Mein Lese-Eindruck:
1929: Eine 75jährige setzt sich hin und schreibt Tag für Tag ihre Erinnerungen nieder, bis sie nach vier Jahren schließlich über 1500 Seiten gefüllt hat und sie der Graue Star am Weiterschreiben hindert. Was herauskommt, ist ein einzigartiges Dokument einer untergegangenen
Zeit. Regina Lampert hatte tatsächlich viel zu erzählen.
Regina Lampert ist eines der sog.…mehrMein Lese-Eindruck:
1929: Eine 75jährige setzt sich hin und schreibt Tag für Tag ihre Erinnerungen nieder, bis sie nach vier Jahren schließlich über 1500 Seiten gefüllt hat und sie der Graue Star am Weiterschreiben hindert. Was herauskommt, ist ein einzigartiges Dokument einer untergegangenen Zeit. Regina Lampert hatte tatsächlich viel zu erzählen.
Regina Lampert ist eines der sog. Schwabenkinder gewesen: Kinder aus armen, kinderreichen Bergbauernfamilien in den rauen Bergregionen Österreichs (Vorarlberg und Tirol), der Schweiz und auch Südtirol, deren kleiner Hof die Familien nicht mehr ernähren konnte. Tausende von Kindern mussten tagelange und beschwerliche Fußmärsche auf sich nehmen, um auf den reichen Höfen Schwabens vom Frühjahr bis in den Herbst zu arbeiten, um mit dem Erlös das Überleben ihrer Familien zu sichern.
Regina Lampert schreibt ihre Erlebnisse nieder, als wären sie gerade erst passiert. Mit einer unglaublichen Genauigkeit und Lebendigkeit beschreibt sie ihre ersten Gänge ins Schwabenland. Sie war im Jahre 1864 erst 10 Jahre alt, ihr Bruder Anton sogar erst 8, als sie von Schnifis im Vorarlberg im März aufbrachen. In dem Zug waren noch kleinere Kinder dabei, alle mit einem Wanderstock, aber nicht unbedingt mit wetterfester Kleidung ausgestattet. Tagelang waren die Kinder unterwegs, bis sie schließlich in Ravensburg auf dem sog. Kindermarkt vermittelt werden konnten.
Die kleine Regina hatte, wenn man ihre Aufzeichnungen liest, offenbar Glück mit dem reichen Bauernhof, so empfindet sie es. Sie war von klein auf die harte und tägliche Arbeit auf dem kleinen Bauernhof der Eltern gewöhnt, und sie wurde wie ihre sieben Geschwister auch zur Heimarbeit eingespannt. Insofern war Arbeit, wohl aber Spiel und Freizeit, kein Fremdwort für sie. Sie nahm die harte Arbeit daher als selbstverständlich hin.
Das täuscht aber nicht darüber hinweg, wie groß die Belastungen für die Kinder waren. Aufstehen um 4 Uhr in der Früh, in der Erntezeit auch noch früher, und Vieh hüten bis 10 Uhr, „bei dunkler Nacht, bei gutem und schlechtem Wetter“. Schläge von den Knechten, nicht immer ausreichend Essen, lange Fußmärsche mit schwerem Gepäck, und auch am Sonntag muss gearbeitet werden. Regina weint viel, leidet unter Heimweh, und manchmal ist sie recht verzagt: „Mir kommt es vor, als müsse ich immer mehr arbeiten, oft fast über meine Kräfte. Ich bin manchmal so müd, so traurig müde, so dass ich nur schlafen möchte.“ Die Freude an der Natur und vor allem die Freude, Eltern und Geschwistern Geld mitbringen zu können, überwiegt ihre Erschöpfung. Sie erlebt auch andere Freuden, z. B. den Proviant, den ihr eine mitfühlende Frau mitgibt – noch nach den vielen Jahren erinnert sie sich an jeden Eierwecken und jedes Stück Schinken.
Regina erzählt nicht nur von ihren Schwabenjahren, sondern auch von ihren Erlebnissen an anderen Dienststellen, u. a. in einem Kloster, vor dessen unerträglichen Arbeitsbedingungen und Strafmaßnahmen sie schließlich floh.
Sie schreibt so lebhaft, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, und es ist dem Überarbeiter sehr schön gelungen, ihre urwüchsige und dialektal geprägte Sprache beizubehalten und nur dann einzugreifen, wenn die Verständlichkeit in Gefahr gerät.
Ein lohnender Blick in die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts!