Dieser Roman handelt von der Rettung der Irma Seidenman, einer blauäugigen, schlanken und schönen Polin, und einer Vielfalt von Gestalten und Geschichten, die der Autor in einer großartigen Komposition um sie herum gruppiert. Ein Roman wie ein unvergleichliches Gemälde, voller Poesie und leisen Humors, scharf beobachtet und unsentimental.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.12.2004 Band 41
Für eine Prise Illusionen
Andrzej Szczypiorskis Roman „Die schöne Frau Seidenman”
Der Roman wirkt einfach gebaut, aber das Einfache stellt sich hier nur ein, weil ein kluger Erzähler, der bereits aus der Erfahrung von mehr als zehn Romanen schreiben konnte, souverän mit einem raffinierten Einfall umzugehen wusste. Die Geschichte scheint eine Botschaft zu haben, die zumal deutschen Lesern wohl tut, aber so einfach, wie sie manche haben wollten, ist es nicht mit ihr. Fast zwanzig Jahre sind vergangen, seit „Die schöne Frau Seidenman” in einem Exilverlag in Paris veröffentlicht wurde, sechzehn, seit der Roman auf dem Umweg über Deutschland in aller Welt zum Bestseller wurde, und vier, seit Szczypiorski, der sich mit ihm als populärer Kongressredner der europäischen Versöhnung profilierte, in Warschau gestorben ist. In dieser Zeit ist die Empörung niedergebrannt, den der Roman in Polen einst hervorrief, und deutschsprachige Leser von heute werden ihn aus anderen Gründen schätzen als jene von 1988.
Warschau im Jahr 1943: Polen ist seit Jahren okkupiert, die Leiden der Zivilbevölkerung sind entsetzlich, der Aufstand im Ghetto wird grausam niedergeschlagen, die Vernichtung der Juden geht in ihre letzte, beschleunigte Phase der „Endlösung”. In diese Szenerie der Gewalt stellt Szczypiorski seine Gestalten, mehr als zwanzig brüchige, widersprüchliche, ganz normale Menschen, die sich allesamt bewähren müssen oder versagen können - oder auf prekäre Weise beides tun. Alle sind sie in die Geschehnisse der Okkupation verstrickt, doch Szczypiorski zeigt sie nicht so, wie sie dem Klischee zufolge sein müssten: Da gibt es auch den Deutschen, der die Polen liebt, die fromm katholischen Polen, die sich als „Gaffer” anstellen, wenn Juden malträtiert werden, und den polnischen Kriminellen, der unter Lebensgefahr eine Jüdin aus dem Ghetto rettet.
Darin könnte man die schale Botschaft vernehmen, dass es eben auch in Zeiten des Krieges Würdige und Unwürdige gibt, dass auf allen Seiten Böse und Gute zu finden sind und, vor allem, viele, die aus bösen und guten Eigenschaften gemischt sind, sodass sich am Ende Täter und Opfer ungebührlich nahe geraten. Der große Erfolg in Deutschland mag ein wenig damit zu tun gehabt haben, dass von der Vernichtung der Juden erzählt wird, aber weder alle Deutschen sich daran beteiligen, noch es die Deutschen alleine sind, die das schändliche Werk vollziehen. Das Skandalon für polnische Leser lag hingegen darin, dass der Autor mutig den polnischen Antisemitismus thematisierte und danach fragte, ob sich nicht auch manche Polen schuldig gemacht hatten: Indem sie den Massenmord an den Juden, ihren Nachbarn seit jeher, ohne Mitgefühl hinnahmen.
Natürlich hat Szczypiorski seinen Roman über das Jahr 1943 mit dem Wissen geschrieben, das er vierzig Jahre später hatte. Aber er hatte den glänzenden Einfall, seinen allwissenden Erzähler nicht nur in die Gedanken und Seelen seiner Gestalten sehen, sondern ihn auch wissen zu lassen, was aus all diesen Figuren in ihrem weiteren Leben noch wurde. Der Roman führt über den historischen Moment, den er präzise fasst, hinaus; er zeigt seine Protagonisten Jahrzehnte später und spiegelt ihr Verhalten in der Stunde der Bewährung und des Verrats darin, wie es ihnen nach der nazistischen Barbarei erging. Dieser Erzähler weiß, wie wenig manchem seine Feigheit einbringen wird, dass sich Lauterkeit oft nicht bezahlt machte und den meisten, die überlebten, nicht viel mehr blieb als „eine Hand voll Leiden und eine Prise Illusionen”.
KARL-MARKUS GAUSS
Andrzej Szczypiorski
Foto: Isolde Ohlbaum
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Für eine Prise Illusionen
Andrzej Szczypiorskis Roman „Die schöne Frau Seidenman”
Der Roman wirkt einfach gebaut, aber das Einfache stellt sich hier nur ein, weil ein kluger Erzähler, der bereits aus der Erfahrung von mehr als zehn Romanen schreiben konnte, souverän mit einem raffinierten Einfall umzugehen wusste. Die Geschichte scheint eine Botschaft zu haben, die zumal deutschen Lesern wohl tut, aber so einfach, wie sie manche haben wollten, ist es nicht mit ihr. Fast zwanzig Jahre sind vergangen, seit „Die schöne Frau Seidenman” in einem Exilverlag in Paris veröffentlicht wurde, sechzehn, seit der Roman auf dem Umweg über Deutschland in aller Welt zum Bestseller wurde, und vier, seit Szczypiorski, der sich mit ihm als populärer Kongressredner der europäischen Versöhnung profilierte, in Warschau gestorben ist. In dieser Zeit ist die Empörung niedergebrannt, den der Roman in Polen einst hervorrief, und deutschsprachige Leser von heute werden ihn aus anderen Gründen schätzen als jene von 1988.
