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Die Idee, daß Juden besonders intelligent seien, gehört zu den Grundbausteinen des modernen Antisemitismus. Und sie ist kaum auszurotten. Um so wichtiger ist Gilmans Buch, das dieses Klischee in die Zeit seiner Entstehung zurückverfolgt und seine Virulenz auch in unserer Gegenwart aufzeigt. Ein notwendiges Stück Aufklärung.

Produktbeschreibung
Die Idee, daß Juden besonders intelligent seien, gehört zu den Grundbausteinen des modernen Antisemitismus. Und sie ist kaum auszurotten. Um so wichtiger ist Gilmans Buch, das dieses Klischee in die Zeit seiner Entstehung zurückverfolgt und seine Virulenz auch in unserer Gegenwart aufzeigt. Ein notwendiges Stück Aufklärung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.1998

Genie im Profil
Sander Gilman über das Vorurteil von der jüdischen Intelligenz und eine subtile Form des Rassismus

Moische Kohn sitzt im Zug von Krakau nach Lodz und ißt marinierte Heringe. Die Köpfe legt er säuberlich an die Seite. Ein polnischer Mitreisender spricht ihn an: "Wie kommt es, daß ihr Juden so gescheit seid?" - Moische: "Das kommt vom Heringsessen, besonders vom Essen der Köpfe." Der Pole denkt nach und bittet schließlich den Juden, ihm fünf Heringsköpfe zu verkaufen. Dieser verlangt pro Stück einen Zloty. Der Pole zahlt, ohne zu murren, und würgt die Heringsköpfe hinunter. Nach einer Weile wird er sichtlich mißmutig und fährt den Juden an: "Eine Gemeinheit! Für diesen Preis hätte ich beim nächsten Halt fünf ganze Heringe kaufen können!" - "Ganz richtig", bekräftigt Moische, "du siehst: die Köpfe beginnen bereits bei dir zu wirken." - Die Wirkung dieses Witzes beruht nicht zuletzt darauf, daß das Vorurteil, die Juden seien intelligenter oder schlauer als andere, auch heute noch geläufig ist.

Der amerikanische Kultur- und Psychiatriehistoriker Sander L. Gilman, der in Deutschland insbesondere durch seine Bücher über Antisemitismus und jüdischen Selbsthaß bekannt wurde, geht dem Mythos von der höheren Intelligenz der Juden nach. Als aktueller Einstieg dient ihm die Debatte um "The Bell Curve" von R. J. Herrnstein und Charles Murray, das 1994 in Amerika eine heftige Diskussion auslöste. Darin wird behauptet, daß die niedrigste Intelligenz unter der schwarzen Bevölkerung am häufigsten anzutreffen sei, während aschkenasische Juden europäischer Herkunft bei IQ-Tests besser als jede andere ethnische Gruppe abschnitten.

Gilman interessiert sich vor allem für die Problematik, die in der amerikanischen Debatte nicht im Vordergrund stand, nämlich die Frage, warum für die angeblich höhere Intelligenz der Juden immer wieder neben einschlägigen Testergebnissen auch andere Beweise (zum Beispiel Nobelpreisträgerlisten) angeführt werden. Er weist nach, daß dieses Klischee von der höheren jüdischen Intelligenz seinen Ursprung im Zeitalter des biologischen Rassismus hat und somit weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Herausgekommen ist dabei eine faszinierende und gleichzeitig nachdenklich stimmende Untersuchung über die Konstruktion eines Stereotyps, an der vor allem Wissenschaftler (darunter auch nicht wenige jüdischer Herkunft) beteiligt waren.

Den Anfang machte 1869 der Brite Francis Galton, Darwins Cousin. Dieser Gelehrte glaubte, eine Art "Glockenkurve", das heißt eine an Vererbung gebundene Gaußsche "Normalverteilung" von Höchstbegabung, feststellen zu können. An dem einen Ende seien die Juden, aber auch die Italiener anzutreffen, an dem anderen die afrikanische "Rasse". Eine noch größere Aufmerksamkeit erzielte einige Jahrzehnte später ein philosemitisches Buch des französischen Historikers Anatole Leroy-Beaulieu. Es handelt sich dabei um eine komplexe Analyse zum Thema jüdischer Intelligenz am Vorabend der Dreyfus-Affäre, der ebenfalls ein biologisches Erklärungsmodell zugrunde liegt. Leroy-Beaulieu vertritt die Meinung, daß bestimmte menschliche Eigenschaften, wie Genialität oder Hochbegabung, kulturelle Ursachen hätten und vererbt werden könnten. Die Gebiete, auf denen Juden laut Leroy-Beaulieu über die "höchsten" Gaben verfügten, seien "Musik und Philologie".

Die meisten seiner Zeitgenossen, die sich in diese Debatte einschalteten, vertraten ebenfalls die Überzeugung, daß die auffällige jüdische Intelligenz ihre Wurzeln in der Verfolgung einer religiösen Minderheit und der natürlichen Auslese der Juden (Stichwort: Eugenik) habe. Doch fiel deren Antwort auf die Frage, ob die jüdische Intelligenz eher kreativ oder eher "parasitärer" Art sei, meist eindeutiger aus. Nicht wenige jüdische Intellektuelle, darunter Sigmund Freud und vor allem Otto Weininger, bezweifelten, daß die Juden zum wahrhaft Schöpferischen befähigt seien. "Die Macht des Parasitenmodells", so Gilman, "blieb auch dann noch ungebrochen, als die Intellektuellen, die es zu widerlegen versuchten, ihre eigenen Erkenntnisse in Frage zu stellen begannen." Das gilt auch für den Philosophen Ludwig Wittgenstein, der das zeitgenössische, besonders in Wien beheimatete Stereotyp vom schlauen Juden auf sich bezog, obwohl er sich in der Öffentlichkeit immer als Christ mit nur einem jüdischen Großelternteil darstellte.

1931 bemerkte er über das Verhältnis von Juden zur Philosophie: "Das jüdische ,Genie' ist nur ein Heiliger. Der größte Denker ist nur ein Talent. (Ich zum Beispiel)." Von solchen (Selbst-)Zweifeln, wie sie auch andere jüdische Intellektuelle insbesondere vor der Schoah gehegt haben, ist das amerikanische Kino freigeblieben. Hollywood dürfte einer der wenigen Orte sein, wo Juden heute noch als "Genie" glorifiziert werden dürfen, wie Gilmans abschließender Exkurs in die Welt der amerikanischen Massenkultur andeutet.

Die wichtigste Erkenntnis, die dieses gut übersetzte und intellektuell anspruchsvolle Buch für den Leser bereithält, lautet, daß die Juden "tatsächlich" geistreicher oder einfach "anders" sind, wenn ihre Umwelt sich das in den Kopf gesetzt hat. Speziell für die hiesige Leserschaft hätte man sich allerdings anläßlich der Übersetzung ins Deutsche ein zusätzliches Kapitel über die Verbreitung und die Wirkung dieses Klischees in der Bundesrepublik gewünscht. ROBERT JÜTTE

Sander L. Gilman: "Die schlauen Juden". Über ein dummes Vorurteil. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Stein. Claassen Verlag, Hildesheim 1998. 320 S., geb., 36,- DM.

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