhaftung als feindlicher Ausländer, Inhaftierung, Flucht, Mitglied in einer Widerstandsgruppe, dann erneute Inhaftierung durch die SA, seine Identifizierung als Jude, die Folterungen, denen er widerstand, ohne Aufenthaltsort und Identität seiner Frau zu verraten, der erste Selbstmordversuch aus Angst vor sich selbst, vor einem möglichen Verrat unter den Qualen der Folter. Die Zeit in den KZs dann und die Befreiung schließlich, als völlig Abgemagerter. Es gab eine kurze Erlösung und dann gleich die Nachricht, dass seine Frau, der es den ganzen Krieg über gelungen war, sich zu verstecken, fünf Tage vor seiner Befreiung an Herzversagen gestorben war.
Améry zog sich zurück. Er hegte den Wunsch nach Rache, der sich als Ressentiment gegen die Deutschen, die Vergangenheit, Romantik und Mystik in ihm festsetzte. Glänzend waren seine Essays über seine Gefangenschaft, sein Leben, über das Alter und die Freiheit zum Selbstmord.
Am Ende des Buches wird Eugen Althager auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt. 44 Jahre später wird am selben Ort sein Erfinder zu Grabe getragen. Er hatte sich umgebracht, wie er es früh schon als letzten Akt der Freiheit angekündigt hatte: "Ihm war der seit der frühen Kindheit geläufige, grenzsetzende Gedanke an den Selbstmord Halt und Rechtfertigung", heißt es im Roman. Und im Leben, 1976, kurz nachdem er sein Buch über den Selbstmord veröffentlicht hatte, hat er auf die Frage eines Journalisten, warum er sich nicht einfach umbringe, statt gelehrte Bücher darüber zu schreiben, geantwortet: "Nur Geduld." Zwei Jahre später hat er sich, bei einem seiner wenigen Ausflüge zurück in die Heimat, in einem Salzburger Hotel das Leben genommen. Auf seinem Grabstein stehen nur sein neuer, französischer Name und seine Häftlingsnummer von Auschwitz.
Heute können wir zurückgehen, das Werk der Hoffnung, den Roman nachlesen. Alles hätte anders kommen können. Diese tragische Ahnung vermittelt die Lektüre dieses ergreifenden Romans.
VOLKER WEIDERMANN
Jean Améry: "Die Schiffbrüchigen". Klett-Cotta-Verlag, 2007. 330 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als "sensationelle Entdeckung" wertet Rezensent Franz Haas diesen nun veröffentlichten Jugendroman Jean Amerys, den der Autor als 23-Jähriger 1935 beendete. Auch wenn er nicht umhin kommt, einige "formale Mängel" festzustellen, zeigt er sich ausnehmend beeindruckt von der Scharfsicht, mit der Amery die Zeichen der Zeit, das von Deutschland nach Österreich herüberziehende Nazi-Übel analysiert. Darüber hinaus sieht er in dem Roman auf eine erstaunliche Weise fast die gesamte spätere Gedankenwelt des Autors vorhanden, vor allem die "unbestechlich widerständige Haltung als Zeitgenosse". Gleichwohl verhehlt er nicht, dass er den Essayisten Amery für bedeutender und genialer hält als den Romancier. In diesem Zusammenhang bedauert er Amerys Leiden an seinem Misserfolg als "literarischer Autor". Er sieht nämlich als erwiesen an, dass Amerys Selbstmord nicht nur Spätfolge seiner KZ-Erfahrung, sondern auch seiner Nichtbeachtung als Romancier war. Dass Amery meinte, einen erfolgreichen Roman schreiben zu müssen, um ein "großer Schriftsteller" zu sein, betrachtet Haas als ein "fatales Missverständnis", denn das war seines Erachtens längst mit seinen anderen Werken geschehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"... ein wichtiges und beeindruckendes Buch. ..." Franz Haas (Neue Zürcher Zeitung, 05.06.2007) "... eine ebenso aufregende wie lohnende Lektüre ..." Hans-Peter Kunisch (Literaturen, 06/2007) "... Amérys lebenslanges Ressentiment, das sich in seiner Unversöhnlichkeit gegenüber Deutschland äußerte, bekommt durch die Lektüre dieses ganz erstaunlichen Erstlings einen noch viel bittereren Beigeschmack. Seine literarischen Versprechungen liegen auf der Hand und konnten nicht eingelöst werden. Tatsächlich, man müsste diesen Roman auch lesen, wenn er nicht von Jean Améry geschrieben worden wäre." Jürgen Altwegg (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.3.2007) ""Die Schiffbrüchigen sind mehr als nur ein (auto-)biographisches Mosaikstück und mehr als ein Zeitdokument. Der Roman zielt auf eine philosophisch verdichtete Gesamtschau intellektueller Lagen, die auch heute ihre Gültigkeit nicht verloren hat." Ulrike Baureithel (Der Tagesspiegel, 11.3.07) "... Alles hätte anders kommen können. Diese tragischen Ahnung vermittelt die Lektüre dieses ergreifenden Romans." Volker Weidermann (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.02.2007) "... "Die Schiffbrüchigen" ist ein Künstler-, Liebes- und Zeitroman, das geniale und subversive Werk eines 23-Jährigen. Voller literarischer Bezüge und geschickt gestaltet, gibt es in einer zeitgebundenen, sehr poetischen Sprache, eine "innere" Sicht des äußeren Verfalls. Das Buch ist ein schauriges Menetekel. ..." (Neues Deutschland, 18.06.2007) "... Wer mit Jean Amérys bisherigem Werk nicht vertraut war und "Die Schiffbrüchigen" vielleicht eher ratlos zur Seite legt, wird dennoch nicht umhin können, die unerhörte Kraftanstrengung zu bewundern, mit der hier Beobachtungen artikuliert und Sätze gemeißelt werden. Doch auch wer meinte, Améry einigermaßen zu kennen, wird vermutlich wie unter Magnetwirkung noch einmal zu den vermeintlich ausgelesenen Essays zurückkehren. Was ist das nur für ein Autor, bei dem bereits als junger Mann alles "da" war - vor dem Exil, vor der Gestapo, vor der Folter? ..." Marko Martin (Kommune, 06/2007) "... In solchen dramatischen Passagen gelingen Améry bereits in diesem Frühwerk literarisch außerordentlich reife Temperamentsausbrüche. Er ergreift mit dem heiligen Zorn eines nicht von Mitleid, sondern von Anklage geprägten Bewusstseins Partei, er schreibt mitreißend, nicht agitierend, er findet einen leidenschaftlichen Ton für seine hellsichtige Analyse. ... Welch Glücksfall, dass der spätere Ruhm des großen Jean Améry jeden Eingriff in das Manuskript fast dreißig Jahre nach seinem Tode selbstverständlich verbietet. So lesen wir die - jawohl: die "unreifen" - Gedanken eines genialen jungen Autors, den Exil, Widerstand und Verfolgung zu einem etwas anderen Schreiben genötigt haben, als es sich in "Die Schiffbrüchigen" andeutet." Harald Loch (General-Anzeiger, 12.05.2007) "Es ist die Hellsicht dieses Buches, die einen beim Lesen immer wieder innehalten lässt. ... Grenzsituationen des Daseins, Menschen in ihrem Scheitern haben Améry, der sich 1978 das Leben nahm, interessiert; Eugen Althager steht für Anfang und das Ende: Sogar die freie Wahl des Todes klingt in "Die Schiffbrüchigen" als Ausweg an." (Stuttgarter Nachrichten, 11. April 2007) "... Doch "Die Schiffbrüchigen" ist mehr als ein zeitgeschichtliches Dokument: eine beklemmende und radikale Künstler- und Lebensgeschichte." (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 03.04.2007) "Vor 70 Jahren geschrieben, nun endlich zu lesen: Jean Amérys faszinierender, beklemmender Erstling: "Die Schiffbrüchigen". ... Der Roman, mit dem der als Essayist berühmt Gewordene literarisch begonnen hatte und von dem er niemals loskam, erscheint endlich als Buch. ... ein erstaunlicher, ein passagenweise mitreißender Roman, verblüffend schon dadurch, dass in ihm der ganze Améry enthalten ist; dass sich in ihm sogar jene Themen, die er später aus der Erfahrung von Haft und Folter fasste, auf geradezu rätselhafte Weise bereits im Voraus gestaltet finden; dass er den Grundkonflikten, die Améry 30 Jahre später essayistisch durchdringen wird, schon mit analytischer Schärfe wie gestalterischem Geschick auf den Grund geht. ..." Karl-Markus Gauß (Die Presse, 17.3.2007) "Jean Amérys Debüt "Die Schiffbrüchigen" hält sich nicht an die Regeln der Kunst und überzeugt dennoch. ... Der große Zeitdiagnostiker erweist sich bereits hier als sprachlich ausgereift. ..." Marko Martin (Rheinischer Merkur, 1.03.2007)