Die philosophischen Positionen Blanchots sind seit langem fester Bestandteil der zeitgenössischen Theoriediskussionen und haben so unterschiedliche Köpfe wie Deleuze, Derrida oder Foucault massgeblich geprägt. Aus den Überlegungen des späten Blanchot, der sich zunehmend intensiver mit der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten auseinandersetzt und deren Konsequenzen zu erfassen versucht, ging das vorliegende Buch hervor. Es ist eine Sammlung von Fragmenten und Gedankensplittern, die teils streng philosophischen, teils mediativen, teils literarischen Charakter haben und die allesamt Reflexionen über das Ereignis bilden, das mit dem Namen "Auschwitz" zu bezeichnen Gewohnheit geworden ist. Die herausragende Qualität von Desaster ist es, dass dieses Buch nicht einfach auf den "Gegenstand" der Reflexionen zielt und die Vernichtung der Juden zum Thema macht, sondern zugleich und in erster Linie eine Reflexion auf die Form des Denkens selbst bildet. Das tut es in der Annahme, ein derart epochales Ereignis könne nicht ohne Folgen für das Denken gewesen sein und müsse auch seine elementaren Formen affiziert haben. "Nach Auschwitz" ist das Vertrauen in die traditionellen Methoden des diskursiven Denkens zerbrochen, das Denken selbst ist zu Bruch gegangen. Aus diesem Grund unternimmt Blanchot es, das Unheile des Bruchstücks als eine neue Denkform zu entwickeln. In dieser Perspektive ist seine Schrift nichts geringeres als eine Art Discours de la méthode aus dem Geist des Fragmentarischen, eine Abhandlung über die Methode des Denkens unter den Bedingungen des absoluten Zusammenbruchs und im Zeitalter des Desasters.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2006Es kann kein Miteinander geben
Provokante Passivität: Maurice Blanchots „Die Schrift des Desasters”
Sein Vater sprach mit den Kindern am liebsten Latein, doch der Essayist und Schriftsteller Maurice Blanchot, an dessen Texten Michel Foucault „die Erfahrung der Sprache” machte, kam nicht nur aus einem gebildeten, katholisch-konservativen Milieu, es war auch rechtsnational. Seine Familie hatte, seit sie in den Adelsstand erhoben worden war, mehr als hundert Jahre Zeit gehabt, vornehm zu werden. Blanchots Erziehung aber trieb ihn direkt auf die viel begangenen radikalen Irrwege der dreißiger Jahre. Damals schrieb der junge Feuilletonist für Blätter wie „Le rempart” oder „Combat”, in denen eine konservative Revolution gefordert wurde, auch von Blanchot.
Seine Rechtslastigkeit hat man ihm später übel genommen, doch Blanchot war immer schwierig einzuordnen. Schon 1933 bezeichnete der Sechsundzwanzigjährige Hitler als „Demagogen” und sprach von „antisemitischer Barbarei”. Andererseits gehört die heute weit verbreitete Meinung, es gebe keine antisemitischen Aussagen von Blanchot, in das Reich wohlwollender Legenden. Auch die lebenslange Freundschaft mit dem litauisch-jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas, den Blanchot achtzehnjährig beim Studium in Straßburg kennen gelernt hatte, schützte ihn nicht davor.
Während der dreißiger Jahre wird Blanchot zunächst schärfer. Léon Blum an der Spitze der Regierung gefällt ihm nicht. Blanchot warnt in „Combat” und „L`Insurgé” vor dem „israelisch-marxistischen Klan”, wirft „Sowjets, Juden und Kapitalisten” aus national-konservativer Sicht in einen Topf, schwärmt von „französischem Blut.”
Blanchot machte allerdings auch eine radikalere Wandlung durch als etwa Paul de Man. Im Sommer 1940 retteten Blanchot und seine Schwester den ehemals rechtsnationalen Journalisten Paul Lévi und kümmerten sich um die Angehörigen des verhafteten Lévinas. Blanchot schloss sich der Résistance an, fuhr später Verfolgte über die Grenzen von Vichy, fand zu einem unorthodoxen Kommunismus, stellte sich im Algerien-Krieg, das Recht auf soldatischen Ungehorsam betonend, auf die Seite der Kolonisierten und gehörte auch zu jenen Intellektuellen, die im Pariser Mai 1968 mit den Studenten auf die Straße gingen. Ohne deswegen je zum Sartre zu werden.
