Zehn Zeilen - mehr hat Marc Rappaport einem 27 Jahre zurückliegenden Prostituiertenmord, der jetzt durch DNA-Abgleich gelöst sein soll, nicht zu widmen gedacht. Und doch will er mehr über die Geschichte der jungen Frau erfahren, die mit 18 aus der Enge ihrer Industriekleinstadt nach Paris floh, um zu studieren, und dort in die Prostitution schlitterte. Dabei stößt er bald auf einen Skandal von schockierendem Ausmaß, der die unlösbaren Verstrickungen von Wirtschaft, Geld und Politik durchscheinen lässt. Was als klassische Ermittlungsgeschichte beginnt, entpuppt sich bald als ein atmosphärisch dichter und mit souveräner Leichtigkeit erzählter Gesellschaftsroman über ein ganzes Land und unsere Gegenwart.
buecher-magazin.deEin heißer Sommer in Paris, ein junger Enthüllungsjournalist, der auf einen fast 30 Jahre alten ungeklärten Mord an einer jungen Prostituierten stößt, ein verdächtiger, aber unscheinbarer Beamter, der deswegen verhaftet wird, und ein vertuschter Wirtschafts- und Umweltskandal, der Spuren bis in die höchsten Positionen der französischen Politik zieht: All das verwebt die deutsche Schriftstellerin Gila Lustiger, die bisher für ihre intensiven Familienromane bekannt wurde, zu einem mitreißenden Thriller. In einer klaren präzisen Sprache verbindet sie geschickt mehrere parallele Handlungsstränge, die sowohl hochspannend als auch berührend sind: Der couragierte Journalist Marc Rappaport, der aus einer angesehenen Industriellenfamilie stammt, gerät bei seinen Recherchen über einen Sexualmord tief hinein in einen Wirtschaftsskandal, der in den 70er- und 80er-Jahren begann und bis heute wirkt. Bei seinen Recherchen in der französischen Provinz findet er eine Verbindung zwischen der toten Prostituierten und einem nie dagewesenen Umweltskandal. Die gewalttätige Lawine, die er damit auslöst, droht ihn beinahe selber zu verschütten. Neben dem wahren Mörder entdeckt Rappaport ein finsteres Kapitel in der eigenen Familienhistorie, das er selbst über lange Jahre verdrängt hat.
© BÜCHERmagazin, Michael Pöppl (mpö)
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sandra Kegel scheint der Blick von außen bedeutsam, wenn Gila Lustiger, die allerdings seit 30 Jahren in Paris lebt, die kriminellen Verflechtungen von Wirtschaft und Politik in Frankreich literarisch untersucht. Was dabei über die gesellschaftliche Wirklichkeit ans Licht kommt, lässt Kegel ungläubig staunen. Allerdings handelt es sich um einen Krimi. Daher freut sich Kegel auch über die Spannung, die auf den Recherchen der Autorin fußen und auf einem Plot, der auf einen alten Prostituiertenmordfall während der Mitterand-Zeit zurückgreift, um Bestechung, Gewalt und Armut zwischen Frankreichs Eliten und Frankreichs Banlieues auszuleuchten. Eine böse Lektion, findet die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2015Unstillbare Gier
Gila Lustiger kennt Frankreichs verkommene Sitten
Vielleicht braucht es den Blick von außen, um sich der gesellschaftlichen Gegenwart Frankreichs so schonungslos zu nähern, wie dies Gila Lustiger in ihrem Gesellschaftsthriller tut. "Die Schuld der Anderen" ist dabei nicht nur ihr erster Krimi - die 1963 in Frankfurt geborene Autorin, die seit fast dreißig Jahren in Paris lebt, wendet sich darin ihrer Wahlheimat erstmals auch literarisch zu. Und wirft einen so unbestechlichen wie entlarvenden Blick auf die Verfilzungen der Grande Nation, wie dies derzeit vielleicht nur noch Michel Houellebecq wagt.
Über die Umkehrung der eigenen Geschichte, dass sie mithin erst im Nachhinein über die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz erfuhr, davon handelte Gila Lustigers hochgelobter Familienroman "So sind wir", der im Jahr 2005 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Eine ähnliche Konstellation, die nicht unwesentlich zur Spannung beiträgt und erst am Ende ihre ruinöse Wirkung entfaltet, liegt auch dieser Geschichte zugrunde. Im Zentrum steht der Journalist Marc Rappaport. Der einzelgängerische Sohn aus vermögendem Hause, Mutter katholisch, Vater jüdisch, Absolvent gleich mehrerer Eliteschulen des Landes, hat mit der eigenen Sippe nicht viel am Hut. Stattdessen deckt er Artikel um Artikel die Machenschaften derjenigen auf, die sich ihr Leben in Neuilly oder Biarritz mit Steuerhinterziehung, Korruption und Schattenwirtschaft ermöglichen.
Von den Männern, die mit "schlafwandlerischer Sicherheit" immer neue Möglichkeiten erkennen, Geld zu verdienen, ist Rappaport gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen: dass sie sich auserkoren wähnen, weil sie auf der Erfolgsleiter ganz oben stehen, und es als ihr Recht erachten, sich zu nehmen, was immer sie begehren. Diese "Unstillbaren", denen noch der größte Reichtum zu eng, der beeindruckendste Erfolg zu bescheiden ist, will er zu Fall bringen. Dass das schwarze Schaf der Familie die Aufgabe mit jenem fiebrigen Eifer verfolgt, mit dem sein Großvater einst Millionen machte, ist nicht die einzige Ähnlichkeit des Ahnungslosen mit dem kriminellen Vorfahren.
Die Story, auf die Rappaport durch Zufall stößt, weitet sich von einer Zehn-Zeilen-Meldung rasch zum handfesten Skandal. Eigentlich wollte der Reporter nur herausfinden, was es mit einem ungeklärten Mord an einer Prostituierten vor siebenundzwanzig Jahren auf sich hat, der mit Hilfe einer DNA-Analyse angeblich aufgeklärt wurde. Doch dann stößt er bei seinen Recherchen in der Provinz auf die Machenschaften eines Futtermittelkonzerns, und die Geschichte der getöteten Emilie Thevenin führt ihn in ein komplexes System aus Bestechung, Gewalt und krimineller Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Denn dieser Konzern produzierte in den achtziger Jahren Vitamin A für die Massentierhaltung, doch das Verfahren stellte sich für die Arbeiter als krebserregend heraus, was jahrelang vertuscht wurde.
Zwei Jahre lang ist Gila Lustiger für ihren Stoff, der auf einem realen Fall fußt, durch Frankreich gereist und hat die deindustrialisierten Provinzen und die von Armut und Gewalt geprägten Banlieues besucht. Dass sie Frankreich nicht mehr verstanden habe - die Krawalle der Jugendlichen, die Streiks der Arbeiter, der Erfolg Marine Le Pens -, gab für sie nach eigener Aussage den Anstoß für das Buch.
Ihr Befund lässt sich in "Die Schuld der Anderen" nun nachlesen: dass nämlich die französische Elite sich nur noch aus sich selbst ernährt und wer aus den abgehängten Regionen Frankreichs kommt, keinerlei Aufstiegschancen hat. Wie die Pariser Politik ihre wirtschaftlichen Interessen ausspielt und wovon die französischen Eliten profitieren, beleuchtet die Autorin aus Reporter-Perspektive von der Mitterrand-Regierung bis in die Gegenwart. Die böse Lektion, die Gila Lustiger ihrem Protagonisten dabei zuletzt erteilt, ist nicht nur eine irre Volte. Sie straft auch den Titel Lügen.
SANDRA KEGEL
Gila Lustiger: "Die Schuld der Anderen".
Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2015. 496 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gila Lustiger kennt Frankreichs verkommene Sitten
Vielleicht braucht es den Blick von außen, um sich der gesellschaftlichen Gegenwart Frankreichs so schonungslos zu nähern, wie dies Gila Lustiger in ihrem Gesellschaftsthriller tut. "Die Schuld der Anderen" ist dabei nicht nur ihr erster Krimi - die 1963 in Frankfurt geborene Autorin, die seit fast dreißig Jahren in Paris lebt, wendet sich darin ihrer Wahlheimat erstmals auch literarisch zu. Und wirft einen so unbestechlichen wie entlarvenden Blick auf die Verfilzungen der Grande Nation, wie dies derzeit vielleicht nur noch Michel Houellebecq wagt.
