Napoleon schlug in Waterloo sein letztes Gefecht, das bis heute als die wohl berühmteste Schlacht der Weltgeschichte in Erinnerung blieb. Waterloo ist DAS Synonym für den zweiten Griff nach den Sternen ebenso wie für das finale Scheitern. Trotz seiner erzwungenen Abdankung im Vorjahr und dem Exil in Elba wollte es der Ex-Kaiser noch einmal wissen: Zwei Tage nach den Schlachten von Ligny und Quatre Bras standen sich am 18. Juni 1815, einem Sonntag, etwa 15 Kilometer südlich von Brüssel, nahe der kleinen Ortschaft Mont St. Jean, erneut 180.000 deutsche, niederländische, englische und französische Soldaten gegenüber. Der Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm schildert die dramatische Vorgeschichte dieses Feldzuges und seine Etappen. Er analysiert das Schlachtgeschehen des Tages detailliert, porträtiert die Akteure, die Armeen und untersucht die Bewaffnung der Soldaten. Und er beschreibt Nachleben und Rezeption wie auch die Möglichkeiten und Grenzen, Kriegsgeschehnisse der Vergangenheit zu rekonstruieren. Eindrucksvoll geschildert entsteht so ein Porträt der Schlacht mit all ihren Facetten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2015Die Garde stirbt, warum ergibt sie sich nicht?
Vor zweihundert Jahren wurde Napoleons Heer von den verbündeten Briten und Preußen bei Waterloo geschlagen. Ein Reihe von neuen Büchern versucht zu erklären, wie es zu dieser Niederlage kam.
Es gibt Dinge, die sich einfacher erzählen lassen als das Drama von Waterloo. Oder um es mit Johannes Willms zu sagen: "Eine Schlacht, bei der über einhunderttausend bewaffnete, von verständlicher Angst oder auch Begeisterung aufgepeitschte Männer in unterschiedlichen Angriffswellen auf einer für diese Masse sehr kleinen Fläche von lediglich rund sechs Quadratkilometern aufeinandertreffen, entfaltet ein Geschehen, das sich in seiner Totalität nicht präzise in allen Einzelheiten übersehen lässt."
Aber man kann es ja einmal versuchen. Das beginnt mit dem Schauplatz: "Der auf dem Scheitel der Anhöhe vor dem nördlich davon gelegenen Weiler von Mont-Saint-Jean zwischen Ohain und Wavre im Osten und Braine l'Alleud und Hal im Westen verlaufende Weg, den Wellington aus einsichtigen Gründen zur Frontlinie der britischen Truppen bestimmt hatte und auf beiden Seiten der Kreuzung der Chaussee Charleroi-Brüssel eine Ausdehnung von etwa drei Kilometern hatte, war trotz ihres exponierten Verlaufs gut geschützt." Da hat der Schlachtreporter vor lauter Wegmarken die Chaussee aus den Augen verloren, was aber weiter kein Schaden ist, denn seine übrigen Ortsangaben sind überaus exakt.
Die Anhöhen von Belle-Alliance beispielsweise, auf der das französische Heer campierte, und von Mont-Saint-Jean, wo Wellingtons Hauptquartier lag, sind laut Willms "rund 130 Meter hoch". Freilich vergisst er, "über dem Meeresspiegel" hinzuzufügen - denn sonst hätte Napoleon von seinem Zelt aus bis nach Antwerpen blicken können, wo sich Ludwig der Achtzehnte, den er im März aus Paris vertrieben hatte, gerade bereitmachte, ein Schiff nach England zu besteigen, falls sein Widersacher das Gefecht an der Kreuzung nach Brüssel gewinnen sollte.
In diesem Frühjahr erscheinen eine Menge Bücher über Napoleon, die letzten hundert Tage seines Regimes und die Bataille von Waterloo, und das von Willms ist bei weitem nicht das schlechteste. Im Gegenteil: Auf den zweihundertfünfzig Seiten (plus Anhang), auf denen er "Napoleons letzte Schlacht" abhandelt, erfährt man auch vieles, das nicht direkt mit dem Kampfgeschehen zu tun hat, etwa über Napoleons Schwierigkeiten, seine überfallartig wiedergewonnene Herrschaft konstitutionell zu befestigen, oder über die Kriegsmüdigkeit seiner alten Marschälle, die ihn dazu zwang, dem geistesschlichten Haudegen Ney eine Hauptrolle in seinem Feldzug gegen die Engländer und Preußen zu übertragen.
