Vor dem Hintergrund der großen politischen Umbrüchedes 20. Jahrhunderts schildert Peter Betthausendetail- und kenntnisreich eine der imposantestenund längsten Museumskarrieren der deutschenGeschichte. Ludwig Justi prägte und gestaltete alsDirektor der Berliner Nationalgalerie (1909-1933)und als Generaldirektor der Staatlichen Museen zuBerlin in der DDR (1946-1957) annähernd fünfzigJahre das Kunst- und Museumsleben Berlins.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2010Die Stile kommen und gehen
Die Museen bleiben: Das Leben des Nationalgalerie-Direktors Ludwig Justi
Kathedrale der Gegenwart. Dieses Stichwort fällt mit schöner Regelmäßigkeit, wenn es um das Kunstmuseum in der Massenkultur von heute geht. So wie die profane Andacht des sonntäglichen Museumsbesuchs den Gang in die Kirche oder das Fußballstadion zu ersetzen beginnt, taugt die Charakterisierung, überdeckt aber auch die Probleme. Denn trotz seines Siegeszugs ist der Status des Kunstmuseums prekär. Hinter dem Drang zum spektakulären Event oder dem Umfunktionieren zum Workshop droht sein historischer und reflexiver Auftrag verloren zu gehen. Und was wäre die Rolle dieser Bilderbewahranstalt in einer Gesellschaft, die fast nur noch über Bilder kommuniziert?
Ganz abwegig ist der Gedanke nicht, bei der Suche nach einer Strategie für das Museum des 21. Jahrhunderts bei einem Mann nachzuforschen, der kaum als Mann des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Und der seit mehr als fünfzig Jahren tot ist: Ludwig Justi. Justi, der legendäre Direktor der Berliner Nationalgalerie, hat wie kaum ein anderer deutscher Museumsmann Museums- und Nationalgeschichte geschrieben. Schließlich stand er einer Institution vor, die wie kaum eine andere die kollektiven Fantasien der Deutschen kanalisierte und prägte. Und damals noch nicht mit den Agenten von Multimedia konkurrieren musste.
Der 1867 in Marburg als Sohn des Orientalisten Ferdinand Justi Geborene war – mit einer Unterbrechung – über vierzig Jahre Chef der Nationalgalerie. Nicht umsonst spricht sein Biograf Peter Betthausen, von 1985-1990 selbst Chef dieses Hauses, von der „überragenden historischen Bedeutung“ Justis. Hugo von Tschudi, sein direkter Vorgänger, war sehr viel kürzer im Amt, ist aber bekannter. Seit Kaiser Wilhelm II. den Abgang des Schweizer Edelmannes erzwang, weil er die Impressionisten in den preußischen Ruhmestempel eingeführt hatte, strahlt Tschudi als Held der französischen Avantgarde in Deutschland. Im Lichte von Betthausens fundierter Biografie hat Justi die Nationalgalerie der Moderne aber womöglich nachhaltiger geöffnet.
Kurz nach seinem Amtsantritt im November 1909 reduzierte Justi die Sammlung des Berliner Kaufmanns Wagener, aus der die Nationalgalerie entstanden war, auf die qualitätsvollen Stücke. Er beförderte die preußisch-deutschen Historienporträts und die Schlachtenbilder der Kriege 1864 bis 1870 von der Nationalgalerie in die Bauakademie. Unter seiner Ägide kamen die Expressionisten in das Haus, das „Der Deutschen Kunst“ gewidmet war. Franz Marcs (heute verschollenes) Bild „Turm der blauen Pferde“ machte den Anfang. Und Justi gelang der Coup, das Kronprinzenpalais nach der Revolution von 1918/19 zu einem vielbesuchten „Museum der Gegenwartskunst“ umzuwidmen.
Der Fortschrittsfront, bestehend aus Max Liebermann, seit 1920 Präsident der Akademie der Künste und dem Kunsthändler Bruno Cassirer, war das alles viel zu wenig. Auch der linksliberale Kunstkritiker Karl Scheffler schonte den ungeliebten Justi nicht. Die Frontlinie des damaligen Streits mutet heute bizarr an. Denn diese Fortschrittler meinten mit Moderne ausschließlich die Impressionisten. Für die Expressionisten hatte Liebermann nur das Wort von der „unreifen Kunst“ übrig. Während Justi die Impressionisten als „Dekadenzphänomen“ abtat.
