Ein großer historischer Roman über das Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien
1944 geht der 2. Weltkrieg in Italien viel zu langsam zu Ende. So dauert es auch vier blutige Monate lang, die von den Deutschen besetzte Abtei Montecassino zu erobern. An den Flanken ihres Berges opfern sich Menschen aus aller Welt, doch die ungewöhnlichste Armee dort ist wohl die der Polen: Ihre Soldaten, unter ihnen viele Juden, kommen aus sowjetischen Lagern und gelangten in einer abenteuerlichen Irrfahrt nach Italien, um für Freiheit von Hitler und Stalin zu kämpfen. So auch Samuel »Milek« Steinwurzel, Sohn jüdischer Holzhändler aus der (heutigen) Ukraine, den der Frieden in den Emilio verwandeln wird...
Kunstvoll verbindet Helena Janeczek Orte, Geschichten, Epochen, Schicksale zu einem allumfassenden, berührenden Epos des »italienischen Stalingrad«.
Helena Janeczek wirkt - wie schon 'Das Mädchen mit der Leica' - auch diesen Roman aus ganz unterschiedlichen Erzählsträngen: dem Schicksal eines jungen Texaners. Dem Versuch eines neuseeländischen Studenten zu verstehen, was sein Großvater, ein Maori, in diesem Krieg eigentlich zu suchen hatte. Der Geschichte von Janeczeks eigener Tante, die der Shoah nur entkam, weil die Sowjets sie zur Zwangsarbeit verurteilt hatten. Und den Erlebnissen von zwei Mailänder Abiturienten, die am Soldatenfriedhof von Montecassino Flugblätter verteilen, um nach verschwundenen polnischen Wanderarbeitern zu suchen - aber vielleicht noch mehr nach einem Platz auf der Welt, den sie Heimat nennen könnten.
»Helena Janeczek hat ein unglaublich starkes Buch geschrieben. Darin wird Montecassino zum Krieg von uns allen, zu dem Ort, von dem wir alle kommen.« Roberto Saviano
1944 geht der 2. Weltkrieg in Italien viel zu langsam zu Ende. So dauert es auch vier blutige Monate lang, die von den Deutschen besetzte Abtei Montecassino zu erobern. An den Flanken ihres Berges opfern sich Menschen aus aller Welt, doch die ungewöhnlichste Armee dort ist wohl die der Polen: Ihre Soldaten, unter ihnen viele Juden, kommen aus sowjetischen Lagern und gelangten in einer abenteuerlichen Irrfahrt nach Italien, um für Freiheit von Hitler und Stalin zu kämpfen. So auch Samuel »Milek« Steinwurzel, Sohn jüdischer Holzhändler aus der (heutigen) Ukraine, den der Frieden in den Emilio verwandeln wird...
Kunstvoll verbindet Helena Janeczek Orte, Geschichten, Epochen, Schicksale zu einem allumfassenden, berührenden Epos des »italienischen Stalingrad«.
Helena Janeczek wirkt - wie schon 'Das Mädchen mit der Leica' - auch diesen Roman aus ganz unterschiedlichen Erzählsträngen: dem Schicksal eines jungen Texaners. Dem Versuch eines neuseeländischen Studenten zu verstehen, was sein Großvater, ein Maori, in diesem Krieg eigentlich zu suchen hatte. Der Geschichte von Janeczeks eigener Tante, die der Shoah nur entkam, weil die Sowjets sie zur Zwangsarbeit verurteilt hatten. Und den Erlebnissen von zwei Mailänder Abiturienten, die am Soldatenfriedhof von Montecassino Flugblätter verteilen, um nach verschwundenen polnischen Wanderarbeitern zu suchen - aber vielleicht noch mehr nach einem Platz auf der Welt, den sie Heimat nennen könnten.