Warschau im Jahr 1943: Polen ist seit Jahren okkupiert, die Leiden der Zivilbevölkerung sind entsetzlich, der Aufstand im Ghetto wird grausam niedergeschlagen, die Vernichtung der Juden geht in ihre letzte, beschleunigte Phase der „Endlösung”. In diese Szenerie der Gewalt stellt Szczypiorski seine Gestalten, mehr als zwanzig brüchige, widersprüchliche, ganz normale Menschen, die sich allesamt bewähren müssen oder versagen können - oder auf prekäre Weise beides tun. Alle sind sie in die Geschehnisse der Okkupation verstrickt, doch Szczypiorski zeigt sie nicht so, wie sie dem Klischee zufolge sein müssten: Da gibt es auch den Deutschen, der die Polen liebt, die fromm katholischen Polen, die sich als „Gaffer” anstellen, wenn Juden malträtiert werden, und den polnischen Kriminellen, der unter Lebensgefahr eine Jüdin aus dem Ghetto rettet.
Darin könnte man die schale Botschaft vernehmen, dass es eben auch in Zeiten des Krieges Würdige und Unwürdige gibt, dass auf allen Seiten Böse und Gute zu finden sind und, vor allem, viele, die aus bösen und guten Eigenschaften gemischt sind, sodass sich am Ende Täter und Opfer ungebührlich nahe geraten. Der große Erfolg in Deutschland mag ein wenig damit zu tun gehabt haben, dass von der Vernichtung der Juden erzählt wird, aber weder alle Deutschen sich daran beteiligen, noch es die Deutschen alleine sind, die das schändliche Werk vollziehen. Das Skandalon für polnische Leser lag hingegen darin, dass der Autor mutig den polnischen Antisemitismus thematisierte und danach fragte, ob sich nicht auch manche Polen schuldig gemacht hatten: Indem sie den Massenmord an den Juden, ihren Nachbarn seit jeher, ohne Mitgefühl hinnahmen.
Natürlich hat Szczypiorski seinen Roman über das Jahr 1943 mit dem Wissen geschrieben, das er vierzig Jahre später hatte. Aber er hatte den glänzenden Einfall, seinen allwissenden Erzähler nicht nur in die Gedanken und Seelen seiner Gestalten sehen, sondern ihn auch wissen zu lassen, was aus all diesen Figuren in ihrem weiteren Leben noch wurde. Der Roman führt über den historischen Moment, den er präzise fasst, hinaus; er zeigt seine Protagonisten Jahrzehnte später und spiegelt ihr Verhalten in der Stunde der Bewährung und des Verrats darin, wie es ihnen nach der nazistischen Barbarei erging. Dieser Erzähler weiß, wie wenig manchem seine Feigheit einbringen wird, dass sich Lauterkeit oft nicht bezahlt machte und den meisten, die überlebten, nicht viel mehr blieb als „eine Hand voll Leiden und eine Prise Illusionen”.
KARL-MARKUS GAUSS
Andrzej Szczypiorski
Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Jedes Porträt für sich ist ein Meisterstück, und die Komposition des ganzen Romans ist es erst recht: ein Erinnerungsbuch als weiterwirkendes Stück Weltliteratur, damit diese Welt vielleicht ein bißchen besser würde. Die Utopie hat die Kraft des Trostes." Salzburger Nachrichten
"Das macht Szczypiorskis Roman so überzeugend: daß er zwar Systeme verurteilt und Ideologien an den Pranger stellt, aber nie über Menschen den Stab bricht, auch über den erbärmlichsten nicht." Die Weltwoche
"Ein leises und poetisches Buch, das ausspricht, was beim Namen genannt zu werden verdient - damit wir nicht vergessen, was niemand mehr hören und sehen und wissen mag." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Ein Erinnerungsbuch als weiterwirkendes Stück Weltliteratur." Salzburger Nachrichten "Ein leises und poetisches Buch." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Das macht Szczypiorskis Roman so überzeugend: daß er zwar Systeme verurteilt und Ideologien an den Pranger stellt, aber nie über Menschen den Stab bricht, auch über den erbärmlichsten nicht." Die Weltwoche
"Ein leises und poetisches Buch, das ausspricht, was beim Namen genannt zu werden verdient - damit wir nicht vergessen, was niemand mehr hören und sehen und wissen mag." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Ein Erinnerungsbuch als weiterwirkendes Stück Weltliteratur." Salzburger Nachrichten "Ein leises und poetisches Buch." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Szczypiorski belegt, daß der Roman keineswegs tot ist, daß menschliche Schicksale im doppelten Sog der Geschichte und der Zeit noch immer auf höchstem Niveau in der Romanform darstellbar sind."(Neue Zürcher Zeitung)