Seine „Modernisierungserfolge“ sind einigermaßen verwunderlich. Denn kunsthistorisch war Justi in der Renaissance zu Hause. Er hatte über Albrecht Dürer promoviert und habilitiert. Als Professor in Halle und kurzzeitiger Direktor des Frankfurter Städels forschte er über den Renaissance-Maler Giorgione. Eine Arbeit, in die er sich wieder während der von den Nazis erzwungenen Auszeit von 1933 bis 1946 vertiefte. Programmatisch hielt er sich auffällig zurück. Betthausen vermerkt, dass Justi in den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit keinen kunsthistorischen Grundlagentext publiziert habe.
Das war womöglich Berechnung. Bot er doch so weder dem Hof noch der Kulturbürokratie Angriffspunkte. Hätte er es getan, wäre sein Zickzackkurs offenbar geworden. Von dem „neuen geistigen, antimaterialistischen Weltalter“, das er 1920 in einem Aufsatz über El Greco beschwor bis zu dem Leitsatz aus dem DDR-Jahr 1952: „Kunstwerke entstehen auf der Grundlage gesellschaftlicher Voraussetzungen“ reicht die Spanne der Haltungen, was Justi den Vorwurf eintrugen, ein aalglatter Karrierist zu sein. Bis heute befremdlich mutet sein Versuch an, Vincent van Gogh dem „nordischen Stil“ zuzuschlagen. Auch seine Räsonnements über den „germanischen Geist“ machten ihn den Nazis nicht genehmer.
In diesen opportunistischen Anwandlungen ist Justi für Museumsleute heute also kein Vorbild. Schon gar nicht in seinem Konservatismus. Betthausen erkennt resigniert, dass die Alten Meister „sein liebster Umgang“ waren. Die heraufdämmernde Abstraktion blieb ihm fremd. Bis zu seinem Tod 1957 „verlor er auch nie den Glauben die Abbildfunktion der Kunst“, resümiert Betthausen. Und mit Justis formalistischem Credo von der „formklaren Gestaltung ernster Gedanken“ wäre in der Postmoderne nun überhaupt kein Blumentopf zu gewinnen. Wenn der experimentierfreudige Chef der Nationalgalerie, Udo Kittelmann, heute etwas von Justi lernen könnte, dann die Gelassenheit, mit der er Stile kommen und gehen sah. Betthausen lobt an ihm, dass er auch die Moderne sah als „ein kunsthistorisches Kapitel mit Anfang und Ende, wie es viele gegeben hat“.
Hingebend schauen
„Schule des Sehens“ hat Betthausen seinen Band nicht umsonst genannt. Den Titel hat er der Ausstellung entlehnt, die Justi als Generaldirektor der Staatlichen Museen Ost-Berlin 1950 in den Räumen der wieder hergestellten Nationalgalerie ausrichtete. Die DDR versicherte sich mit der Wiedereinsetzung der Symbolwirkung eines Opfers des NS-Regimes. Ersparte ihm aber nicht die Schmach, 1953, auf dem Höhepunkt des Formalismus-Streits, Teile der (expressionistischen) Moderne aus einer seiner Ausstellungen zu entfernen.
Wer allerdings Justis Erbe nach Verwertbarem für Strategien der visuellen Kompetenz in der Bildergesellschaft von heute durchforstet, dürfte in Betthausens flüssig geschriebenen Band, der Institutionsgeschichte und Biografie geschickt verbindet, nur vage Andeutungen finden. Zwar hatte der „Augenmensch“ Justi schon seinen Nationalgalerie-Führer aus dem Jahr 1920 als „Anleitung zum Sehen“ verstanden wissen wollen. Den damit intendierten Elementarunterricht im Betrachten aber auf so schwammige Begriffe wie „Aufbau“, „Sachlichkeit“ und „gute Malerei“ gestützt. 27 Jahre später fordert er Besucher einer Ausstellung im Berliner Zeughaus auf, nicht zu fragen, „sondern schauen, geruhsam und hingebend schauen“. Mit diesem Vokabular käme heutzutage keiner Bachelor in ein Doktorandenkolleg der Visual Studies.
Die zeitgenössische Kunstgeschichte versucht sich mit dem Label „Kunstwissenschaft“ an der Quadratur des Kreises. Insofern sie Mechanismen der Geschmacksbildung und Bildfindung zu objektivieren sucht, die sich aus höchst subjektiven Energien speisen. Betthausen lobt an Justi das Primat des „sinnlichen Erfassens“. Mit den naiven Begriffen, in denen er ihn ausdrückte, dürfte sich das Kunstmuseum der Zukunft aber kaum behaupten können.