Auch die historischen Manipulationen, mit denen Wellington, der Oberbefehlshaber der britisch-holländischen Truppen, seine taktischen Fehler in den Tagen vor Waterloo nachträglich schönfärbte, werden von Willms schlüssig dekonstruiert. Sein Urteil über die Schuld an Napoleons Niederlage schließlich ist so plausibel wie naheliegend: Es war Napoleon selbst, der nach der Schlacht bei Ligny durch die Entsendung eines Drittels seiner Armee unter Grouchy zur Verfolgung der Preußen die Alliierten einlud, seine Idee des "manoeuvre sur position centrale", des konzentrierten Angriffs auf einen zersplitterten Feind, gegen ihren Urheber zu kehren.
Dennoch wird man das Gefühl nicht los, Willms habe sein Buch mit heißer Nadel genäht. Das fängt mit der Betrachtung über einen "Nachteil" an (nämlich den Mangel an erfahrenen Generalen), der sich auf Napoleons Kriegsführung "sehr nachteilig auswirken" sollte, und setzt sich fort mit Sätzen, deren Konstruktion so sehr in der Luft hängt, dass man kaum mehr weiß, ob die Geschütze, von denen die Rede ist, den Braunschweigern, den Nassauern oder doch den hartgesottenen Briten gehören. Es sind eben nicht mehr die akademischen Historiker mit ihren langweiligen, aber stabilen Satzperioden, die zu einem Jubiläum wie dem von Waterloo ihre Federn spitzen, sondern populäre Sachbuchautoren wie der durch seine Balzac- und Stendhal-Biographien ausgewiesene Johannes Willms. Den Preis bezahlt der Leser: durch einen Gewinn an Süffig- und einen Verlust an Haltbarkeit.
Das gilt auch für die Studie von Klaus-Jürgen Bremm, der als Militärgeschichtler zwar alles über die Bewaffnung und Feuertaktik der kämpfenden Heere weiß, aber offenbar nicht mitbekommen hat, dass der schlachtenbummelnde Held von Stendhals "Kartause von Parma" nicht "Fabricio", sondern Fabrizio del Dongo heißt. Immerhin lernt man bei Bremm, dass der Angriff der alten (und der "mittleren") Garde, der den Wendepunkt von Waterloo markiert, weder so blutig-heroisch ausging ("die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht") noch so rasch zusammenbrach, wie es die landläufige Überlieferung will. Denn die neun Gardebataillone schlugen mehrere gegnerische Einheiten in die Flucht, ehe sie durch Flankenbeschuss zum Rückzug gezwungen wurden. Hätten sie eine Stunde früher von dem eroberten Gehöft von La Haye Sainte aus das Zentrum der britischen Front attackiert, wäre diese womöglich zusammengebrochen. So trafen sie auf Wellingtons Reserven, denen sie nicht standzuhalten vermochten. Die Weltgeschichte ist ein Friedhof der Konjunktive.
Das liest sich anders bei Marian Füssel, der die Niederlage der Garde mit einer Hypothese des britischen Historikers John Keegan erklärt, nach der sich die Kolonnen der Franzosen - Füssel spricht von "Linien" - nicht zuerst von vorn, sondern in panischen Wellen von hinten aufzulösen begannen. Das klingt zwar massenpsychologisch interessant, ist aber angesichts des Qualms und ohrenbetäubenden Lärms der Schlacht gänzlich unplausibel. In den Einheiten der Garde, die von allen Seiten beschossen wurde, gab es kein Vorn und kein Hinten mehr, und die Massenpanik brach im französischen Heer erst aus, als sie sich vergleichsweise geordnet zurückgezogen hatten.
Der Ehrgeiz, das Schlachtgeschehen anschaulich zu machen - bei Bremm und Füssel gibt es sogar Sonderkarten zu den Kämpfen um La Haye Sainte und Schloss Hougoumont -, fehlt Volker Huneckes Betrachtungen zu Napoleons Hundert-Tage-Herrschaft völlig. In Wahrheit geht es Hunecke weniger um den Kaiser selbst als um die historische Chance, die durch die erfolgreiche "Invasion eines einzigen Mannes" (Chateaubriand) in Frankreich vereitelt wurde: die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen den zurückgekehrten Bourbonen und dem in der Revolution und unter Napoleon groß gewordenen Bürgertum. Im Pariser juste milieu, das vermerken schon zeitgenössische Berichte, hatte der Rückkehrer Bonaparte wenig Anhänger, und sein Versuch, mit den Freiheitsgarantien des "Acte additionel" die Liberalen auf seine Seite zu ziehen, stieß auf eingefleischtes Misstrauen.
Aber Ludwig der Achtzehnte, dessen "Charte" von 1814 das Land auf den Weg zur konstitutionellen Monarchie gebracht hatte, besaß weder die Kraft noch das Charisma, dem Usurpator Paroli zu bieten; zu sehr hing er an seinen angestammten Privilegien, zu denen auch das Recht auf königliche Sesselrücker und Kofferträger gehörte, zu tief saß er im Boot mit den Kräften der adligen und kirchlichen Reaktion. Der besiegte und nach Sankt Helena verbannte Napoleon gewann die Schlacht um die Erinnerung, weil es ihm gelang, Frankreich endgültig zu spalten - ein Riss, der seither immer wieder aufklafft, nicht zuletzt bei den Feierlichkeiten zu diversen napoleonischen Gedenktagen.
Die Monographie des britischen Historikers Munro Price ist eher ein Seitenstück zum Waterloo-Jubiläum, schon deshalb, weil sie den Rahmen noch viel weiter spannt als Hunecke. Sie beginnt mit Napoleons Flucht aus Russland und endet mit seinem Tod am 5. Mai 1821; dazwischen aber schildert Price die kleinen und großen politischen Aktionen, die, interpunktiert von den allfälligen Schlachten, schließlich zu seinem Sturz führten, mit solcher Akribie, dass man buchstäblich hört, wie den Tischgästen des Marschalls Marmont die Gabeln aus den Händen fallen, als die Nachricht kommt, dass sein Stellvertreter sein Korps den Alliierten übergeben hat. Auch wenn er groß sei, soll Marmont daraufhin erklärt haben, wolle er sich doch um keinen Kopf kürzer machen lassen - weshalb er seinen Soldaten alsbald ins feindliche Lager folgte. Anekdoten wie diese machen aus einem etwas verkopften und konzeptlastigen Buch ein dennoch lesbares.
Wer nach all dem noch nicht genug hat, wer mehr über die letzte Bataille Napoleons wissen will, als selbst Willms und Bremm und Füssel mitteilen, für den hat Bernard Cornwell das definitive Buch über Waterloo geschrieben. Das fängt bei den Bildtafeln an, die so gut wie jedes einschlägige Historiengemälde zum Thema zeigen, und hört bei den Augenzeugenberichten auf, für die Cornwell praktisch das gesamte Inventar der britisch-französisch-preußischen Soldatenmemoiren ausgewertet hat. So ist ein aus Wörtern gefügtes Schlachtendiorama entstanden, das einerseits eine imposante Leistung, andererseits eine ausgemachte Donquichotterie ist. Denn natürlich kann man Waterloo nicht verstehen, wenn man nur über Waterloo spricht. Und es hilft dem Verständnis des Lesers auch nicht weiter, wenn der Herzog von Wellington im Text immer wieder anglisierend als "der Duke" erscheint. "Duke" war bekanntlich der Spitzname von John Wayne. Das gehört zum Allgemeinwissen, auch unter Schlachtenbummlern.
ANDREAS KILB
Munro Price:
"Napoleon". Der Untergang.
Aus dem Englischen von Enrico Heinemann. Siedler Verlag, Berlin 2015. 464 S., geb., 24,99 [Euro].
Volker Hunecke:
"Napoleons Rückkehr.
Die letzten hundert Tage - Elba, Waterloo, St. Helena".
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015, 260 S., 21,95 [Euro].
Marian Füssel: "Waterloo 1815".
Verlag C.H. Beck, München 2015. 128 S., Abb. und Karten, br., 8,95 [Euro].
Bernard Cornwell:
"Waterloo". Eine Schlacht verändert Europa.
Aus dem Englischen von Karolina Fell und Leonard Thamm. Wunderlich Verlag, Hamburg 2015. 480 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Johannes Willms: "Waterloo". Napoleons letzte Schlacht.
Verlag C.H. Beck, München 2015. 288 S., Abb. und Karten, geb., 21,95 [Euro].
Klaus-Jürgen Bremm: "Die Schlacht". Waterloo 1815.
Theiss Verlag, Darmstadt 2015. 256 S., geb., Abb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor zweihundert Jahren wurde Napoleons Heer von den verbündeten Briten und Preußen bei Waterloo geschlagen. Ein Reihe von neuen Büchern versucht zu erklären, wie es zu dieser Niederlage kam.
