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"Die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder", und das tut sie bei Mo Yan in einem wörtlichen Sinn: Gerüchte besagen, dass in einer entlegenen Provinz Chinas dekadente Parteikader, die nach der Wirtschaftswende zu Reichtum gekommen sind, kleine Kinder nach allen Regeln der Kochkunst zubereiten lassen. Sonderermittler Ding Gou´er wird in die "Schnapsstadt" entsandt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Doch kaum hat Ding den Fall aufgegriffen, sieht er sich konfrontiert mit einer wahnhaften Welt, die von Aberglaube und Korruption, von Anmaßung und Gier beherrscht wird. Die…mehr

Produktbeschreibung
"Die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder", und das tut sie bei Mo Yan in einem wörtlichen Sinn: Gerüchte besagen, dass in einer entlegenen Provinz Chinas dekadente Parteikader, die nach der Wirtschaftswende zu Reichtum gekommen sind, kleine Kinder nach allen Regeln der Kochkunst zubereiten lassen. Sonderermittler Ding Gou´er wird in die "Schnapsstadt" entsandt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Doch kaum hat Ding den Fall aufgegriffen, sieht er sich konfrontiert mit einer wahnhaften Welt, die von Aberglaube und Korruption, von Anmaßung und Gier beherrscht wird.
Die Schnapsstadt ist eine virtuose Groteske, eine politische Allegorie, die das neue China der toten Ideale und seine gesellschaftliche Wirklichkeit kühn gegen den Strich bürstet.
Autorenporträt
Mo Yan kam1955 als Bauernsohn in der Provinz Shandong zur Welt. Während der Kulturrevolution verließ er die Schule, um in einer Fabrik zu arbeiten. Mit 20 Jahren trat er in die Volksbefreiungsarmee ein, wo er noch als Soldat sein literarisches Schaffen begann. Zu Beginn der 80er Jahre fiel er dann mit ersten Veröffentlichungen auf. Als erstes erschien von ihm eine Sammlung von Erzählungen Der kristallene Rettich, deutsch in Auszügen 1997 als "Trockener Fluss" erschienen. 1984 begann er, an der Literaturabteilung der Kulturakademie der Armee zu unterrichten. Im Jahr 1986 schloss er das Studium an der Kunsthochschule der Volksbefreiungsarmee ab. Der literarische Durchbruch gelang ihm 1987 mit der Veröffentlichung des Novellenzyklus Die rote Sorghumhirse, der als Das rote Kornfeld im deutschsprachigen Raum bekannt wurde. Der Roman zählt zur chinesischen Literatur der Wurzelsuche und fand auch internationale Anerkennung durch die Verfilmung Rotes Kornfeld von Zhang Yimou. Mo Yan kann
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002

Das lächelnde Bewußtsein
Affenscharf : Mo Yan bringt die Geschmacksknospen auf Trab

Vielleicht steht am Ende jedes großen Glaubens der Menschheit die Verdauung: der direkte Blick auf den Körper und seine Überlebensfunktion, die rauschhafte Freude am Sinnesreiz und das Leid am Exzeß. Rabelais markiert mit seinen grotesken Wort- und Freßorgien den Ausklang der mittelalterlichen Gottvertrautheit. George Orwells "Animal Farm" zeigt den Verrat an den Revolutionsidealen als Transformation der herrschenden Schweine in fressende Menschen. Und in Mo Yans nun übersetztem Roman "Die Schnapsstadt", der im Original 1992 erschienen ist, wird nicht nur ein üppiges Fresko der Speisen und der Spirituosen, des Schlemmens und der Schilddrüsenaktivität entworfen, eine nachrevolutionäre Besinnung auf die Freuden der Sinnlichkeit. Im Zentrum dieses Porträts Chinas steht vielmehr ein ungeheuerlicher Verdacht: Die Parteikader einer Provinzstadt äßen saftige "Fleischkinder", "kleine Tiere in menschlicher Gestalt, die gemäß für beide Seiten verbindlichen Verträgen produziert werden, um den wachsenden Anforderungen der Entwicklung und des Wohlstands in Jiuguo nachzukommen". Gesotten, gebraten, gegart: Am Ende verdaut die Revolution ihre Kinder.