Blanchot, sein Leben lang politisch engagiert, beharrte auf der Autonomie der Literatur, ihrer Freiheit und Kraft zur Grenzüberschreitung. Das Interesse des 2003 im Alter von fünfundneunzig Jahren Verstorbenen galt nicht mehr dem behaupteten Ganzen der Ideologie, an seine Stelle war schon lange die eher fragmentarische Wirklichkeit getreten.
Davon zeugt einer der philosophischen Schlüsseltexte Blanchots, der - ein Vierteljahrhundert verspätet - in der Reihe „Genozid und Gedächtnis” des Wilhelm Fink Verlags auf Deutsch erschienen ist: „Die Schrift des Desasters”, zu deren Verständnis Blanchots wechselvoller Werdegang als Hintergrund unverzichtbar ist. Der oft versteckte Schwerpunkt der darin versammelten, eine Zeile bis mehrere Seiten langen Texte, ist der Holocaust. Er ist für den siebzigjährigen Blanchot „absolutes Ereignis” und „Allbrand”, an dem „die Bewegung des Sinns zugrunde gegangen ist”. Doch es nützt nichts, ihn zu vergessen. „Wie ihn bewahren” lautet die Frage, „wie aus dem Denken das machen, was den Holocaust bewahren könnte, in dem alles verloren gegangen ist, auch das bewahrende Denken.”
Fremde Fragmente
Blanchots Versuch einer Antwort auf die paradoxe Frage gibt „Die Schrift des Desasters” selbst. Nicht zuletzt in ihrer Form. Ähnlich wie der damals in Frankreich kaum bekannte Adorno nimmt Blanchot an, dass der absolute Rassismus der Nazis nicht nur das Denken, sondern auch seine überkommenen Darstellungsformen zerstört habe; und dass das „Unheile” der einzelnen, zersplitterten Aussage der Wirklichkeit näher komme als „irgendein Systemtext”. Das Fragment, der Aphorismus sind bei Blanchot „Solitäre”: Es gibt keinen Zusammenhang mehr. „So steht jedes Fragment”, heißt es, „zu jedem anderen in einem Verhältnis der Fremdheit”. Gemeinsam ist ihnen allenfalls die Sache, von der sie zu sprechen versuchen.
Diese Sicht ermöglicht Blanchot eine von erzwungenen Begradigungen befreite Interpretation des „widersprüchlichen” Nietzsche. Es geht, so Blanchot, bei Nietzsche nicht um die Frage, ob dessen Denken widersprüchlich war oder nicht. „Die Rede des Fragments”, so Blanchot, „kennt den Widerspruch nicht, selbst wenn sie widerspricht. Zwei fragmentarische Texte mögen sich entgegensetzen, es setzt sich einer nur in die Nähe des anderen.”
Die in der „Schrift des Desasters” enthaltenen Texte wollen kein Weltbild schaffen. Wichtig ist ihnen ein Schreiben, das auf jede herrische Souveränität der Wirklichkeit gegenüber verzichtet, die Kraft der provokativen „Passivität” pflegt. Bis zur vollständigen Verweigerung: „Einen Text vor seinem Buchunglück retten....” formulierte Lévinas, Blanchot ergänzt mit Schleiermacher: „Wenn ich ein Werk hervorbringe, verzichte ich darauf, mich hervorzubringen und mich selbst zu formulieren, indem ich mich in einer äußeren Sache vollende und mich in den anonymen Zusammenhang der Menschheit einfüge.” Das Beharren auf dem Nicht-Tun ist die Tat. Wie ein ironischer Kommentar aus der Vergangenheit wirkt da, dass der junge Aktivist Blanchot sich in einer seiner ersten Veröffentlichungen Mahatma Gandhi kritisierte.