Es gibt Dinge, die sich einfacher erzählen lassen als das Drama von Waterloo. Oder um es mit Johannes Willms zu sagen: "Eine Schlacht, bei der über einhunderttausend bewaffnete, von verständlicher Angst oder auch Begeisterung aufgepeitschte Männer in unterschiedlichen Angriffswellen auf einer für diese Masse sehr kleinen Fläche von lediglich rund sechs Quadratkilometern aufeinandertreffen, entfaltet ein Geschehen, das sich in seiner Totalität nicht präzise in allen Einzelheiten übersehen lässt."
Aber man kann es ja einmal versuchen. Das beginnt mit dem Schauplatz: "Der auf dem Scheitel der Anhöhe vor dem nördlich davon gelegenen Weiler von Mont-Saint-Jean zwischen Ohain und Wavre im Osten und Braine l'Alleud und Hal im Westen verlaufende Weg, den Wellington aus einsichtigen Gründen zur Frontlinie der britischen Truppen bestimmt hatte und auf beiden Seiten der Kreuzung der Chaussee Charleroi-Brüssel eine Ausdehnung von etwa drei Kilometern hatte, war trotz ihres exponierten Verlaufs gut geschützt." Da hat der Schlachtreporter vor lauter Wegmarken die Chaussee aus den Augen verloren, was aber weiter kein Schaden ist, denn seine übrigen Ortsangaben sind überaus exakt.
Die Anhöhen von Belle-Alliance beispielsweise, auf der das französische Heer campierte, und von Mont-Saint-Jean, wo Wellingtons Hauptquartier lag, sind laut Willms "rund 130 Meter hoch". Freilich vergisst er, "über dem Meeresspiegel" hinzuzufügen - denn sonst hätte Napoleon von seinem Zelt aus bis nach Antwerpen blicken können, wo sich Ludwig der Achtzehnte, den er im März aus Paris vertrieben hatte, gerade bereitmachte, ein Schiff nach England zu besteigen, falls sein Widersacher das Gefecht an der Kreuzung nach Brüssel gewinnen sollte.
In diesem Frühjahr erscheinen eine Menge Bücher über Napoleon, die letzten hundert Tage seines Regimes und die Bataille von Waterloo, und das von Willms ist bei weitem nicht das schlechteste. Im Gegenteil: Auf den zweihundertfünfzig Seiten (plus Anhang), auf denen er "Napoleons letzte Schlacht" abhandelt, erfährt man auch vieles, das nicht direkt mit dem Kampfgeschehen zu tun hat, etwa über Napoleons Schwierigkeiten, seine überfallartig wiedergewonnene Herrschaft konstitutionell zu befestigen, oder über die Kriegsmüdigkeit seiner alten Marschälle, die ihn dazu zwang, dem geistesschlichten Haudegen Ney eine Hauptrolle in seinem Feldzug gegen die Engländer und Preußen zu übertragen.
Auch die historischen Manipulationen, mit denen Wellington, der Oberbefehlshaber der britisch-holländischen Truppen, seine taktischen Fehler in den Tagen vor Waterloo nachträglich schönfärbte, werden von Willms schlüssig dekonstruiert. Sein Urteil über die Schuld an Napoleons Niederlage schließlich ist so plausibel wie naheliegend: Es war Napoleon selbst, der nach der Schlacht bei Ligny durch die Entsendung eines Drittels seiner Armee unter Grouchy zur Verfolgung der Preußen die Alliierten einlud, seine Idee des "manoeuvre sur position centrale", des konzentrierten Angriffs auf einen zersplitterten Feind, gegen ihren Urheber zu kehren.
Dennoch wird man das Gefühl nicht los, Willms habe sein Buch mit heißer Nadel genäht. Das fängt mit der Betrachtung über einen "Nachteil" an (nämlich den Mangel an erfahrenen Generalen), der sich auf Napoleons Kriegsführung "sehr nachteilig auswirken" sollte, und setzt sich fort mit Sätzen, deren Konstruktion so sehr in der Luft hängt, dass man kaum mehr weiß, ob die Geschütze, von denen die Rede ist, den Braunschweigern, den Nassauern oder doch den hartgesottenen Briten gehören. Es sind eben nicht mehr die akademischen Historiker mit ihren langweiligen, aber stabilen Satzperioden, die zu einem Jubiläum wie dem von Waterloo ihre Federn spitzen, sondern populäre Sachbuchautoren wie der durch seine Balzac- und Stendhal-Biographien ausgewiesene Johannes Willms. Den Preis bezahlt der Leser: durch einen Gewinn an Süffig- und einen Verlust an Haltbarkeit.
Das gilt auch für die Studie von Klaus-Jürgen Bremm, der als Militärgeschichtler zwar alles über die Bewaffnung und Feuertaktik der kämpfenden Heere weiß, aber offenbar nicht mitbekommen hat, dass der schlachtenbummelnde Held von Stendhals "Kartause von Parma" nicht "Fabricio", sondern Fabrizio del Dongo heißt. Immerhin lernt man bei Bremm, dass der Angriff der alten (und der "mittleren") Garde, der den Wendepunkt von Waterloo markiert, weder so blutig-heroisch ausging ("die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht") noch so rasch zusammenbrach, wie es die landläufige Überlieferung will. Denn die neun Gardebataillone schlugen mehrere gegnerische Einheiten in die Flucht, ehe sie durch Flankenbeschuss zum Rückzug gezwungen wurden. Hätten sie eine Stunde früher von dem eroberten Gehöft von La Haye Sainte aus das Zentrum der britischen Front attackiert, wäre diese womöglich zusammengebrochen. So trafen sie auf Wellingtons Reserven, denen sie nicht standzuhalten vermochten. Die Weltgeschichte ist ein Friedhof der Konjunktive.
Das liest sich anders bei Marian Füssel, der die Niederlage der Garde mit einer Hypothese des britischen Historikers John Keegan erklärt, nach der sich die Kolonnen der Franzosen - Füssel spricht von "Linien" - nicht zuerst von vorn, sondern in panischen Wellen von hinten aufzulösen begannen. Das klingt zwar massenpsychologisch interessant, ist aber angesichts des Qualms und ohrenbetäubenden Lärms der Schlacht gänzlich unplausibel. In den Einheiten der Garde, die von allen Seiten beschossen wurde, gab es kein Vorn und kein Hinten mehr, und die Massenpanik brach im französischen Heer erst aus, als sie sich vergleichsweise geordnet zurückgezogen hatten.
Der Ehrgeiz, das Schlachtgeschehen anschaulich zu machen - bei Bremm und Füssel gibt es sogar Sonderkarten zu den Kämpfen um La Haye Sainte und Schloss Hougoumont -, fehlt Volker Huneckes Betrachtungen zu Napoleons Hundert-Tage-Herrschaft völlig. In Wahrheit geht es Hunecke weniger um den Kaiser selbst als um die historische Chance, die durch die erfolgreiche "Invasion eines einzigen Mannes" (Chateaubriand) in Frankreich vereitelt wurde: die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen den zurückgekehrten Bourbonen und dem in der Revolution und unter Napoleon groß gewordenen Bürgertum. Im Pariser juste milieu, das vermerken schon zeitgenössische Berichte, hatte der Rückkehrer Bonaparte wenig Anhänger, und sein Versuch, mit den Freiheitsgarantien des "Acte additionel" die Liberalen auf seine Seite zu ziehen, stieß auf eingefleischtes Misstrauen.
Aber Ludwig der Achtzehnte, dessen "Charte" von 1814 das Land auf den Weg zur konstitutionellen Monarchie gebracht hatte, besaß weder die Kraft noch das Charisma, dem Usurpator Paroli zu bieten; zu sehr hing er an seinen angestammten Privilegien, zu denen auch das Recht auf königliche Sesselrücker und Kofferträger gehörte, zu tief saß er im Boot mit den Kräften der adligen und kirchlichen Reaktion. Der besiegte und nach Sankt Helena verbannte Napoleon gewann die Schlacht um die Erinnerung, weil es ihm gelang, Frankreich endgültig zu spalten - ein Riss, der seither immer wieder aufklafft, nicht zuletzt bei den Feierlichkeiten zu diversen napoleonischen Gedenktagen.
Die Monographie des britischen Historikers Munro Price ist eher ein Seitenstück zum Waterloo-Jubiläum, schon deshalb, weil sie den Rahmen noch viel weiter spannt als Hunecke. Sie beginnt mit Napoleons Flucht aus Russland und endet mit seinem Tod am 5. Mai 1821; dazwischen aber schildert Price die kleinen und großen politischen Aktionen, die, interpunktiert von den allfälligen Schlachten, schließlich zu seinem Sturz führten, mit solcher Akribie, dass man buchstäblich hört, wie den Tischgästen des Marschalls Marmont die Gabeln aus den Händen fallen, als die Nachricht kommt, dass sein Stellvertreter sein Korps den Alliierten übergeben hat. Auch wenn er groß sei, soll Marmont daraufhin erklärt haben, wolle er sich doch um keinen Kopf kürzer machen lassen - weshalb er seinen Soldaten alsbald ins feindliche Lager folgte. Anekdoten wie diese machen aus einem etwas verkopften und konzeptlastigen Buch ein dennoch lesbares.
