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Veza Canettis unveröffentlichter Exil-Roman spielt in Österreich nach dem "Anschluß": Ehemals friedliche Nachbarn werden plötzlich zu Handlangern des NS-Regimes. Ein schockierender Roman, der die Ängste, die Niedertracht und den Stolz der Menschen zeigt. Das Hauptwerk Veza Canettis, das man als Gegenstück zu 'Die Blendung' sehen kann.

Produktbeschreibung
Veza Canettis unveröffentlichter Exil-Roman spielt in Österreich nach dem "Anschluß": Ehemals friedliche Nachbarn werden plötzlich zu Handlangern des NS-Regimes. Ein schockierender Roman, der die Ängste, die Niedertracht und den Stolz der Menschen zeigt. Das Hauptwerk Veza Canettis, das man als Gegenstück zu 'Die Blendung' sehen kann.
Autorenporträt
Veza Canetti, geboren 1897 in Wien, wurde als Jüdin und Sozialistin von den Nazis mit Berufsverbot belegt und flüchtete 1938 mit ihrem Mann Elias Canetti nach England, wo sie 1963 starb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Die Schildkröte im Ohr
Im Wärmestrom der Geschichten: Veza Canetti erzählt vom letzten Jahr in Wien / Von Volker Breidecker

Anfang der neunziger Jahre erschienen unter den Titeln "Die gelbe Straße" und "Geduld bringt Rosen" zwei schmale Bändchen mit Erzählungen von schlichter und bisweilen beklemmender Schönheit. Die miniaturhaften Schilderungen aus dem Wiener Straßen- und Alltagsleben der Zwischenkriegszeit stammten aus dem Nachlaß der 1897 in Wien geborenen und 1963 im Londoner Exil gestorbenen Venetiana Taubner-Calderon. Die Verfasserin war bis dahin nur als Ehefrau des Schriftstellers und Gelehrten Elias Canetti bekannt, der "Veza", wie sie gerufen wurde, fortan alle seine Bücher widmete. Über ihre Person und ihre stupende Belesenheit war immerhin einiges aus Canettis dreiteiliger Autobiographie zu erfahren. In "Die Fackel im Ohr" wurden die ersten Begegnungen des künftigen Paars Mitte der zwanziger Jahre bei den legendären öffentlichen Lesungen von Karl Kraus beschrieben. Dabei fiel auch ein Satz, der allzuleicht als bloße Liebeserklärung an eine epiphaniegleich wahrgenommene, exotisch wirkende junge Sephardin mißzuverstehen war: "In ,Tausendundeine Nacht' war man ihr begegnet, schon als man zuerst darin las."

Mit einem Mal läßt die Entdeckung und (noch von dem kürzlich verstorbenen Fritz Arnold besorgte) Veröffentlichung ihres einzigen überlieferten Romans "Die Schildkröte" die ganze Bedeutung dieser Bemerkung deutlich werden: Elias Canetti sprach von keiner beliebigen orientalischen Märchenfigur, sondern von der unermüdlich und mit großer Kunst um ihr Leben erzählenden Scheherezade. Der Roman, dessen zeitige Veröffentlichung vermutlich am Kriegsausbruch scheiterte, war in den Monaten unmittelbar nach der Flucht der Canettis vor den antisemitischen Pogromen des Jahres 1938 entstanden. Er handelt von dem, was seit dem "Anschluß" Österreichs an das Hitlerreich und in den Schreckenstagen des Novembers den in Wien lebenden Juden widerfuhr, als sich die Straßen in Jagdgründe des Mobs verwandelten und auch die Häuser keine Zuflucht mehr boten. Das tausendfach bekannte Geschehen vernimmt man hier jedoch wie zum ersten Mal, wie am Tag danach erzählt, als käme es aus einem noch viel ferneren Buch, das alt genug ist, um darin von neuem zu blättern.

Gegenüber der Wirklichkeit des Geschehens, davon sie eindringlicher als jede Reportage berichtet, vollbringt die Kunst der Veza Canetti das beinahe Unmögliche. Der Last des Unverwundenen ringt sie die beflügelnde Distanz ab, die es erlaubt, das am eigenen Leib Erfahrene aus der Nähe des Erlebens in die Ferne eines Schilderns zu rücken, das die Sprache wiedergefunden hat und um deren Mittel weiß oder sie sich neu erschafft. Was soeben noch Gegenwart war, wird nicht abgebildet, sondern neu konstruiert. Zeit und Ort, Wien und seine Peripherie, sind beklemmend nah und werden doch entrückt und mit den Horizonten derselben biblischen Urgründe verschränkt, von denen alles Erzählen dieser Welt schon einmal ausgegangen war.