Mo Yan, Jahrgang 1956, kann auf ein umfangreiches Werk zurückblicken und wird sogar als Nobelpreiskandidat Chinas gehandelt. Auch im Ausland hat er sich einen Namen gemacht: mit dem Roman "Das rote Kornfeld" (1986, deutsch 1993), der hauptsächlich im ländlichen China der Revolutionsjahre spielt und dem westlichen Publikum auch dank der Verfilmung Zhang Yimous ein Begriff ist. Mit "Die Schnapsstadt" ist Mo Yan in der urbanen Gegenwart der Volksrepublik angelangt und stellt fest: Trotz - oder wegen - des erworbenen Wohlstands ist etwas faul im Staat.

Um den Kannibalismusverdacht herum legen sich in Schleifen die verschiedenen Erzählstränge dieses großartigen Romans: Es gibt einen Krimi, in dem Sonderermittler Ding Gou'er dem unglaublichem Gerücht auf den Grund gehen soll, statt dessen jedoch dem weißen Nacken einer temperamentvollen Lastwagenfahrerin verfällt. Weiter folgt der Leser einem Briefwechsel zwischen dem Romanautor und einem ehrgeizigen Doktoranden der Alkoholkunde, der Schriftsteller werden möchte. Es ist ein Austausch über das literarische Schreiben und seine Bedingungen, er greift aber auch Themen des Krimis auf und verleiht ihnen Plausibilität. Die Erzählungen des Doktoranden Li Yidou werden ebenfalls geliefert, sie infizieren den Krimi des Mentors und lassen aus der Figur des heroischen Ermittlers ein frustriertes, alkoholkrankes Wrack werden. Auf einer letzten Erzählebene treffen Mo Yan und sein Schüler aufeinander, und alles löst sich auf in einem finalen Schnapsdelirium.

Der Schnaps ist es, der die zweite Schlüsselstelle des Romans besetzt. Schon "Das rote Kornfeld" hatte es verstanden, über Herstellung und Konsum von Alkohol die gesamte ländliche Lebenswelt zu entfalten. In "Die Schnapsstadt" ist Alkohol zum Prinzip des Geistigen in einer unheilbar materialistisch gewordenen Gesellschaft geworden. Allerdings bringt nicht erst der Kater das Ende der Fröhlichkeit; schon der Rausch selbst schlägt um in einen "bad trip". So liefert der Roman neben einer mitreißenden Geschichte zugleich einen Bericht ihrer Genese und die Begründung ihres Scheiterns: Der Autor ist vom Sinnverlust angesteckt und gibt sich den alkoholischen und kulinarischen Ausschweifungen einer brutalen Gegenwart hin. Die selbstreflexive Verschachtelung in der Tradition der westlichen Moderne - Joyce und Faulkner führt Mo Yan selbst an, aber auch Gide oder Flann O'Brien kommen einem in den Sinn - ist nicht Selbstzweck. Sie ist Ingredienz, wie auch die dämonischen Gestalten und andere Anleihen bei chinesischen Märchen. Der "magische Realismus" Lateinamerikas mag Mo Yan bei der Verbindung von kruder Realität und Motiven des Wunderbaren das Rezept geliefert haben. Hinzu kommen Phrasen und Bilder aus dem Wortschatz der Ideologie ("Der Motor heulte auf und begann zu pfeifen wie die Kugeln der Faschisten") sowie kulturelle Referenzen, die dem westlichen Leser fremd bleiben müssen. Eine wahre Enzyklopädie der alltäglichen und literarischen Formen und Sprachen wird hier verbraut zu einem fulminanten Kosmos, der seine Bestandteile in einem Prozeß der kreativen Gärung und Destillation veredelt.