»Helena Janeczek hat ein unglaublich starkes Buch geschrieben. Darin wird Montecassino zum Krieg von uns allen, zu dem Ort, von dem wir alle kommen.« Roberto Saviano
»Janeczek verwebt persönliche Geschichten, Schicksale und historisch Verbürgtes zu einer dichten, spannenden Erzählung.« ORF "ZIB" 20220731
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Montecassino 1944: Fast 80.000 Menschen starben bei den Kämpfen um das Mutterkloster der Benediktiner in Italien. Davon erzählt Helena Janeczek in ihrem Buch, das, so Rezensent Thomas Steinfeld, zum geringeren Teil ein historischer Roman ist. Zwar stehe die weiße Burg auf dem Berg im Mittelpunkt, aber die persönlichen Geschichten der vielen Protagonisten, mache die Lektüre zu einem "Spiel" mit Fiktion und Fakten. Das, merkt der strenge Leser Steinfeld an, geht ihm dann zu weit, wenn die Erzählerin sich in einen Hirsch hineinzufühlen versucht, diesen Krieg aber nur wohlfeil mit Hilfe der Geschichtswissenschaft erklärt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.11.2022Die ganze Welt in einer Schlacht
Helena Janeczek erzählt von den alliierten Soldaten vor Montecassino
Drei Schlachten um den Montecassino sind bereits gekämpft, in den ersten Monaten des Jahres 1944, als die Schilderung fremder Schicksale abbricht und die Erzählerin von sich selbst berichtet: In München sei sie aufgewachsen, in der „Stadt der Bewegung“, die ihr indessen lebenswert und beschaulich erschien. Vom großen Krieg habe sie nichts, von der polnischen Abstammung ihrer Eltern wenig gewusst. „Weil unser Haus in der Innenstadt lag, wo es keine Kinder gab, und fast alle Deutschen in Kleinfamilien lebten, in die ich später als Schülerin eingeladen wurde, um mit deren Töchtern zu spielen, lebte ich, ohne mir einer Leerstelle bewusst zu werden.“ Man könnte über diesen stilistisch und logisch verunglückten Satz (gab es Kinder in der Innenstadt oder nicht? Bedeutet ein Leben im Zentrum, dass man von seiner weiteren Umgebung nichts weiß?) länger nachdenken.
Doch gibt es viele solcher Sätze in diesem Buch, und sie stehen schon im italienischen Original. Vielleicht, denkt sich der Leser, erweist sich die Überzeugung der Erzählerin, sich, was immer auch geschehe, „an einem möglichen, schwindelerregenden, entsetzlich objektiven Kreuzungspunkt“ der Geschichte zu befinden, als Belastung für den Satzbau.
In den Höfen dieser Stadt wurde jedenfalls „Cowboy und Indianer“ gespielt, wobei die Erzählerin die Einzige gewesen sein will, „die sich freiwillig als Rothaut“ gemeldet habe. Fortan wurden ihr, wie es scheint, die Schicksale der Opfer zum Lebensmotiv, im welthistorischen Maßstab und jeweils heruntergebrochen auf die Erlebnisse einzelner Menschen: So war es im ersten Roman der Autorin Helena Janeczek, die als Neunzehnjährige nach Italien zog („Lezioni di tenebra“, „Lektionen des Schattens“, 1997), und so war es in „Das Mädchen mit der Leica“ (2017), ihrem bislang größten Erfolg. Unzählig sind die Schlachten des Zweiten Weltkriegs, und weil es kaum mehr Überlebende gibt, ist die Erinnerung an die Kämpfe allmählich nur noch Geschichtsschreibung. Mit den vier Schlachten um den Montecassino ist es anders, und zwar nicht nur, weil sie vier Monate währten und mehrere zehntausend Soldaten das Leben kosteten. Denn oben auf dem Berg, mit einem weiten Blick über das Tal des Liri, liegt eine Abtei: das im Jahr 529 gegründete Mutterkloster der Benediktiner, das, weil das christliche Ordenswesen mit den Benediktinern beginnt, die Mutter aller Mutterklöster ist, mit Folgen bis auf den heutigen Tag. Über die Orden fand die Überlieferung der Antike ihren Weg in die Neuzeit, und nicht nur die Schriften, sondern auch das praktische Wissen der Alten, was für den Landbau ebenso gilt wie für die Architektur. Ohne die Orden hätte es ein christliches Abendland nicht gegeben.