Einer dieser Horizonte spannt sich vom Garten Eden des Buchs Genesis über den "verschlossenen Garten" des Hohenlieds Salomos bis hin zum Kalvarienberg des Neuen Testaments. Gleich in den Anfangssätzen steigt die von großer Müdigkeit geschlagene Hauptfigur Eva auf dem Nachhauseweg von der Stadt den Berg hinauf. Ihr Weg führt durch einen Villenpark zum Einlaßtor des heimischen Gartens, der noch Schutz und Geborgenheit spendet: Gesenkten Hauptes bohrte sie "den Blick in die Erde, als suche sie auf dem Boden". Hinter dem Gartengitter wachsen Apfelbäume und wildes Gebüsch inmitten von Statuen heiterer Nymphen und eines lächelnden Fauns, der Brunnenfigur einer tanzenden Venus und sogar eines heiligen Florian, der vor dem Feuer, nicht aber vor der kommenden Vertreibung der Bewohner aus ihrem Paradies schützt. Von draußen her haben sich längst die wuchernden Schatten der Uniformen und Fahnen darübergelegt. Ihre Farben und Runen verkünden das Kreuz, das den Juden bereitet wird. Der verschlossene Garten, Ort für anmutiges Beisammensein und heiter-melancholische Gespräche, hat sich in ein Gefängnis verwandelt.

Die neuen Zeichen, Farben und Symbole fungieren selbst als groteske Handlungsträger, womit sich alle Zeitangaben erübrigen. Auch dem in der Mitte Europas gelegenen Ort wird der Name verweigert. Jetzt, da dort die Angst regiert, heißt er die Stadt, "die einmal die fröhlichste Stadt" und "deren Bewohner die ,Liebenswürdigen' genannt wurden". Im Haus hinter dem Garten lebt Eva mit ihrem Ehemann Andreas Kain, einem Dichter und Gelehrten, der beim Nachnamen gerufen wird, erstmals als Eva ihm bei ihrer Rückkehr auf seine Nachfrage hin, "was unten beschlossen wurde", antwortet: "Du mußt das Land verlassen, Kain." Nicht alle Namen sind biblischen Ursprungs. Hilde heißt die junge Freundin der Kains aus der Nachbarschaft, und nach den geläufigen Begriffen sieht sie "arisch" aus, ist es aber nicht. Baldur Pilz hingegen, der Fahnenmann, der die Kains - wie man damals in Wien sagte - "delogiert", ist "ein Braunhemd, ein hohes Tier". Den im Garten um sich gescharten Nachbarskindern demonstriert er an kleinen, kranken und schwachen Tieren, wie man "unnütze Schmarotzer" und "Parasiten" vertilgt.

Der Roman breitet ein sorgfältig komponiertes und aufeinander abgestimmtes Diptychon aus. Schließt der erste Teil mit der Vertreibung Evas und Kains aus Haus und Garten, so führt der zweite Teil "nach unten" in die Stadt, die sich in barbarische Urgründe zurückverwandelt hat. Hier findet das Paar Unterschlupf bei Kains Bruder Werner, einem schrulligen Geologen. Mit seiner gewaltigen, zärtlich umhegten Gesteinssammlung ist er das Pendant seines bibliophilen Bruders, beide erinnern an den Büchermenschen Kien aus Elias Canettis Roman "Die Blendung".

Eva verkörpert demgegenüber die beunruhigende Wahrnehmung und Erkenntnis der Außenwelt. Als sei ihr alles auf die Haut und in die Augen geschrieben, agiert sie in ihren Bewegungen, Gesten und Mienen als beständige Übersetzerin und Vermittlerin der Außenwelt ins Interieur. Dort hat die Humanität ihr letztes Residuum gefunden, während mit jedem Läuten an der Tür das Unheil hereinbrechen kann. Als es seinen Lauf nimmt, wird anstelle des gesuchten Dichters, der sich, vom Feuer der brennenden Synagogen und von den gestauten, lauernden und jauchzenden Menschenmassen angezogen, auf eine Schreckenswanderung durch die Straßen begeben hat, der Bruder verhaftet. Erschlagen von einem jener Steine, die er so liebte, stirbt er in Buchenwald. Eva und Kain erreicht am Ende das rettende Visum, und mit der Asche des Ermordeten in einer Urne fahren sie über die Eisenbahnbrücke von Kehl, der "glücklichen Insel" England entgegen.

