Dieses Buch stellt einen der faszinierendsten Autoren des 19. Jahrhunderts vor: Die beliebte Erzählung Die schwarze Galeere ist eine spannende Liebes- und Piratengeschichten aus Raabes Frühwerk. Der Roman Stopfkuchen hingegen läutet mit seiner Kritik am bornierten Bürgertum Raabes hoch gelobtes Spätwerk ein. Borniert aber ist ironischerweise nicht der scheinbare Langweiler aus der Provinz, sondern gerade umgekehrt der Mann von Welt, der vor lauter Weltläufigkeit gar nicht mehr merkt, wie festgefahren er in Wahrheit ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2010Als Menschen falsch, als Kinder nur Idioten
Wer Wilhelm Raabe für einen betulichen Erzähler hält, kann nun noch einmal nachlesen - und sich erschüttern lassen
Wilhelm Raabe, der späte zumal, gilt als schwieriger Autor. Seine an Jean Paul erinnernde umständliche Erzählweise oder sein Desinteresse am bloßen Plot stehen in stärkstem Kontrast zu dem, was man von einem Schriftsteller des Realismus erwartet. Man mag dies als modern oder gar avantgardistisch adeln, breite Leserkreise schreckt dies eher ab. Und so dürfte es kein Zufall sein, dass kein Raabe-Text Popularität erlangt hat und Raabe der vielleicht am wenigsten gelesene der poetischen Realisten ist. Das lange Zeit bevorzugte Frühwerk gilt heute als tendenziell ungenießbar, das Spätwerk ist ein Fall für Spezialisten und Liebhaber.
Sein vielleicht bekanntester Roman "Stopfkuchen" liegt pünktlich zu Raabes hundertstem Todestag am kommenden Montag in gleich zwei neuen Ausgaben vor, als gewohnt schöne Leseausgabe im Manesse Verlag und als penible Wiedergabe des Erstdrucks in der Bibliothek der Erstausgaben des Deutschen Taschenbuch Verlags (herausgegeben von Joseph Kiermeier-Debre, 330 Seiten, 8,90 [Euro]). "Eine See- und Mordgeschichte" untertitelte Raabe in bewusster Irreführung der Leser sein Werk. Was kriminalistische Spannung evoziert, entpuppt sich als provozierend langatmig erzählte, handlungsarme Geschichte. Für die "Seegeschichte" ist dabei der Ich-Erzähler Eduard zuständig, ein Afrika-Reisender auf Heimatbesuch, der seine Erlebnisse auf der Rückfahrt festhält, für die "Mordgeschichte" hingegen sein Jugendfreund Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen. Dieser ist inzwischen nicht nur rechtmäßiger Besitzer der Roten Schanze, eines von einem Wall umgebenen Bauernguts, sondern auch exklusiver Kenner der wahren Hintergründe des Mordes an dem Viehhändler Kienbaum, der dem einstigen Besitzer der Roten Schanze jahrelang nachgesagt wurde und ihn entsprechend stigmatisierte.
Stopfkuchen gehört zu den literarischen Figuren, die man nie mehr vergisst. Wie er kugelrund auf seiner schon als Kind heißersehnten Roten Schanze thront und in breiter Behaglichkeit sein Spiel mit Eduard, seiner Frau Valentine und nicht zuletzt mit dem Leser treibt, das ist so provokant enervierend, dass es schon wieder großartig ist. Er gilt in gängiger Lesart des Romans als lebenskluger Außenseiter, der dem weitgereisten Eduard und den Honoratioren der Stadt haushoch überlegen ist. Dem mag so sein, doch für ein antibürgerliches Idealbild trägt er zu viele irritierende Züge. Das philiströse Dauerrauchen, das völlige Desinteresse an Eduards Lebenslauf, die Kinderlosigkeit seiner Ehe oder die nicht weniger als grausam zu nennende Aufdeckung des wahren Mörders von Kienbaum machen ihn abgründiger, als er gemeinhin gesehen wird.
Raabes letztes, Fragment gebliebenes Werk liegt als Insel-Büchlein neu vor. Schon der Titel könnte kaum symbolträchtiger sein. "Altershausen" erzählt von der "letzten Reise", der "Lebens-Heimweh-Fahrt" des Geheimen Obermedizinalrats Friedrich Feyerabend an den Ort seiner Kindheit. Anlässlich seines siebzigsten Geburtstages scheint ihm all seine Berühmtheit auf einmal nichtig gegenüber dem ungetrübten Glück der frühen Jahre. Kurz entschlossen steigt er in den Zug, um in Altershausen in Erfahrung zu bringen, was von seiner Jugend noch übrig und was aus seinem besten Freund Ludchen Bock geworden ist.
"Altershausen" ist ein verstörendes Erinnerungsbuch und als solches ein echtes Alterswerk, das deutlich autobiographisch gefärbt ist. In vielfältigen Metamorphosen begegnet Feyerabend Gestalten seiner Kindheit wieder. Bollmann, der Hund des Vaters, Ritterbusch, das Kindermädchen, oder George, der Barbier, tauchen in veränderter Konstellation erneut auf. Einem Traum ähnelt Feyerabends Gang durch die Stadt, dem albtraumhafte Elemente beigesellt sind. Im Mittelpunkt aber steht das Schicksal des hochbegabten Kindheitsfreundes Ludchen Bock, der Feyerabend schon am Bahnhof begrüßt - als im Stadium der Kindheit verharrender Kofferträger. Er hat den von Feyerabend imaginierten Sehnsuchtsort weder zeitlich noch räumlich verlassen, allerdings um den Preis der Idiotie. Ein stehengebliebenes, ein nicht gelebtes Leben ist zu besichtigen, dessen wiederholter Lobpreis in schärfstem Kontrast zum tatsächlichen Befund steht. Ludchen Bocks schrilles Weinen und Lachen zerstören jede idyllische Anmutung, sosehr sie auch beschworen wird. Es gibt kein Zurück, es sei denn als infantile Regression.
Als "gnadenloses Endstück unserer eigenen Unlösbarkeit" feiert Andreas Maier in seinem furiosen Nachwort Raabes Romanfragment. Zu Ende gedacht, bleibt als Befund nur die Aporie: "Wir leben falsch, und alle wissen das, und es gibt keine Alternative dazu, es gibt nur eine Einsicht darein. Die Menschen sind falsch, alle. Besser wären sie als Kinder, was bei Erwachsenen dann aber Idiotismus bedeutet. Das ist die Nuss, die uns Raabe mit "Altershausen" zum Knacken gegeben hat."
Dass Raabe schließlich wie seine Zeitgenossen Gottfried Keller oder Wilhelm Busch zu den Doppelbegabungen unter den Schriftstellern gehört, verdeutlicht ein voluminöser Band, der sein komplettes zeichnerisches Werk versammelt und in verschiedenen Essays ausleuchtet. Wer sich hiervon neue Aufschlüsse für die Dichtungen erwartet, dürfte enttäuscht werden. Raabe verstand seine Zeichnungen als Zeitvertreib eines Dilettanten und hat sie entsprechend als Privatangelegenheit behandelt. Illustrationen zum Werk, Figurenstudien oder skizzenhafte Einfälle gibt es hier kaum. Am ehesten strömen noch die von der Herausgeberin in die Rubrik allegorisch-symbolhafte Blätter eingeordneten Zeichnungen dichterische Inspiration aus und gemahnt manch überzeichnete Charakterstudie von ferne an die zahlreichen kauzigen Personen in Raabes Werk.