INGO AREND
PETER BETTHAUSEN: Schule des Sehens. Ludwig Justi und die Nationalgalerie. Matthes und Seitz, Berlin 2010. 400 Seiten, 29,90 Euro.
Max Pechstein (links) mit dem Direktor der Berliner Nationalgalerie Ludwig Justi bei seiner Ausstellung in der Berliner Sezession, 1931 Foto: Scherl
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Die Museen bleiben: Das Leben des Nationalgalerie-Direktors Ludwig Justi
Kathedrale der Gegenwart. Dieses Stichwort fällt mit schöner Regelmäßigkeit, wenn es um das Kunstmuseum in der Massenkultur von heute geht. So wie die profane Andacht des sonntäglichen Museumsbesuchs den Gang in die Kirche oder das Fußballstadion zu ersetzen beginnt, taugt die Charakterisierung, überdeckt aber auch die Probleme. Denn trotz seines Siegeszugs ist der Status des Kunstmuseums prekär. Hinter dem Drang zum spektakulären Event oder dem Umfunktionieren zum Workshop droht sein historischer und reflexiver Auftrag verloren zu gehen. Und was wäre die Rolle dieser Bilderbewahranstalt in einer Gesellschaft, die fast nur noch über Bilder kommuniziert?
Ganz abwegig ist der Gedanke nicht, bei der Suche nach einer Strategie für das Museum des 21. Jahrhunderts bei einem Mann nachzuforschen, der kaum als Mann des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Und der seit mehr als fünfzig Jahren tot ist: Ludwig Justi. Justi, der legendäre Direktor der Berliner Nationalgalerie, hat wie kaum ein anderer deutscher Museumsmann Museums- und Nationalgeschichte geschrieben. Schließlich stand er einer Institution vor, die wie kaum eine andere die kollektiven Fantasien der Deutschen kanalisierte und prägte. Und damals noch nicht mit den Agenten von Multimedia konkurrieren musste.
Der 1867 in Marburg als Sohn des Orientalisten Ferdinand Justi Geborene war – mit einer Unterbrechung – über vierzig Jahre Chef der Nationalgalerie. Nicht umsonst spricht sein Biograf Peter Betthausen, von 1985-1990 selbst Chef dieses Hauses, von der „überragenden historischen Bedeutung“ Justis. Hugo von Tschudi, sein direkter Vorgänger, war sehr viel kürzer im Amt, ist aber bekannter. Seit Kaiser Wilhelm II. den Abgang des Schweizer Edelmannes erzwang, weil er die Impressionisten in den preußischen Ruhmestempel eingeführt hatte, strahlt Tschudi als Held der französischen Avantgarde in Deutschland. Im Lichte von Betthausens fundierter Biografie hat Justi die Nationalgalerie der Moderne aber womöglich nachhaltiger geöffnet.
Kurz nach seinem Amtsantritt im November 1909 reduzierte Justi die Sammlung des Berliner Kaufmanns Wagener, aus der die Nationalgalerie entstanden war, auf die qualitätsvollen Stücke. Er beförderte die preußisch-deutschen Historienporträts und die Schlachtenbilder der Kriege 1864 bis 1870 von der Nationalgalerie in die Bauakademie. Unter seiner Ägide kamen die Expressionisten in das Haus, das „Der Deutschen Kunst“ gewidmet war. Franz Marcs (heute verschollenes) Bild „Turm der blauen Pferde“ machte den Anfang. Und Justi gelang der Coup, das Kronprinzenpalais nach der Revolution von 1918/19 zu einem vielbesuchten „Museum der Gegenwartskunst“ umzuwidmen.
Der Fortschrittsfront, bestehend aus Max Liebermann, seit 1920 Präsident der Akademie der Künste und dem Kunsthändler Bruno Cassirer, war das alles viel zu wenig. Auch der linksliberale Kunstkritiker Karl Scheffler schonte den ungeliebten Justi nicht. Die Frontlinie des damaligen Streits mutet heute bizarr an. Denn diese Fortschrittler meinten mit Moderne ausschließlich die Impressionisten. Für die Expressionisten hatte Liebermann nur das Wort von der „unreifen Kunst“ übrig. Während Justi die Impressionisten als „Dekadenzphänomen“ abtat.
Seine „Modernisierungserfolge“ sind einigermaßen verwunderlich. Denn kunsthistorisch war Justi in der Renaissance zu Hause. Er hatte über Albrecht Dürer promoviert und habilitiert. Als Professor in Halle und kurzzeitiger Direktor des Frankfurter Städels forschte er über den Renaissance-Maler Giorgione. Eine Arbeit, in die er sich wieder während der von den Nazis erzwungenen Auszeit von 1933 bis 1946 vertiefte. Programmatisch hielt er sich auffällig zurück. Betthausen vermerkt, dass Justi in den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit keinen kunsthistorischen Grundlagentext publiziert habe.
Das war womöglich Berechnung. Bot er doch so weder dem Hof noch der Kulturbürokratie Angriffspunkte. Hätte er es getan, wäre sein Zickzackkurs offenbar geworden. Von dem „neuen geistigen, antimaterialistischen Weltalter“, das er 1920 in einem Aufsatz über El Greco beschwor bis zu dem Leitsatz aus dem DDR-Jahr 1952: „Kunstwerke entstehen auf der Grundlage gesellschaftlicher Voraussetzungen“ reicht die Spanne der Haltungen, was Justi den Vorwurf eintrugen, ein aalglatter Karrierist zu sein. Bis heute befremdlich mutet sein Versuch an, Vincent van Gogh dem „nordischen Stil“ zuzuschlagen. Auch seine Räsonnements über den „germanischen Geist“ machten ihn den Nazis nicht genehmer.
In diesen opportunistischen Anwandlungen ist Justi für Museumsleute heute also kein Vorbild. Schon gar nicht in seinem Konservatismus. Betthausen erkennt resigniert, dass die Alten Meister „sein liebster Umgang“ waren. Die heraufdämmernde Abstraktion blieb ihm fremd. Bis zu seinem Tod 1957 „verlor er auch nie den Glauben die Abbildfunktion der Kunst“, resümiert Betthausen. Und mit Justis formalistischem Credo von der „formklaren Gestaltung ernster Gedanken“ wäre in der Postmoderne nun überhaupt kein Blumentopf zu gewinnen. Wenn der experimentierfreudige Chef der Nationalgalerie, Udo Kittelmann, heute etwas von Justi lernen könnte, dann die Gelassenheit, mit der er Stile kommen und gehen sah. Betthausen lobt an ihm, dass er auch die Moderne sah als „ein kunsthistorisches Kapitel mit Anfang und Ende, wie es viele gegeben hat“.
Hingebend schauen
„Schule des Sehens“ hat Betthausen seinen Band nicht umsonst genannt. Den Titel hat er der Ausstellung entlehnt, die Justi als Generaldirektor der Staatlichen Museen Ost-Berlin 1950 in den Räumen der wieder hergestellten Nationalgalerie ausrichtete. Die DDR versicherte sich mit der Wiedereinsetzung der Symbolwirkung eines Opfers des NS-Regimes. Ersparte ihm aber nicht die Schmach, 1953, auf dem Höhepunkt des Formalismus-Streits, Teile der (expressionistischen) Moderne aus einer seiner Ausstellungen zu entfernen.
Wer allerdings Justis Erbe nach Verwertbarem für Strategien der visuellen Kompetenz in der Bildergesellschaft von heute durchforstet, dürfte in Betthausens flüssig geschriebenen Band, der Institutionsgeschichte und Biografie geschickt verbindet, nur vage Andeutungen finden. Zwar hatte der „Augenmensch“ Justi schon seinen Nationalgalerie-Führer aus dem Jahr 1920 als „Anleitung zum Sehen“ verstanden wissen wollen. Den damit intendierten Elementarunterricht im Betrachten aber auf so schwammige Begriffe wie „Aufbau“, „Sachlichkeit“ und „gute Malerei“ gestützt. 27 Jahre später fordert er Besucher einer Ausstellung im Berliner Zeughaus auf, nicht zu fragen, „sondern schauen, geruhsam und hingebend schauen“. Mit diesem Vokabular käme heutzutage keiner Bachelor in ein Doktorandenkolleg der Visual Studies.
Die zeitgenössische Kunstgeschichte versucht sich mit dem Label „Kunstwissenschaft“ an der Quadratur des Kreises. Insofern sie Mechanismen der Geschmacksbildung und Bildfindung zu objektivieren sucht, die sich aus höchst subjektiven Energien speisen. Betthausen lobt an Justi das Primat des „sinnlichen Erfassens“. Mit den naiven Begriffen, in denen er ihn ausdrückte, dürfte sich das Kunstmuseum der Zukunft aber kaum behaupten können.
INGO AREND
PETER BETTHAUSEN: Schule des Sehens. Ludwig Justi und die Nationalgalerie. Matthes und Seitz, Berlin 2010. 400 Seiten, 29,90 Euro.
Max Pechstein (links) mit dem Direktor der Berliner Nationalgalerie Ludwig Justi bei seiner Ausstellung in der Berliner Sezession, 1931 Foto: Scherl
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2011Ein Berliner Kunstdiplomat
Im Dienst der Bilder vom Kaiserreich bis zur DDR: Peter Betthausen hat dem Museumsmann und Kunsthistoriker Wilhelm Justi eine fesselnd geschriebene Biographie gewidmet.
Ludwig Justis Verbindung mit der Berliner Nationalgalerie umspannte fast fünfzig wechselvolle, dramatisch unterbrochene Jahre: von 1909 bis 1957, vom Kaiserreich bis in die frühe DDR. Er wirkte als Direktor und öffentlicher Sammler, als Bildungspolitiker, als Gelehrter und Kenner, als klug vermittelnder Streiter und Kunstdiplomat. In den zwölf finsteren Jahren wurde er als Direktor von den Nationalsozialisten entlassen und in den Ruhestand gezwungen und musste mitansehen, wie sein Aufbauwerk und seine Ankäufe moderner Kunst durch die Kunstverfolgung zerstört wurden. Nach 1945 stieg dieser noble, durch und durch bürgerliche Kunsthistoriker zum Generaldirektor der Berliner Museumsinsel auf. Werner Schmidt, einer seiner damaligen Assistenten, erzählte, dass noch Walter Ulbricht Justi voller Respekt mit "Herr Geheimrat" angeredet habe.
Ludwig Justi (1876 bis 1957) ersetzte 1909 Hugo von Tschudi, den legendären Direktor der Nationalgalerie, der ihre chauvinistische Verengung und akademische Erstarrung gesprengt und den modernen Franzosen einen großen Auftritt verschafft hatte. Tschudi hatte nach heftigen Konflikten mit den Akademikern und mit dem Kaiser resigniert und war nach München gegangen. Der Schweizer war ein souveräner, entschiedener, wohl auch schroffer Überzeugungstäter, der früh im französischen Impressionismus und Postimpressionismus die befreiende, weltläufige Zukunftskunst erkannte und mit ihr die nationale Historienmalerei und den Akademismus zurückzudrängen versuchte. Er wollte die von Künsterlobbys beherrschte Nationalgalerie zu einem weltoffenen modernen Museum machen. Justi war eher ein Gegentyp, ein Vermittler zwischen Tradition und Moderne, der es vermied, den Kaiser und die Traditionalisten vor den Kopf zu stoßen, der vielmehr den Umbruch auf behutsame Weise vollziehen wollte.
Peter Betthausen, der letzte Direktor der Nationalgalerie-Ost, beschreibt in seiner fesselnd geschriebenen Biographie eindringlich Justis Kunst des Balancierens, des Ausgleichs und auch des Kompromisses. Justi gewann sogar das Vertrauen Wilhelms II., den er vorsichtig von seinem Dogmatismus abzubringen versuchte. Noch zu Kaiserzeiten erwarb er Werke von Liebermann, Corinth und Slevogt. Schließlich duldete der Kaiser auch die weitere Öffnung und Internationalisierung der Nationalgalerie. Justi kaufte gleichzeitig Franzosen und Deutschrömer. Denkwürdig ist seine letzte, zufällige Begegnung mit dem Kaiser in den Tagen des Kriegsausbruchs von 1914, die Justi in seinen Erinnerungen überliefert. Wilhelm ruft dem Museumsdirektor beim Ausritt im Tiergarten zu, dass es nun einstweilen wohl nichts mehr mit der Kunst werde: "Aber vielleicht bringen wir Ihnen etwas Schönes aus Paris mit!"
Die Berufung an die Nationalgalerie riss Justi 1909 aus der Arbeit an einem Giorgione-Buch. Als er 1933 seinen Dienst quittieren musste, wandte er sich wieder Giorgione und Dürer zu, die zu seinem inneren Exil wurden. Justi hatte einen festen Rückhalt in der Kunstgeschichte. Fast könnte man sagen, dass er schon im Aufbruch der Moderne ein Postmoderner war, der sich keinen Theorien oder avantgardistischen Richtungen verschrieb. Doch forderte er bereits bei seinem Amtsantritt ein neues Museum für das 20. Jahrhundert, reduzierte entschlossen die ranzige Historienmalerei und kämpfte für eine selbständige Galerie der Moderne im Kronprinzenpalais, die schon 1919 eröffnet werden konnte.
Dank seiner Beweglichkeit überlebte Justi die Kaiserzeit und führte die Nationalgalerie in die Republik. Für ihn schlossen sich Impressionisten und Deutschrömer, Expressionisten und Romantiker nicht aus. Erich Heckel und Hans Thoma waren seine deutschen Favoriten. Trotz seiner Diplomatie galt er den Konservativen dabei als "Altachtundvierziger" und zog sich auf der anderen Seite die erbitterte Gegnerschaft der liberalen und großbürgerlichen Fortschrittsfraktion in Berlin zu, die in Justi nur den kaisertreuen Günstling und Karrieristen sehen wollte und im Impressionismus den Angelpunkt der Moderne. Justi dagegen, in seiner Kunstauffassung gleichfalls vom malerischen Sensualismus des Impressionismus durchdrungen, sah als Historiker in Letzterem eher einen Übergang, ein Gelenk der Kunstgeschichte.
Nach 1919 überholte der konservative Justi die Impressionisten-Generation und sah sich im Engagement für die Expressionisten, für Kokoschka, Kirchner und Marc, nach einigem Zögern auch für Beckmann - der im Kronprinzenpalais 1932 einen eigenen Raum bekam -, für Dix und Belling, schließlich sogar für junge Künstler wie Baumeister und Nay an der Spitze der modernen Bewegung. Um 1930 überwies er den Impressionismus als nun endgültig historisches Phänomen ins Stammhaus des 19. Jahrhunderts.
Interessanterweise kehrten die Museen nach 1945 zunächst zum Tschudi-Prinzip zurück und feierten den Impressionismus als Auftakt der Moderne. Erst in den letzten Jahrzehnten bettete man ihn wieder ins angestammte 19. Jahrhundert ein. Justi, der Zauderer, hatte sich in den zwanziger Jahren an die Spitze einer ersten Musealisierung der Moderne gesetzt. Doch für eine progressive Linke war er, der eine totale Vergesellschaftung der Kunst nach sowjetrevolutionärem Beispiel fürchtete, nicht fortschrittlich genug. Mit Dadaismus und Konstruktivismus, mit Neuer Sachlichkeit und Surrealismus konnte er sich noch nicht anfreunden.
Justis Modernismus verfärbte sich zeitweise durch den Zeitgeist. In den Texten seiner Sammlungsführer feiert er Hodler, Munch oder van Gogh als germanische Künstler, gibt sich völkerpsychologischen Spekulationen hin oder fabuliert über nordische Seele und germanischen Geist. Justi war, wie Betthausen schreibt, kein früher Gegner oder Warner vor Hitler, er wollte ihm sogar eine Chance einräumen. Aber anders als Max Sauerlandt oder Wilhelm Pinder folgte er ihm nicht, ja brach bald mit ihm angesichts seiner Untaten.
Nach 1945 stellte sich Justi als Generaldirektor (und zugleich Direktor der Nationalgalerie) ohne ideologische Konzessionen in den Dienst der Ost-Berliner Museen. Er, der schon in den zwanziger Jahren eine "soziale Kunstpflege" propagiert hatte, setzte sich jetzt verstärkt für eine Öffnung der Museen für ein breites Publikum und für eine Dezentralisierung der Bestände ein. Bereits 1948 etablierte er wieder eine "Galerie des 20. Jahrhunderts", kümmerte sich um russische Kunst und die deutsch-sowjetische Freundschaft, wehrte sich aber auch gegen eine neuerliche Diffamierung der Moderne durch die Stalinisten. Justi protestierte, drohte mit Rücktritt, verteidigte aber Ost-Berlin gegen Angriffe aus dem Westen und fühlte sich von nach Westen geflüchteten Mitarbeitern verraten. Schmerzlich litt er unter der Teilung der preußischen Sammlungen, aber erlebte 1955 noch die Rückkehr der als Kriegsbeute entführten Kunstschätze aus der Sowjetunion und durfte die Dresdner Gemäldegalerie auf der Museumsinsel glanzvoll präsentieren.
EDUARD BEAUCAMP
Peter Betthausen: "Die Schule des Sehens". Ludwig Justi und die Nationalgalerie.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010. 396 S., geb. 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Dienst der Bilder vom Kaiserreich bis zur DDR: Peter Betthausen hat dem Museumsmann und Kunsthistoriker Wilhelm Justi eine fesselnd geschriebene Biographie gewidmet.
Ludwig Justis Verbindung mit der Berliner Nationalgalerie umspannte fast fünfzig wechselvolle, dramatisch unterbrochene Jahre: von 1909 bis 1957, vom Kaiserreich bis in die frühe DDR. Er wirkte als Direktor und öffentlicher Sammler, als Bildungspolitiker, als Gelehrter und Kenner, als klug vermittelnder Streiter und Kunstdiplomat. In den zwölf finsteren Jahren wurde er als Direktor von den Nationalsozialisten entlassen und in den Ruhestand gezwungen und musste mitansehen, wie sein Aufbauwerk und seine Ankäufe moderner Kunst durch die Kunstverfolgung zerstört wurden. Nach 1945 stieg dieser noble, durch und durch bürgerliche Kunsthistoriker zum Generaldirektor der Berliner Museumsinsel auf. Werner Schmidt, einer seiner damaligen Assistenten, erzählte, dass noch Walter Ulbricht Justi voller Respekt mit "Herr Geheimrat" angeredet habe.
Ludwig Justi (1876 bis 1957) ersetzte 1909 Hugo von Tschudi, den legendären Direktor der Nationalgalerie, der ihre chauvinistische Verengung und akademische Erstarrung gesprengt und den modernen Franzosen einen großen Auftritt verschafft hatte. Tschudi hatte nach heftigen Konflikten mit den Akademikern und mit dem Kaiser resigniert und war nach München gegangen. Der Schweizer war ein souveräner, entschiedener, wohl auch schroffer Überzeugungstäter, der früh im französischen Impressionismus und Postimpressionismus die befreiende, weltläufige Zukunftskunst erkannte und mit ihr die nationale Historienmalerei und den Akademismus zurückzudrängen versuchte. Er wollte die von Künsterlobbys beherrschte Nationalgalerie zu einem weltoffenen modernen Museum machen. Justi war eher ein Gegentyp, ein Vermittler zwischen Tradition und Moderne, der es vermied, den Kaiser und die Traditionalisten vor den Kopf zu stoßen, der vielmehr den Umbruch auf behutsame Weise vollziehen wollte.
Peter Betthausen, der letzte Direktor der Nationalgalerie-Ost, beschreibt in seiner fesselnd geschriebenen Biographie eindringlich Justis Kunst des Balancierens, des Ausgleichs und auch des Kompromisses. Justi gewann sogar das Vertrauen Wilhelms II., den er vorsichtig von seinem Dogmatismus abzubringen versuchte. Noch zu Kaiserzeiten erwarb er Werke von Liebermann, Corinth und Slevogt. Schließlich duldete der Kaiser auch die weitere Öffnung und Internationalisierung der Nationalgalerie. Justi kaufte gleichzeitig Franzosen und Deutschrömer. Denkwürdig ist seine letzte, zufällige Begegnung mit dem Kaiser in den Tagen des Kriegsausbruchs von 1914, die Justi in seinen Erinnerungen überliefert. Wilhelm ruft dem Museumsdirektor beim Ausritt im Tiergarten zu, dass es nun einstweilen wohl nichts mehr mit der Kunst werde: "Aber vielleicht bringen wir Ihnen etwas Schönes aus Paris mit!"
Die Berufung an die Nationalgalerie riss Justi 1909 aus der Arbeit an einem Giorgione-Buch. Als er 1933 seinen Dienst quittieren musste, wandte er sich wieder Giorgione und Dürer zu, die zu seinem inneren Exil wurden. Justi hatte einen festen Rückhalt in der Kunstgeschichte. Fast könnte man sagen, dass er schon im Aufbruch der Moderne ein Postmoderner war, der sich keinen Theorien oder avantgardistischen Richtungen verschrieb. Doch forderte er bereits bei seinem Amtsantritt ein neues Museum für das 20. Jahrhundert, reduzierte entschlossen die ranzige Historienmalerei und kämpfte für eine selbständige Galerie der Moderne im Kronprinzenpalais, die schon 1919 eröffnet werden konnte.