Wer nach all dem noch nicht genug hat, wer mehr über die letzte Bataille Napoleons wissen will, als selbst Willms und Bremm und Füssel mitteilen, für den hat Bernard Cornwell das definitive Buch über Waterloo geschrieben. Das fängt bei den Bildtafeln an, die so gut wie jedes einschlägige Historiengemälde zum Thema zeigen, und hört bei den Augenzeugenberichten auf, für die Cornwell praktisch das gesamte Inventar der britisch-französisch-preußischen Soldatenmemoiren ausgewertet hat. So ist ein aus Wörtern gefügtes Schlachtendiorama entstanden, das einerseits eine imposante Leistung, andererseits eine ausgemachte Donquichotterie ist. Denn natürlich kann man Waterloo nicht verstehen, wenn man nur über Waterloo spricht. Und es hilft dem Verständnis des Lesers auch nicht weiter, wenn der Herzog von Wellington im Text immer wieder anglisierend als "der Duke" erscheint. "Duke" war bekanntlich der Spitzname von John Wayne. Das gehört zum Allgemeinwissen, auch unter Schlachtenbummlern.
ANDREAS KILB
Munro Price:
"Napoleon". Der Untergang.
Aus dem Englischen von Enrico Heinemann. Siedler Verlag, Berlin 2015. 464 S., geb., 24,99 [Euro].
Volker Hunecke:
"Napoleons Rückkehr.
Die letzten hundert Tage - Elba, Waterloo, St. Helena".
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015, 260 S., 21,95 [Euro].
Marian Füssel: "Waterloo 1815".
Verlag C.H. Beck, München 2015. 128 S., Abb. und Karten, br., 8,95 [Euro].
Bernard Cornwell:
"Waterloo". Eine Schlacht verändert Europa.
Aus dem Englischen von Karolina Fell und Leonard Thamm. Wunderlich Verlag, Hamburg 2015. 480 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Johannes Willms: "Waterloo". Napoleons letzte Schlacht.
Verlag C.H. Beck, München 2015. 288 S., Abb. und Karten, geb., 21,95 [Euro].
Klaus-Jürgen Bremm: "Die Schlacht". Waterloo 1815.
Theiss Verlag, Darmstadt 2015. 256 S., geb., Abb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»(...) prägnant, ausnehmend gut lesbar und informativ.« Buchkultur »...eine ausgewogene, materialreiche und quellenmäßig abgestützte Darstellung...« Militärgeschichtliche Zeitschrift »Eindrucksvoll geschildert entsteht (...) ein Porträt der dramatischen Schlacht von Waterloo mit all ihren Facetten.« Buch-Magazin »Eindrucksvoll geschildert« Karfunkel Combat »Bremm schildert hier die spannenden Ereignisse rund um die letzte Schlacht des Ancien Régime. Sie wurde entschieden nicht so sehr durch die strategische Weitsicht Wellingtons oder die Versäumnisse Napoleons sondern durch die zahllosen Kleingefechte und Nahkämpfe der Kompanien und Bataillone. Am Ende war es knapp, aber der Ausgang war eindeutig. Noch nie ist diese Geschichte so lebendig und dramatisch erzählt worden.« Prof. Dr. Joachim Whaley, University of Cambridge »War es wirklich Wellington, der in Waterloo siegte? Oder wurde Blücher der Lorbeer gstohlen? Und was gab an jenem schicksalhaften 18. Juni 1815 den Ausschlag? Das größere Genie oder die kleinere Fehlerquote? Klaus-Jürgen Bremm nimmt mit der Kompromißlosigkeit des Fachmanns Klischees auseinander. Nüchtern erdet er eine literarisch überhöhte Schlacht, die mehr von den Wirkkräften des Zufalls als durch hohe Kriegskunst geprägt war. Bremms Buch verdient viele Leser. Es überrascht auch diejenigen angenehm, die glaubten, über Waterloo sei längst das letzte Wort gesprochen.« Günter Müchler, Paris »...ein umfassendes und kenntnisreiches Werk... « Stader Tageblatt »In der Darlegung dieser psychologisch wie politisch so bedeutsamen Nachkriegsereignisse liegt die Stärke von Bremms Analyse...« Fehmarnsches Tageblatt