Was überwiegt, sind allerdings Landschaftsaufnahmen. Je flüchtiger und skizzenhafter sie sind, desto mehr überzeugen sie. Wirken die aufwendigeren Aquarelle oftmals statisch und ungelenk, so verströmt manche dahingehuschte Federzeichnung einen eigenen Charme. Als flüchtige Produktionen sind sie wohl auch entstanden, wenn man liest, dass sie Raabe fast stets auf schon benutzten Blättern anfertigte. Reizvoll sind auch die eigens aufgeführten Zeichnungen in Raabes Briefen, Manuskripten und Notizbüchern, die in ihrer Spontaneität an ähnliche Skizzen E.T.A. Hoffmanns erinnern. Beträchtlichen Raum innerhalb des etwa siebenhundert Zeichnungen umfassenden Werkverzeichnisses nehmen die militärischen Darstellungen ein, was man so wohl nicht erwarten würde. Schade, dass sich hierzu nur verstreute Hinweise, aber kein eigener Beitrag findet.
Zehn Jahre vor seinem Tod hat sich der Dichter Raabe, enttäuscht von der Ignoranz des Publikums gegenüber seinen späten Werken, offiziell zur Ruhe gesetzt und firmierte seitdem als Schriftsteller a. D. Hundert Jahre später gibt es hinreichend Gelegenheit, diese Ruhe zu stören.
THOMAS MEISSNER
Wilhelm Raabe: "Stopfkuchen".
Manesse Verlag, Zürich 2010. 395 S., geb., 19,95 [Euro].
Wilhelm Raabe: "Altershausen".
Insel Verlag, Berlin 2010. 141 S., geb, 13,90 [Euro].
Wilhelm Raabe: "Das zeichnerische Werk".
Georg Olms Verlag, Hildesheim u.a. 2010. 423 S., geb., 39,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer Wilhelm Raabe für einen betulichen Erzähler hält, kann nun noch einmal nachlesen - und sich erschüttern lassen
Wilhelm Raabe, der späte zumal, gilt als schwieriger Autor. Seine an Jean Paul erinnernde umständliche Erzählweise oder sein Desinteresse am bloßen Plot stehen in stärkstem Kontrast zu dem, was man von einem Schriftsteller des Realismus erwartet. Man mag dies als modern oder gar avantgardistisch adeln, breite Leserkreise schreckt dies eher ab. Und so dürfte es kein Zufall sein, dass kein Raabe-Text Popularität erlangt hat und Raabe der vielleicht am wenigsten gelesene der poetischen Realisten ist. Das lange Zeit bevorzugte Frühwerk gilt heute als tendenziell ungenießbar, das Spätwerk ist ein Fall für Spezialisten und Liebhaber.
Sein vielleicht bekanntester Roman "Stopfkuchen" liegt pünktlich zu Raabes hundertstem Todestag am kommenden Montag in gleich zwei neuen Ausgaben vor, als gewohnt schöne Leseausgabe im Manesse Verlag und als penible Wiedergabe des Erstdrucks in der Bibliothek der Erstausgaben des Deutschen Taschenbuch Verlags (herausgegeben von Joseph Kiermeier-Debre, 330 Seiten, 8,90 [Euro]). "Eine See- und Mordgeschichte" untertitelte Raabe in bewusster Irreführung der Leser sein Werk. Was kriminalistische Spannung evoziert, entpuppt sich als provozierend langatmig erzählte, handlungsarme Geschichte. Für die "Seegeschichte" ist dabei der Ich-Erzähler Eduard zuständig, ein Afrika-Reisender auf Heimatbesuch, der seine Erlebnisse auf der Rückfahrt festhält, für die "Mordgeschichte" hingegen sein Jugendfreund Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen. Dieser ist inzwischen nicht nur rechtmäßiger Besitzer der Roten Schanze, eines von einem Wall umgebenen Bauernguts, sondern auch exklusiver Kenner der wahren Hintergründe des Mordes an dem Viehhändler Kienbaum, der dem einstigen Besitzer der Roten Schanze jahrelang nachgesagt wurde und ihn entsprechend stigmatisierte.