So symbolbeladen das alles in der Zusammenfassung klingt, ist Veza Canettis geballter Bilderreichtum doch weniger von der Schwere als vielmehr von der schwebenden Transparenz der Bedeutungen geprägt. Ob der sprachlichen und erzählerischen Mittel, deren sie sich bedient, werden Schilderung und Deutung eins. Biblisch, vor allem den Büchern des Moses, der Propheten und den Psalmen entlehnt, ist der aphoristische, bisweilen lakonische, manchmal bis zum "Spruch" vereinfachte Sprachgestus. Unpersönliche und reflexive Erzählformen wechseln mit Geschichten und Berichten von Gesehenem und Gehörtem, mit Gleichnissen und Fabeln, die die Romanfiguren selbst einander erzählen. Bei einem Gespräch mit Eva im Garten, das an die Rahmenhandlung von Boccaccios "Decamerone" erinnert, erzählt Kain, wie er bald eingesteht, auch erfundene Geschichten von der wunderbaren Rettung verfolgter Juden: So sei ein Zug mit Verhafteten, statt nach Dachau, versehentlich ins freie Ausland gelenkt worden. Dem Vorwurf der Grausamkeit begegnet er mit einer Maxime, die als Motto über dem Roman stehen könnte: "Weißt du, ich muß manchmal solche Geschichten erzählen, sonst ertrag ich's nicht."

Veza Canetti zieht alle Register orientalischer und okzidentaler Mythologie, klassischer, jüdischer und christlicher Symbolik, ohne daß der Leser Mythologie-, Emblematik- und Symbolhandbücher zu Rate ziehen müßte. Wie die erzählte Wirklichkeit wird auch die Wirklichkeit der Bilder im wörtlichsten Sinne in die Räume übertragen, die der Roman konstruiert. Am deutlichsten wird dies im titelgebenden Leitmotiv der Schildkröten. Kain, so wird berichtet, hat durch den Aufkauf eines ganzen Korbs voller Schildkröten die Fabelwesen vor dem Hakenkreuz gerettet, mit dem ein Holzschnitzer sie zu versehen trachtete. Nicht nur im Garten wimmelt es seither von Schildkröten. Sie werden auch zum Stoff der Dialoge und der Auslegung von wiedererzählten Fabeln und Parabeln, die sich seit alters um dieses seltsame und zähe, träge, aber beharrliche Wesen mit dem flinken Kopf und den klugen Augen ranken. Sein Gehäuse ist ihm eine schwere Last und ein Zufluchtsort zugleich, es schleppt es überallhin mit sich. Entreißt man es ihm mit Gewalt, so kriecht das Tier noch davon, und schneidet man ihm gar das Fleisch vom lebendigen Leib, so bewegt sich doch der Kopf noch weiter. Die Schildkröte ist mit allen Elementen verbunden, besonders aber mit der Erde und den Steinen. "Der Drache", sagt Hilde zu Pilz, "sind Sie, die Schildkröten sind wir."

Und wie auf der Schildkröte, nach einer Fabel des Äsop, der Fluch des Zeus lastet, weil sie einmal verspätet zu einem Gastmahl des Gottes erschien, so trägt auch Kain sein Mal und zieht mit dem schweren Gehäuse der Erinnerung durch die Welt. In der Emblematik der Renaissance findet sich häufig der Typus der geflügelten Schildkröte mit der Devise "Festina lente" ("Eile mit Weile"). Auch Veza Canetti hat der elefantenschweren Bürde des Erinnerns Flügel verliehen. Ihr Roman ist selbst eine Schildkröte. Wie die Dichtung lebt die Schildkröte "von nichts, von Luft und Blättern, sie läßt sich zerschneiden, zerstückeln, zerreißen, und sie lebt weiter, stumm und schwer. Aber sie braucht Wärme. Ohne Wärme muß sie sterben." Solche Wärme liefert die rettende Macht des Erzählens.

Veza Canetti: "Die Schildkröte". Roman. Carl Hanser Verlag, München 1999. 296 S., geb., 36,- DM.

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"Ihr Talent ist offensichtlich und nicht gefangen in der paranoischen Welt, die Canetti in der "Blendung" aufreißt und aus der er selber nur mühsam entkam. ... So grauenhaft es ist, was Veza Canetti, sechzig Jahre danach, von einer Volksergreifung berichtet, es liegt eine seltsame Heiterkeit über diesem Buch."
Willi Winkler, Süddeutsche Zeitung, 17./18.4.1999

"Elias Canetti hat von der "seitlichen" Methode seiner Frau gesprochen, "die das Wichtige in scheinbarer Eile streift, ohne es ganz auszusprechen." Weltanschauliche Bekenntnisse liegen ihr fern. Um so virtuoser beherrscht sie den szenisch-visuellen Draufblick, der alles in Handlung, in Dialog auflöst. Die liebevolle Genauigkeit und unpsychologische Naivität, mit der Veza Canetti die Menschen und was in ihnen brütet erfasst, erinnert aber auch an Kinderzeichnungen."
Uwe Schweikert, Frankfurter Rundschau, 5.6.1999