Über die Umkehrung der eigenen Geschichte, dass sie mithin erst im Nachhinein über die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz erfuhr, davon handelte Gila Lustigers hochgelobter Familienroman "So sind wir", der im Jahr 2005 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Eine ähnliche Konstellation, die nicht unwesentlich zur Spannung beiträgt und erst am Ende ihre ruinöse Wirkung entfaltet, liegt auch dieser Geschichte zugrunde. Im Zentrum steht der Journalist Marc Rappaport. Der einzelgängerische Sohn aus vermögendem Hause, Mutter katholisch, Vater jüdisch, Absolvent gleich mehrerer Eliteschulen des Landes, hat mit der eigenen Sippe nicht viel am Hut. Stattdessen deckt er Artikel um Artikel die Machenschaften derjenigen auf, die sich ihr Leben in Neuilly oder Biarritz mit Steuerhinterziehung, Korruption und Schattenwirtschaft ermöglichen.
Von den Männern, die mit "schlafwandlerischer Sicherheit" immer neue Möglichkeiten erkennen, Geld zu verdienen, ist Rappaport gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen: dass sie sich auserkoren wähnen, weil sie auf der Erfolgsleiter ganz oben stehen, und es als ihr Recht erachten, sich zu nehmen, was immer sie begehren. Diese "Unstillbaren", denen noch der größte Reichtum zu eng, der beeindruckendste Erfolg zu bescheiden ist, will er zu Fall bringen. Dass das schwarze Schaf der Familie die Aufgabe mit jenem fiebrigen Eifer verfolgt, mit dem sein Großvater einst Millionen machte, ist nicht die einzige Ähnlichkeit des Ahnungslosen mit dem kriminellen Vorfahren.
Die Story, auf die Rappaport durch Zufall stößt, weitet sich von einer Zehn-Zeilen-Meldung rasch zum handfesten Skandal. Eigentlich wollte der Reporter nur herausfinden, was es mit einem ungeklärten Mord an einer Prostituierten vor siebenundzwanzig Jahren auf sich hat, der mit Hilfe einer DNA-Analyse angeblich aufgeklärt wurde. Doch dann stößt er bei seinen Recherchen in der Provinz auf die Machenschaften eines Futtermittelkonzerns, und die Geschichte der getöteten Emilie Thevenin führt ihn in ein komplexes System aus Bestechung, Gewalt und krimineller Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Denn dieser Konzern produzierte in den achtziger Jahren Vitamin A für die Massentierhaltung, doch das Verfahren stellte sich für die Arbeiter als krebserregend heraus, was jahrelang vertuscht wurde.
Zwei Jahre lang ist Gila Lustiger für ihren Stoff, der auf einem realen Fall fußt, durch Frankreich gereist und hat die deindustrialisierten Provinzen und die von Armut und Gewalt geprägten Banlieues besucht. Dass sie Frankreich nicht mehr verstanden habe - die Krawalle der Jugendlichen, die Streiks der Arbeiter, der Erfolg Marine Le Pens -, gab für sie nach eigener Aussage den Anstoß für das Buch.
Ihr Befund lässt sich in "Die Schuld der Anderen" nun nachlesen: dass nämlich die französische Elite sich nur noch aus sich selbst ernährt und wer aus den abgehängten Regionen Frankreichs kommt, keinerlei Aufstiegschancen hat. Wie die Pariser Politik ihre wirtschaftlichen Interessen ausspielt und wovon die französischen Eliten profitieren, beleuchtet die Autorin aus Reporter-Perspektive von der Mitterrand-Regierung bis in die Gegenwart. Die böse Lektion, die Gila Lustiger ihrem Protagonisten dabei zuletzt erteilt, ist nicht nur eine irre Volte. Sie straft auch den Titel Lügen.
SANDRA KEGEL
Gila Lustiger: "Die Schuld der Anderen".
Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2015. 496 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein ungeheuer intelligentes und spannendes Buch, das die französischen Verhältnisse der jüngeren Vergangenheit offenlegt. [...]. Ein echter Literaturdiamant, der durch seine vielen Facetten unglaublich viele Perspektiven des französischen Lebens und vieles, was in Frankreich vor sich geht, verständlich macht und zudem echte Spannung erzeugt.", Eschborner Zeitung, Stephan Schwammel, 01.02.2016