Stopfkuchen gehört zu den literarischen Figuren, die man nie mehr vergisst. Wie er kugelrund auf seiner schon als Kind heißersehnten Roten Schanze thront und in breiter Behaglichkeit sein Spiel mit Eduard, seiner Frau Valentine und nicht zuletzt mit dem Leser treibt, das ist so provokant enervierend, dass es schon wieder großartig ist. Er gilt in gängiger Lesart des Romans als lebenskluger Außenseiter, der dem weitgereisten Eduard und den Honoratioren der Stadt haushoch überlegen ist. Dem mag so sein, doch für ein antibürgerliches Idealbild trägt er zu viele irritierende Züge. Das philiströse Dauerrauchen, das völlige Desinteresse an Eduards Lebenslauf, die Kinderlosigkeit seiner Ehe oder die nicht weniger als grausam zu nennende Aufdeckung des wahren Mörders von Kienbaum machen ihn abgründiger, als er gemeinhin gesehen wird.
Raabes letztes, Fragment gebliebenes Werk liegt als Insel-Büchlein neu vor. Schon der Titel könnte kaum symbolträchtiger sein. "Altershausen" erzählt von der "letzten Reise", der "Lebens-Heimweh-Fahrt" des Geheimen Obermedizinalrats Friedrich Feyerabend an den Ort seiner Kindheit. Anlässlich seines siebzigsten Geburtstages scheint ihm all seine Berühmtheit auf einmal nichtig gegenüber dem ungetrübten Glück der frühen Jahre. Kurz entschlossen steigt er in den Zug, um in Altershausen in Erfahrung zu bringen, was von seiner Jugend noch übrig und was aus seinem besten Freund Ludchen Bock geworden ist.
"Altershausen" ist ein verstörendes Erinnerungsbuch und als solches ein echtes Alterswerk, das deutlich autobiographisch gefärbt ist. In vielfältigen Metamorphosen begegnet Feyerabend Gestalten seiner Kindheit wieder. Bollmann, der Hund des Vaters, Ritterbusch, das Kindermädchen, oder George, der Barbier, tauchen in veränderter Konstellation erneut auf. Einem Traum ähnelt Feyerabends Gang durch die Stadt, dem albtraumhafte Elemente beigesellt sind. Im Mittelpunkt aber steht das Schicksal des hochbegabten Kindheitsfreundes Ludchen Bock, der Feyerabend schon am Bahnhof begrüßt - als im Stadium der Kindheit verharrender Kofferträger. Er hat den von Feyerabend imaginierten Sehnsuchtsort weder zeitlich noch räumlich verlassen, allerdings um den Preis der Idiotie. Ein stehengebliebenes, ein nicht gelebtes Leben ist zu besichtigen, dessen wiederholter Lobpreis in schärfstem Kontrast zum tatsächlichen Befund steht. Ludchen Bocks schrilles Weinen und Lachen zerstören jede idyllische Anmutung, sosehr sie auch beschworen wird. Es gibt kein Zurück, es sei denn als infantile Regression.
Als "gnadenloses Endstück unserer eigenen Unlösbarkeit" feiert Andreas Maier in seinem furiosen Nachwort Raabes Romanfragment. Zu Ende gedacht, bleibt als Befund nur die Aporie: "Wir leben falsch, und alle wissen das, und es gibt keine Alternative dazu, es gibt nur eine Einsicht darein. Die Menschen sind falsch, alle. Besser wären sie als Kinder, was bei Erwachsenen dann aber Idiotismus bedeutet. Das ist die Nuss, die uns Raabe mit "Altershausen" zum Knacken gegeben hat."
Dass Raabe schließlich wie seine Zeitgenossen Gottfried Keller oder Wilhelm Busch zu den Doppelbegabungen unter den Schriftstellern gehört, verdeutlicht ein voluminöser Band, der sein komplettes zeichnerisches Werk versammelt und in verschiedenen Essays ausleuchtet. Wer sich hiervon neue Aufschlüsse für die Dichtungen erwartet, dürfte enttäuscht werden. Raabe verstand seine Zeichnungen als Zeitvertreib eines Dilettanten und hat sie entsprechend als Privatangelegenheit behandelt. Illustrationen zum Werk, Figurenstudien oder skizzenhafte Einfälle gibt es hier kaum. Am ehesten strömen noch die von der Herausgeberin in die Rubrik allegorisch-symbolhafte Blätter eingeordneten Zeichnungen dichterische Inspiration aus und gemahnt manch überzeichnete Charakterstudie von ferne an die zahlreichen kauzigen Personen in Raabes Werk.
Was überwiegt, sind allerdings Landschaftsaufnahmen. Je flüchtiger und skizzenhafter sie sind, desto mehr überzeugen sie. Wirken die aufwendigeren Aquarelle oftmals statisch und ungelenk, so verströmt manche dahingehuschte Federzeichnung einen eigenen Charme. Als flüchtige Produktionen sind sie wohl auch entstanden, wenn man liest, dass sie Raabe fast stets auf schon benutzten Blättern anfertigte. Reizvoll sind auch die eigens aufgeführten Zeichnungen in Raabes Briefen, Manuskripten und Notizbüchern, die in ihrer Spontaneität an ähnliche Skizzen E.T.A. Hoffmanns erinnern. Beträchtlichen Raum innerhalb des etwa siebenhundert Zeichnungen umfassenden Werkverzeichnisses nehmen die militärischen Darstellungen ein, was man so wohl nicht erwarten würde. Schade, dass sich hierzu nur verstreute Hinweise, aber kein eigener Beitrag findet.
Zehn Jahre vor seinem Tod hat sich der Dichter Raabe, enttäuscht von der Ignoranz des Publikums gegenüber seinen späten Werken, offiziell zur Ruhe gesetzt und firmierte seitdem als Schriftsteller a. D. Hundert Jahre später gibt es hinreichend Gelegenheit, diese Ruhe zu stören.
THOMAS MEISSNER
Wilhelm Raabe: "Stopfkuchen".
Manesse Verlag, Zürich 2010. 395 S., geb., 19,95 [Euro].
Wilhelm Raabe: "Altershausen".
Insel Verlag, Berlin 2010. 141 S., geb, 13,90 [Euro].
Wilhelm Raabe: "Das zeichnerische Werk".
Georg Olms Verlag, Hildesheim u.a. 2010. 423 S., geb., 39,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.11.2010Erzähler der Wut
Erinnerung an Wilhelm Raabe und seinen „Stopfkuchen“
Wie an Wilhelm Raabe erinnern? Vielleicht, indem man es macht wie er, die Maske eines Uralten aufsetzt, um dann an die Jugend zu erinnern. In den späten siebziger Jahren, vor unvordenklicher Zeit also – Fahndungsplakate mit RAF-Gesichtern klebten in Bahnhöfen, die noch Warteräume hatten – gab uns ein Deutschlehrer ein schmales, eng bedrucktes Rowohlt-Taschenbuch mit suggestiv hässlichem Umschlagbild zur Lektüre auf, das in zackiger Schrift den unverständlichen Titel „Stopfkuchen“ trug.
Wir, eine zweifelhaft gewaschene Jungenklasse, hatten gerade die Fron der ersten beiden Griechisch-Jahre hinter uns, waren also gestählt in Entsagung und Fadheit. In dieser definitiv nicht fun-orientierten Umgebung – kein Handy, kein Facebook weit und breit – mit ihren zähen leeren Nachmittagen nahmen wir es nicht weiter krumm, einen Text von schier unendlicher Langeweile aufgetragen zu bekommen. Man las und las und begriff erst kaum, worum es ging in diesen sonderbar ungeschickten Sätzen, die damit begannen, dass ein Autor „gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen und darzuthun“ gedachte, „daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf. Nämlich, ich habe es in Südafrika zu einem Vermögen gebracht.“ Oje, derlei dünne Ironie konnte doch Thomas Mann überzeugender – und war der nicht „wichtiger“?
Schon drei Jahre später hätte kaum einer von uns das Buch „Stopfkuchen“ überhaupt zu Ende gelesen. Aber die Eltern der meisten von uns hatten noch Erinnerungen an die letzte Kriegszeit mit Hunger und Mangel, von ihnen hatte man gelernt, dass es Sünde sei, altes Brot wegzuwerfen, und so hielt man es mit Büchern klassischer Autoren: Man legte sie nicht so einfach zur Seite.
Und irgendwie schaffte es dieser „Stopfkuchen“ in unsere ja nicht überforderten, sondern von den mechanischen Lernvorgängen zu Aorist und dorischem Futur ermatteten Gehirne, und zwar durch seine scheinbar mühseligste Eigenschaft, die von aller Germanistik so abschreckend ehrfürchtig gerühmte komplexe Erzählform. Gerade der gewissermaßen ingenieurstechnische, heute würde man sagen: computerbastlerische Aspekt des kurzen, reichen Raabe’schen Altersbuchs weckte den Denksportehrgeiz der Siebzehnjährigen.
Und das puzzelten wir dann nach: Der Roman besteht aus einer Niederschrift, die während einer dreißigtägigen Schiffsreise von Hamburg nach Kapstadt entsteht. Diese Niederschrift enthält den Bericht von einem einzigen Tag. Das Verhältnis Erzählzeit und erzählte Zeit beträgt auf dieser Ebene also 30 : 1. Doch in diesem einen Tag wiederum erzählt die Hauptfigur, die den Spitznamen Stopfkuchen trägt, seinem Freund, der das auf seiner Schiffsreise aufschreibt, mündlich Ereignisse aus etwa 25 Jahren.
Behält man das Tagesmaß bei, kommt man so zu Verhältnissen zwischen den Erzählebenen von 30 : 1 : 9000. Dahinter stehen noch Anspielungen auf die deutsche Geschichte von Bismarck rückwärts bis in den Siebenjährigen Krieg und noch weiter dahinter die Zeitebene der Urgeschichte, weil der fette Herr Stopfkuchen Mammutknochen und Versteinerungen sammelt. Versenkung in einen Abgrund, mise-en-abîme nennt der Franzose das.
Das gefiel uns, zumal dieses enorme Zeitbauwerk im Rowohlt-Taschenbuch Nr. 100 nur 190 Seiten in Anspruch nahm. Stilistisch schien es quälend geschwätzig, aber bautechnisch war es fugenlos. Denn auch seine räumlichen Verhältnisse spiegelten dieses Ineinander von Groß und Winzig. Das „See- und Mordgeschichte“ genannte Büchlein wird niedergeschrieben auf einer Schiffsreise um den halben Globus, von Norden nach Süden. Doch der Schauplatz der darin verpuppten Geschichte hat genau den Durchmesser eines Kanonenschusses aus dem Siebenjährigen Krieg. Denn damals, um 1760, wurde das ungenannte preußische Städtchen an der altmärkisch-niedersächsischen Grenze, in dem der Roman spielt, von einem kursächsischen Prinzen belagert; und seither steckt eine Kugel im Giebel des Elternhauses jenes Mannes, der auf seiner Reise nach Südafrika die Geschichte niederschreibt.
Wie weit flogen im 18. Jahrhundert Kanonenkugeln? Höchstens ein paar hundert Meter. Das setze man gegen die Entfernung Hamburg-Kapstadt. Und verknüpfe es mit dem im Roman geschwätzig erörterten Umstand, dass eine wichtige Figur der „Stopfkuchen“-Handlung ein Landbriefträger ist, der zwar nie den Radius des heimatlichen Kanonenschusses verlässt, aber im Laufe seiner fünfzig Dienstjahre zu Fuß so viele Kilometer abläuft, dass er den Erdball fünfmal hätte umrunden können.