Gegenpol der formalen Kraft ist eine lukullische Sinneswelt, die stets die ihr eigene Schwerkraft behält: "Mein Gott, wie köstlich! Die Geschmackszellen auf seiner Zunge brachen in einstimmigen Jubel aus, seine Kinnmuskulatur geriet ins Zittern, und aus den Tiefen seiner Kehle schob sich eine Hand nach oben, um den Leckerbissen hinabzuziehen." Der Leser wird in Elementarfreuden hineingerissen; auch wenn er für Kamelhufe, Bärentatzen, Affenhirn und Schwalbennester nichts übrig hat, geht es ihm wie dem sturztrunkenen Ermittler: "Ding Gou'ers Bewußtsein hing unter der Decke und lächelte ihm zu." Wie geschickt Mo Yan in der Verbindung von Essen, Ideologie, Literatur und Zeitdiagnose ist, zeigt die Diskussion der Schriftsteller um die literarische Verwendung des Gerichts "Drache und Phönix glücklich vereint", das aus den Geschlechtsorganen weiblicher und männlicher Esel besteht. Der Meister hat Einwände: "Ich fürchte, die Kritik wird ein Gericht wie dieses mit seinem offensichtlich bourgeoisen Liberalisierungspotential nicht akzeptieren." Wird doch ein Arbeitstier in eine dekadente Speise verwandelt, deren Name an Brisanz nicht zu überbieten ist: Drache und Phönix sind die Symbole Chinas. Solche Verdichtungen verleihen einem schlichten Gericht politische und literarische Raffinesse.

Nicht immer leicht zu verorten ist Mo Yans eigene Position: Er übt ebenso Kritik an gierigen kommunistischen Funktionären, wie er die neue kapitalistische Raubtiermentalität anprangert. Es spricht für ihn, daß die Publikation des Romans in Taiwan zum Ereignis wurde, in China aber so unauffällig wie möglich vonstatten ging. Es ist zu hoffen, daß der Roman hierzulande ähnlichen Erfolg ernten wird - und daß die nächste Übersetzung nicht wieder zehn Jahre braucht.

NIKLAS BENDER

Mo Yan: "Die Schnapsstadt". Roman. Aus dem Chinesischen übersetzt von Peter Weber-Schäfer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 512 S., geb., 22,90 [Euro].

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"Mo Yan verdient einen Platz im Pantheon der Weltliteratur. Seine Stimme wird den Weg ins Herz seiner Leser finden wie die von Kundera und Garcìa Marquez." (Amy Tan)

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Von der Form dieses Romans lässt sich Meike Fessmann nicht aus der Fassung bringen, wie sie zunächst betont, denn was dieser chinesische Roman da an Spielen mit der Figur des Autors, an erzählten Bewusstseinsströmen und magischem Realismus aufbietet, kennt sie von Sterne, Joyce und Marquez. Trotzdem ist sie hingerissen von dem Roman, der bereits 1992 auf Chinesisch erschien, denn sie entdeckt in der Geschichte um einen Ermittler, der in der Stadt Jiuguo untersuchen soll, ob dort tatsächlich Kinder verspeist werden, zwischen "Altbekanntem" eben auch das "erschütternd Andere". Dies mache den "Reiz" des Buches aus, betont die begeisterte Rezensentin, die insbesondere von einer LKW-Fahrerin beglückt ist, die sich in einen "Geschlechterkampf" erster Güte mit dem Protagonisten begibt, der dem "Klassenkampf" in nichts nachsteht, wie Fessmann schwärmt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Für alle, die ihren Geist beim Lesen eines Buches anregen und nicht abschalten wollen, ist die Schnapsstadt eine deutliche Bereicherung des Bücherregals. Das Buch ist allerdings keines dieser Bücher, die man an einem Nachmittag nebenbei liest. Eher eines in der Art, das man abends noch eben hervorholt, ein paar Seiten liest, es entsetzt beiseite legt und am nächsten Abend doch wieder fasziniert zur Hand nimmt.« Gerhard Zirkel der-Buchleser.de