Um diesen Berg und um diese Abtei also wurde in den Schlachten am Montecassino gekämpft, und wer immer heute hinaufschaut zur weißen Burg hoch auf dem Berg, weiß um diese Geschichte. Und er weiß auch, dass die Wehrmacht das Kloster hatten schützen wollen und dass es trotzdem in Schutt und Asche bombardiert wurde, weil die Alliierten den Deutschen misstrauten, oder weil die strategische Bedeutung der Anlage zu groß war, oder weil der Krieg eben Krieg war.
Helena Janeczeks Buch „Die Schwalben von Montecassino“ wurde in Italien im Jahr 2010 veröffentlicht, und es ist zumindest in der ersten Hälfte kein historischer Roman. Zwar erzählt er die Geschichte der Schlachten, vom ersten Angriff am 19. Januar 1944, der ein Regiment namens „Texas“ an den Fuß des Berges bringen soll, bis zum 18. Mai, als Soldaten eines polnischen Armeekorps in die Krypta des Klosters vordringen. Doch wird der Gang der Dinge aus mehreren, oft schrägen Perspektiven dargestellt, die Protagonisten wechseln, aus ihren späteren Lebensläufen entwickeln sich wieder andere Geschichten. Manche habe sich tatsächlich ereignet, andere sind erfunden. Und immer wieder mischt sich die Erzählerin ein, mit der Vergangenheit ihrer eigenen, polnisch-jüdischen Familie oder Reflexionen über den Krieg, das Leben oder das Erzählen. „Nichts Menschliches ist einem fremd“, versichert die Erzählerin, „und eine Geschichte ist so gut wie die andere, doch nur in diesem Sinne: Es muss einem gelingen, sie wie die eigene zu erzählen“. Das heißt: nicht nur mit einer erkennbar persönlichen Erzählhaltung, sondern auch als Spiel mit Ereignissen, die hätten stattfinden können, aber nicht stattgefunden haben. Mit solchen Bekenntnissen nähert sich die Erzählerin einem Programm der „metahistorischen“ Fiktion an, das Anfang der neunziger Jahre in die Welt gesetzt wurde: „New Italian Epic“. Prominentester Vertreter dieser Richtung wurde Roberto Saviano, der Autor des Weltbestsellers „Gomorrha“ (2006). Und wenn in jüngster Zeit nicht mehr viel von ihr die Rede ist, so nicht, weil es mit der „NIE“ vorbei wäre. Im Gegenteil: Die Technik fällt nicht mehr auf, weil viele Autoren so schreiben. Im übrigen war es Saviano, der den Roman „Die Schwalben von Montecassino“ bekannt machte, mit einer euphorischen Rezension in der Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera.
Der welthistorischen Bedeutung der Abtei entsprach, vermutlich unbeabsichtigt, dass die Soldaten auf der Seite der Alliierten aus vielen Ländern herbeigezogen worden waren: Neben den amerikanischen und britischen Divisionen kämpften polnische und französische Soldaten, darunter viele Nordafrikaner. Der globale „Strudel“, den der Weltkrieg hatte entstehen lassen, wirbelte Einheiten aus Indien und Neuseeland ins winterliche Mittelitalien. Einem jungen Maori, der stellvertretend für seinen Großvater die Gedächtnisfeiern auf dem Soldatenfriedhof besucht, ist das zweite Kapitel gewidmet. Es weitet sich aus zu einem Grundkurs in der jüngeren Geschichte dieses Volksstamms, einschließlich Sprachunterricht, Einführung in die Trinkgewohnheiten und Exkurs über die zweifelhaften Folgen des Imports von lebenden Hirschen. „Aber ich habe nie einen Maori getroffen, bin nie in Neuseeland gewesen“, meldet sich die Erzählerin zu Wort, die gleichwohl „entsetzliches Mitleid mit den armen Tieren“ empfindet, die im Lastraum von Segelschiffen um die halbe Welt verfrachtet wurden.
Solche Sätze lassen den Leser am tieferen Sinn der „metahistorischen“ Fiktion zweifeln. Gewiss, es ist nicht das Problem dieses Romans, dass er den Leser darüber im Unklaren lässt, wo die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit verlaufen. So funktioniert Literatur. Es ist auch nicht sein Problem, dass die Autorin sich ihre meist schrecklichen Stoffe aus der ganzen Welt herbeiholt. So liegen die Dinge, zumal in einem Weltkrieg. Es ist nicht einmal ein Problem, dass sie sich in Hirsche einfühlen will (obwohl: zu viel Einfühlungsvermögen bedeutet oft, denjenigen, in den man sich einfühlen will, kaum selbst zu Wort kommen zu lassen).
Das Problem besteht darin, dass bei dieser gewaltigen Anstrengung so wenig herauskommt: Wer trägt die Schuld am Leiden der Hirsche? „Die Wünsche und Interessen einiger weniger Strippenzieher“. Wer ist für den Krieg verantwortlich? „Ein über Jahrhunderte auf sämtlichen Kontinenten ausgebrachter Allmachtswahn“. Wie lautet das letzte Urteil über die Sowjetunion, die Macht, von der das siegreiche polnische Armeecorps zu einem Haufen Besiegter gemacht wurde, als das Heimatland dem kommunistischen Block zugeschlagen wurde? Es sei festgehalten, „dass die am heftigsten geschwenkten, fadenscheinigsten und schmutzigsten Fahnen rot sind“. Die Bereitschaft zur allfälligen Empörung ist das Problem dieses Buches, die aufgeregte Bestätigung von Ansichten, von deren Richtigkeit ohnehin mindestens die halbe Welt überzeugt ist.
THOMAS STEINFELD
Helena Janeczek:
Die Schwalben von
Montecassino. Roman.
Aus dem Italienischen
übertragen von Verena von Koskull. Berlin Verlag,
Berlin 2022.
432 Seiten, 24 Euro.
Umfassender Blick in die Weite: das Kloster Montecassino.
Foto: imago images/jacud
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Helena Janeczek erzählt von den alliierten Soldaten vor Montecassino
Drei Schlachten um den Montecassino sind bereits gekämpft, in den ersten Monaten des Jahres 1944, als die Schilderung fremder Schicksale abbricht und die Erzählerin von sich selbst berichtet: In München sei sie aufgewachsen, in der „Stadt der Bewegung“, die ihr indessen lebenswert und beschaulich erschien. Vom großen Krieg habe sie nichts, von der polnischen Abstammung ihrer Eltern wenig gewusst. „Weil unser Haus in der Innenstadt lag, wo es keine Kinder gab, und fast alle Deutschen in Kleinfamilien lebten, in die ich später als Schülerin eingeladen wurde, um mit deren Töchtern zu spielen, lebte ich, ohne mir einer Leerstelle bewusst zu werden.“ Man könnte über diesen stilistisch und logisch verunglückten Satz (gab es Kinder in der Innenstadt oder nicht? Bedeutet ein Leben im Zentrum, dass man von seiner weiteren Umgebung nichts weiß?) länger nachdenken.
Doch gibt es viele solcher Sätze in diesem Buch, und sie stehen schon im italienischen Original. Vielleicht, denkt sich der Leser, erweist sich die Überzeugung der Erzählerin, sich, was immer auch geschehe, „an einem möglichen, schwindelerregenden, entsetzlich objektiven Kreuzungspunkt“ der Geschichte zu befinden, als Belastung für den Satzbau.
In den Höfen dieser Stadt wurde jedenfalls „Cowboy und Indianer“ gespielt, wobei die Erzählerin die Einzige gewesen sein will, „die sich freiwillig als Rothaut“ gemeldet habe. Fortan wurden ihr, wie es scheint, die Schicksale der Opfer zum Lebensmotiv, im welthistorischen Maßstab und jeweils heruntergebrochen auf die Erlebnisse einzelner Menschen: So war es im ersten Roman der Autorin Helena Janeczek, die als Neunzehnjährige nach Italien zog („Lezioni di tenebra“, „Lektionen des Schattens“, 1997), und so war es in „Das Mädchen mit der Leica“ (2017), ihrem bislang größten Erfolg. Unzählig sind die Schlachten des Zweiten Weltkriegs, und weil es kaum mehr Überlebende gibt, ist die Erinnerung an die Kämpfe allmählich nur noch Geschichtsschreibung. Mit den vier Schlachten um den Montecassino ist es anders, und zwar nicht nur, weil sie vier Monate währten und mehrere zehntausend Soldaten das Leben kosteten. Denn oben auf dem Berg, mit einem weiten Blick über das Tal des Liri, liegt eine Abtei: das im Jahr 529 gegründete Mutterkloster der Benediktiner, das, weil das christliche Ordenswesen mit den Benediktinern beginnt, die Mutter aller Mutterklöster ist, mit Folgen bis auf den heutigen Tag. Über die Orden fand die Überlieferung der Antike ihren Weg in die Neuzeit, und nicht nur die Schriften, sondern auch das praktische Wissen der Alten, was für den Landbau ebenso gilt wie für die Architektur. Ohne die Orden hätte es ein christliches Abendland nicht gegeben.
Um diesen Berg und um diese Abtei also wurde in den Schlachten am Montecassino gekämpft, und wer immer heute hinaufschaut zur weißen Burg hoch auf dem Berg, weiß um diese Geschichte. Und er weiß auch, dass die Wehrmacht das Kloster hatten schützen wollen und dass es trotzdem in Schutt und Asche bombardiert wurde, weil die Alliierten den Deutschen misstrauten, oder weil die strategische Bedeutung der Anlage zu groß war, oder weil der Krieg eben Krieg war.
Helena Janeczeks Buch „Die Schwalben von Montecassino“ wurde in Italien im Jahr 2010 veröffentlicht, und es ist zumindest in der ersten Hälfte kein historischer Roman. Zwar erzählt er die Geschichte der Schlachten, vom ersten Angriff am 19. Januar 1944, der ein Regiment namens „Texas“ an den Fuß des Berges bringen soll, bis zum 18. Mai, als Soldaten eines polnischen Armeekorps in die Krypta des Klosters vordringen. Doch wird der Gang der Dinge aus mehreren, oft schrägen Perspektiven dargestellt, die Protagonisten wechseln, aus ihren späteren Lebensläufen entwickeln sich wieder andere Geschichten. Manche habe sich tatsächlich ereignet, andere sind erfunden. Und immer wieder mischt sich die Erzählerin ein, mit der Vergangenheit ihrer eigenen, polnisch-jüdischen Familie oder Reflexionen über den Krieg, das Leben oder das Erzählen. „Nichts Menschliches ist einem fremd“, versichert die Erzählerin, „und eine Geschichte ist so gut wie die andere, doch nur in diesem Sinne: Es muss einem gelingen, sie wie die eigene zu erzählen“. Das heißt: nicht nur mit einer erkennbar persönlichen Erzählhaltung, sondern auch als Spiel mit Ereignissen, die hätten stattfinden können, aber nicht stattgefunden haben. Mit solchen Bekenntnissen nähert sich die Erzählerin einem Programm der „metahistorischen“ Fiktion an, das Anfang der neunziger Jahre in die Welt gesetzt wurde: „New Italian Epic“. Prominentester Vertreter dieser Richtung wurde Roberto Saviano, der Autor des Weltbestsellers „Gomorrha“ (2006). Und wenn in jüngster Zeit nicht mehr viel von ihr die Rede ist, so nicht, weil es mit der „NIE“ vorbei wäre. Im Gegenteil: Die Technik fällt nicht mehr auf, weil viele Autoren so schreiben. Im übrigen war es Saviano, der den Roman „Die Schwalben von Montecassino“ bekannt machte, mit einer euphorischen Rezension in der Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera.
Der welthistorischen Bedeutung der Abtei entsprach, vermutlich unbeabsichtigt, dass die Soldaten auf der Seite der Alliierten aus vielen Ländern herbeigezogen worden waren: Neben den amerikanischen und britischen Divisionen kämpften polnische und französische Soldaten, darunter viele Nordafrikaner. Der globale „Strudel“, den der Weltkrieg hatte entstehen lassen, wirbelte Einheiten aus Indien und Neuseeland ins winterliche Mittelitalien. Einem jungen Maori, der stellvertretend für seinen Großvater die Gedächtnisfeiern auf dem Soldatenfriedhof besucht, ist das zweite Kapitel gewidmet. Es weitet sich aus zu einem Grundkurs in der jüngeren Geschichte dieses Volksstamms, einschließlich Sprachunterricht, Einführung in die Trinkgewohnheiten und Exkurs über die zweifelhaften Folgen des Imports von lebenden Hirschen. „Aber ich habe nie einen Maori getroffen, bin nie in Neuseeland gewesen“, meldet sich die Erzählerin zu Wort, die gleichwohl „entsetzliches Mitleid mit den armen Tieren“ empfindet, die im Lastraum von Segelschiffen um die halbe Welt verfrachtet wurden.
Solche Sätze lassen den Leser am tieferen Sinn der „metahistorischen“ Fiktion zweifeln. Gewiss, es ist nicht das Problem dieses Romans, dass er den Leser darüber im Unklaren lässt, wo die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit verlaufen. So funktioniert Literatur. Es ist auch nicht sein Problem, dass die Autorin sich ihre meist schrecklichen Stoffe aus der ganzen Welt herbeiholt. So liegen die Dinge, zumal in einem Weltkrieg. Es ist nicht einmal ein Problem, dass sie sich in Hirsche einfühlen will (obwohl: zu viel Einfühlungsvermögen bedeutet oft, denjenigen, in den man sich einfühlen will, kaum selbst zu Wort kommen zu lassen).
Das Problem besteht darin, dass bei dieser gewaltigen Anstrengung so wenig herauskommt: Wer trägt die Schuld am Leiden der Hirsche? „Die Wünsche und Interessen einiger weniger Strippenzieher“. Wer ist für den Krieg verantwortlich? „Ein über Jahrhunderte auf sämtlichen Kontinenten ausgebrachter Allmachtswahn“. Wie lautet das letzte Urteil über die Sowjetunion, die Macht, von der das siegreiche polnische Armeecorps zu einem Haufen Besiegter gemacht wurde, als das Heimatland dem kommunistischen Block zugeschlagen wurde? Es sei festgehalten, „dass die am heftigsten geschwenkten, fadenscheinigsten und schmutzigsten Fahnen rot sind“. Die Bereitschaft zur allfälligen Empörung ist das Problem dieses Buches, die aufgeregte Bestätigung von Ansichten, von deren Richtigkeit ohnehin mindestens die halbe Welt überzeugt ist.
THOMAS STEINFELD
Helena Janeczek:
Die Schwalben von
Montecassino. Roman.
Aus dem Italienischen
übertragen von Verena von Koskull. Berlin Verlag,
Berlin 2022.
432 Seiten, 24 Euro.
Umfassender Blick in die Weite: das Kloster Montecassino.
Foto: imago images/jacud
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