Blanchots Rede vom Fragment verneint traditionelle Ansprüche an Geschlossenheit, macht aber keineswegs unangreifbar. Es bleiben Lücken zwischen den einzelnen Sätzen. Mit der Absolutsetzung des Holocaust, seiner quasi geschichtsendenden Funktion, entlastet sich Blanchot allzu elegant von der analytischen Frage, wie wichtig der Zusammenhang zwischen intellektuellem Rechtsnationalismus, ökonomischer Macht, Gewalt und Antisemitismus war. Hierzu sollte man noch immer eher Julien Bendas „Verrat der Intellektuellen” lesen. Blanchot weicht der eigenen politischen Genealogie aus.
Wobei erwähnt werden muss, dass der Blanchot der achtziger Jahre in Briefen, deren Text in einer später nie erschienenen Sondernummer der Zeitschrift „Cahiers de l`Herne” hätte stehen sollen, keinen Zweifel daran ließ, dass die Kritik an seinem frühen politischen Engagement „berechtigt” war, viele seiner damaligen Texte „verachtenswert” und „unentschuldbar”.
So großsprecherisch wissensgewiss der frühe Blanchot sich gab, so zurückhaltend erscheint manchmal der ältere. Lévinas ergänzend und Heidegger kritisierend richtet sich seine Philosophie auf „die Freundschaft”, „den Anderen”. Wie aber kommuniziert man mit dem, der als Anderer naturgemäß immer ein radikal Anderes vertreten muss? Menschen stehen nach Blanchot wie zwei Fragmente nebeneinander. Die, wie es im nicht sehr mutigen, aber ansonsten überzeugenden Nachwort heißt, „unverfügbare Fremdheit” des Anderen „geht nicht in eine harmonische Fügung ein.” Es kann nach Blanchot im strengen Sinn kein Miteinander einzelner Menschen geben. Aber die Sterblichkeit des Anderen macht mich zu seinem Hüter.
So führt die zerstörerische Kraft des Desasters bei Blanchot in die Zerstückelung von Denken, Form und Lebensverhältnissen, aber auch in eine neue Ethik, die den Anderen als Einzelnen annimmt, ohne ihn zu vereinnahmen.
HANS-PETER KUNISCH
MAURICE BLANCHOT: Die Schrift des Desasters. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg und Hinrich Weidemann. Wilhelm Fink-Verlag. München 2005. 190 Seiten, 19,90 Euro.
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Provokante Passivität: Maurice Blanchots „Die Schrift des Desasters”
Sein Vater sprach mit den Kindern am liebsten Latein, doch der Essayist und Schriftsteller Maurice Blanchot, an dessen Texten Michel Foucault „die Erfahrung der Sprache” machte, kam nicht nur aus einem gebildeten, katholisch-konservativen Milieu, es war auch rechtsnational. Seine Familie hatte, seit sie in den Adelsstand erhoben worden war, mehr als hundert Jahre Zeit gehabt, vornehm zu werden. Blanchots Erziehung aber trieb ihn direkt auf die viel begangenen radikalen Irrwege der dreißiger Jahre. Damals schrieb der junge Feuilletonist für Blätter wie „Le rempart” oder „Combat”, in denen eine konservative Revolution gefordert wurde, auch von Blanchot.
Seine Rechtslastigkeit hat man ihm später übel genommen, doch Blanchot war immer schwierig einzuordnen. Schon 1933 bezeichnete der Sechsundzwanzigjährige Hitler als „Demagogen” und sprach von „antisemitischer Barbarei”. Andererseits gehört die heute weit verbreitete Meinung, es gebe keine antisemitischen Aussagen von Blanchot, in das Reich wohlwollender Legenden. Auch die lebenslange Freundschaft mit dem litauisch-jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas, den Blanchot achtzehnjährig beim Studium in Straßburg kennen gelernt hatte, schützte ihn nicht davor.
Während der dreißiger Jahre wird Blanchot zunächst schärfer. Léon Blum an der Spitze der Regierung gefällt ihm nicht. Blanchot warnt in „Combat” und „L`Insurgé” vor dem „israelisch-marxistischen Klan”, wirft „Sowjets, Juden und Kapitalisten” aus national-konservativer Sicht in einen Topf, schwärmt von „französischem Blut.”