Dank seiner Beweglichkeit überlebte Justi die Kaiserzeit und führte die Nationalgalerie in die Republik. Für ihn schlossen sich Impressionisten und Deutschrömer, Expressionisten und Romantiker nicht aus. Erich Heckel und Hans Thoma waren seine deutschen Favoriten. Trotz seiner Diplomatie galt er den Konservativen dabei als "Altachtundvierziger" und zog sich auf der anderen Seite die erbitterte Gegnerschaft der liberalen und großbürgerlichen Fortschrittsfraktion in Berlin zu, die in Justi nur den kaisertreuen Günstling und Karrieristen sehen wollte und im Impressionismus den Angelpunkt der Moderne. Justi dagegen, in seiner Kunstauffassung gleichfalls vom malerischen Sensualismus des Impressionismus durchdrungen, sah als Historiker in Letzterem eher einen Übergang, ein Gelenk der Kunstgeschichte.
Nach 1919 überholte der konservative Justi die Impressionisten-Generation und sah sich im Engagement für die Expressionisten, für Kokoschka, Kirchner und Marc, nach einigem Zögern auch für Beckmann - der im Kronprinzenpalais 1932 einen eigenen Raum bekam -, für Dix und Belling, schließlich sogar für junge Künstler wie Baumeister und Nay an der Spitze der modernen Bewegung. Um 1930 überwies er den Impressionismus als nun endgültig historisches Phänomen ins Stammhaus des 19. Jahrhunderts.
Interessanterweise kehrten die Museen nach 1945 zunächst zum Tschudi-Prinzip zurück und feierten den Impressionismus als Auftakt der Moderne. Erst in den letzten Jahrzehnten bettete man ihn wieder ins angestammte 19. Jahrhundert ein. Justi, der Zauderer, hatte sich in den zwanziger Jahren an die Spitze einer ersten Musealisierung der Moderne gesetzt. Doch für eine progressive Linke war er, der eine totale Vergesellschaftung der Kunst nach sowjetrevolutionärem Beispiel fürchtete, nicht fortschrittlich genug. Mit Dadaismus und Konstruktivismus, mit Neuer Sachlichkeit und Surrealismus konnte er sich noch nicht anfreunden.
Justis Modernismus verfärbte sich zeitweise durch den Zeitgeist. In den Texten seiner Sammlungsführer feiert er Hodler, Munch oder van Gogh als germanische Künstler, gibt sich völkerpsychologischen Spekulationen hin oder fabuliert über nordische Seele und germanischen Geist. Justi war, wie Betthausen schreibt, kein früher Gegner oder Warner vor Hitler, er wollte ihm sogar eine Chance einräumen. Aber anders als Max Sauerlandt oder Wilhelm Pinder folgte er ihm nicht, ja brach bald mit ihm angesichts seiner Untaten.
Nach 1945 stellte sich Justi als Generaldirektor (und zugleich Direktor der Nationalgalerie) ohne ideologische Konzessionen in den Dienst der Ost-Berliner Museen. Er, der schon in den zwanziger Jahren eine "soziale Kunstpflege" propagiert hatte, setzte sich jetzt verstärkt für eine Öffnung der Museen für ein breites Publikum und für eine Dezentralisierung der Bestände ein. Bereits 1948 etablierte er wieder eine "Galerie des 20. Jahrhunderts", kümmerte sich um russische Kunst und die deutsch-sowjetische Freundschaft, wehrte sich aber auch gegen eine neuerliche Diffamierung der Moderne durch die Stalinisten. Justi protestierte, drohte mit Rücktritt, verteidigte aber Ost-Berlin gegen Angriffe aus dem Westen und fühlte sich von nach Westen geflüchteten Mitarbeitern verraten. Schmerzlich litt er unter der Teilung der preußischen Sammlungen, aber erlebte 1955 noch die Rückkehr der als Kriegsbeute entführten Kunstschätze aus der Sowjetunion und durfte die Dresdner Gemäldegalerie auf der Museumsinsel glanzvoll präsentieren.
EDUARD BEAUCAMP
Peter Betthausen: "Die Schule des Sehens". Ludwig Justi und die Nationalgalerie.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010. 396 S., geb. 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Ingo Arend schätzt Peter Betthausens Arbeit über Ludwig Justi (1867-1957), der mit Unterbrechungen über vierzig Jahre lang Chef der Nationalgalerie Berlin war. Er lobt den flüssigen Stil des Werks sowie die gelungene Verbindung von Biografie und Institutionsgeschichte. Ausführlich geht der Rezensent auf die historische Bedeutung und die Leistungen Justis ein, wirft aber auch einen kritischen Blick auf seinen Konservatismus und seine opportunistischen Anwandlungen gegenüber dem DDR-Regime. Besonders hebt er Justis Gelassenheit hervor, mit der dieser Stile kommen und gehen sah.
© Perlentaucher Medien GmbH
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