Blanchot machte allerdings auch eine radikalere Wandlung durch als etwa Paul de Man. Im Sommer 1940 retteten Blanchot und seine Schwester den ehemals rechtsnationalen Journalisten Paul Lévi und kümmerten sich um die Angehörigen des verhafteten Lévinas. Blanchot schloss sich der Résistance an, fuhr später Verfolgte über die Grenzen von Vichy, fand zu einem unorthodoxen Kommunismus, stellte sich im Algerien-Krieg, das Recht auf soldatischen Ungehorsam betonend, auf die Seite der Kolonisierten und gehörte auch zu jenen Intellektuellen, die im Pariser Mai 1968 mit den Studenten auf die Straße gingen. Ohne deswegen je zum Sartre zu werden.
Blanchot, sein Leben lang politisch engagiert, beharrte auf der Autonomie der Literatur, ihrer Freiheit und Kraft zur Grenzüberschreitung. Das Interesse des 2003 im Alter von fünfundneunzig Jahren Verstorbenen galt nicht mehr dem behaupteten Ganzen der Ideologie, an seine Stelle war schon lange die eher fragmentarische Wirklichkeit getreten.
Davon zeugt einer der philosophischen Schlüsseltexte Blanchots, der - ein Vierteljahrhundert verspätet - in der Reihe „Genozid und Gedächtnis” des Wilhelm Fink Verlags auf Deutsch erschienen ist: „Die Schrift des Desasters”, zu deren Verständnis Blanchots wechselvoller Werdegang als Hintergrund unverzichtbar ist. Der oft versteckte Schwerpunkt der darin versammelten, eine Zeile bis mehrere Seiten langen Texte, ist der Holocaust. Er ist für den siebzigjährigen Blanchot „absolutes Ereignis” und „Allbrand”, an dem „die Bewegung des Sinns zugrunde gegangen ist”. Doch es nützt nichts, ihn zu vergessen. „Wie ihn bewahren” lautet die Frage, „wie aus dem Denken das machen, was den Holocaust bewahren könnte, in dem alles verloren gegangen ist, auch das bewahrende Denken.”
Fremde Fragmente
Blanchots Versuch einer Antwort auf die paradoxe Frage gibt „Die Schrift des Desasters” selbst. Nicht zuletzt in ihrer Form. Ähnlich wie der damals in Frankreich kaum bekannte Adorno nimmt Blanchot an, dass der absolute Rassismus der Nazis nicht nur das Denken, sondern auch seine überkommenen Darstellungsformen zerstört habe; und dass das „Unheile” der einzelnen, zersplitterten Aussage der Wirklichkeit näher komme als „irgendein Systemtext”. Das Fragment, der Aphorismus sind bei Blanchot „Solitäre”: Es gibt keinen Zusammenhang mehr. „So steht jedes Fragment”, heißt es, „zu jedem anderen in einem Verhältnis der Fremdheit”. Gemeinsam ist ihnen allenfalls die Sache, von der sie zu sprechen versuchen.
Diese Sicht ermöglicht Blanchot eine von erzwungenen Begradigungen befreite Interpretation des „widersprüchlichen” Nietzsche. Es geht, so Blanchot, bei Nietzsche nicht um die Frage, ob dessen Denken widersprüchlich war oder nicht. „Die Rede des Fragments”, so Blanchot, „kennt den Widerspruch nicht, selbst wenn sie widerspricht. Zwei fragmentarische Texte mögen sich entgegensetzen, es setzt sich einer nur in die Nähe des anderen.”
Die in der „Schrift des Desasters” enthaltenen Texte wollen kein Weltbild schaffen. Wichtig ist ihnen ein Schreiben, das auf jede herrische Souveränität der Wirklichkeit gegenüber verzichtet, die Kraft der provokativen „Passivität” pflegt. Bis zur vollständigen Verweigerung: „Einen Text vor seinem Buchunglück retten....” formulierte Lévinas, Blanchot ergänzt mit Schleiermacher: „Wenn ich ein Werk hervorbringe, verzichte ich darauf, mich hervorzubringen und mich selbst zu formulieren, indem ich mich in einer äußeren Sache vollende und mich in den anonymen Zusammenhang der Menschheit einfüge.” Das Beharren auf dem Nicht-Tun ist die Tat. Wie ein ironischer Kommentar aus der Vergangenheit wirkt da, dass der junge Aktivist Blanchot sich in einer seiner ersten Veröffentlichungen Mahatma Gandhi kritisierte.
Blanchots Rede vom Fragment verneint traditionelle Ansprüche an Geschlossenheit, macht aber keineswegs unangreifbar. Es bleiben Lücken zwischen den einzelnen Sätzen. Mit der Absolutsetzung des Holocaust, seiner quasi geschichtsendenden Funktion, entlastet sich Blanchot allzu elegant von der analytischen Frage, wie wichtig der Zusammenhang zwischen intellektuellem Rechtsnationalismus, ökonomischer Macht, Gewalt und Antisemitismus war. Hierzu sollte man noch immer eher Julien Bendas „Verrat der Intellektuellen” lesen. Blanchot weicht der eigenen politischen Genealogie aus.
Wobei erwähnt werden muss, dass der Blanchot der achtziger Jahre in Briefen, deren Text in einer später nie erschienenen Sondernummer der Zeitschrift „Cahiers de l`Herne” hätte stehen sollen, keinen Zweifel daran ließ, dass die Kritik an seinem frühen politischen Engagement „berechtigt” war, viele seiner damaligen Texte „verachtenswert” und „unentschuldbar”.
So großsprecherisch wissensgewiss der frühe Blanchot sich gab, so zurückhaltend erscheint manchmal der ältere. Lévinas ergänzend und Heidegger kritisierend richtet sich seine Philosophie auf „die Freundschaft”, „den Anderen”. Wie aber kommuniziert man mit dem, der als Anderer naturgemäß immer ein radikal Anderes vertreten muss? Menschen stehen nach Blanchot wie zwei Fragmente nebeneinander. Die, wie es im nicht sehr mutigen, aber ansonsten überzeugenden Nachwort heißt, „unverfügbare Fremdheit” des Anderen „geht nicht in eine harmonische Fügung ein.” Es kann nach Blanchot im strengen Sinn kein Miteinander einzelner Menschen geben. Aber die Sterblichkeit des Anderen macht mich zu seinem Hüter.
So führt die zerstörerische Kraft des Desasters bei Blanchot in die Zerstückelung von Denken, Form und Lebensverhältnissen, aber auch in eine neue Ethik, die den Anderen als Einzelnen annimmt, ohne ihn zu vereinnahmen.
HANS-PETER KUNISCH
MAURICE BLANCHOT: Die Schrift des Desasters. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg und Hinrich Weidemann. Wilhelm Fink-Verlag. München 2005. 190 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit einem Vierteljahrhundert Verspätung erscheint "Die Schrift des Desasters", die als einer von Maurice Blanchots "philosophischen Schlüsseltexten" gelten kann, nun begrüßenswerterweise auf Deutsch, erklärt Rezensent Hans-Peter Kunisch. Diesen Text zu verstehen, so Kunisch weiter, setzt jedoch voraus, dass man Blanchots bewegten gedanklichen und politischen Werdegang - vom erznationalen Antisemiten zum Mitglied der Resistance - kennt. Im Mittelpunkt dieser Schrift, wenn auch eher versteckt, stehe das titelgebende Desaster: der Holocaust und die mit ihm einhergehende Zerstörung des Denkens und seiner Repräsentationsformen. Aus dieser festgestellten Zerstörung ergebe sich für Blanchot die "paradoxe" Frage: Wie kann man "aus dem Denken das machen, was den Holocaust bewahren könnte, in dem alles verloren gegangen ist, auch das bewahrende Denken"? In seinem Versuch, diese Frage zu beantworten, greife Blanchot zu einer fragmentarischen Darstellungsweise. Doch wie der Rezensent feststellt, macht diese Abwesenheit eines absoluten Gültigkeitsanspruchs gegenüber der Wirklichkeit Blanchots Position nicht unangreifbar. Für Kunisch stiehlt sich Blanchot an seiner eigenen "politischen Genealogie" vorbei, insofern als er sich mit der Verabsolutierung des Holocaust und dessen geschichtsbeendendem Charakter der Frage nach dem "Zusammenhang zwischen intellektuellem Rechtsnationalismus, ökonomischer Macht, Gewalt und Antisemitismus" entziehe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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