Auf Kilometer umgerechnet lauten dann die Raumverhältnisse des Romans annähernd: 20 000 : 1 : 200 000. Und da über allem natürlich der Mond schimmert, die Sterne glitzern und auch die Sonne in ihrem kurz-langen Lauf durch den einen Erzähltag ostentativ blendet, rundet sich das zeitbildende Weltall darüber. Die im „Stopfkuchen“ erbaute Raumzeitwelt darf man mit Goethe ein „drehend Sterngewölbe“ nennen, „Anfang und Ende immerfort dasselbe“.
Wir waren einigermaßen beeindruckt, als wir das alles ausgerechnet hatten, an einem Regenvormittag im humanistischen Gymnasium. Das scheußliche Rowohlt-Heft mit seinem gelben Holzpapier lag verbraucht und zerfleddert auf den Bänken. Tatsächlich hat die Woche mit „Stopfkuchen“, die so langweilig begonnen hatte und in ein Rechenexempel mündete, viele von uns fit gemacht für die meisten Anforderungen der literarischen Moderne. Wer hier einmal durchgegangen war, wer sich, um einen „Stopfkuchen“-Ausdruck zu verwenden, durchgefressen hatte, denn konnten später kein William Faulkner, kein Arno Schmidt, kein Vladimir Nabokov, ja nicht einmal Joyce so recht mehr schrecken.
Denn, das zeigte sich vor allem beim Wiederlesen – wenn man ein Buch immer wieder lesen muss, dann dieses –, auch motivisch, handlungstechnisch, philosophisch ist Raabes kleiner, riesengroßer Roman so dicht vernäht und eng gestrickt wie nur die allerbesten Exemplare dieses dehnbaren Genres. Die „Seegeschichte“ des Untertitels erschöpft sich darin, dass er vorgibt, auf See niedergeschrieben zu sein; die „Mordgeschichte“ dagegen findet statt. Sie darf natürlich nicht verraten werden. Sie lässt sich aber in zwei Sätzen andeuten: Ein bösartiger Viehhändler wird im Affekt erschlagen; da der Mörder nicht entdeckt wird, muss ein falsch Verdächtigter ein Leben lang dafür büßen.
Aber eigentlich geht es, und das versteht man vielleicht erst, wenn man sich dem senatorischen Alter nähert, in dem Raabe sein Büchlein schrieb, um Wut. Wut nicht über Großes, sondern die alltägliche Wut, die entsteht, wenn die Menschen einander gedankenlos und sozusagen unschuldig quälen. „Stopfkuchen“, dieses prunkvoll gerahmte, blendend helle Sommerstück aus einer deutschen Kleinstadt, hat als Mitte seines drehenden Sterngewölbes tatsächlich „immerfort dasselbe“: die Kain-und-Abel-Geschichte. Die Handlung entwickelt sich mit der strengen Unausweichlichkeit der Tragödie aus dem Fortwirken der Wut: Der eine quält den anderen ein Leben lang und wird dafür erschlagen, dann überträgt die Gemeinschaft der Umgebung die Quälerei auf den nächsten Besten, der darüber beinahe selber wieder zum Mörder wird. Heute würde man das als Kette des Mobbings beschreiben.
Als Raabe das schrieb, wurde Bismarck gerade entlassen und erlitten Jugendliche wie Thomas Mann jenen mit Demütigungen gespickten Schulalltag, den die „Buddenbrooks“ zehn Jahre nach „Stopfkuchen“ so suggestiv, aber literarisch durchaus nicht subtiler darstellten. Dass die wilhelminische Gesellschaft, in der die idealistische Bildungsphrase, der Glaube an Geschichte und Fortschritt die Bühne beherrschte, im Untergrund schon die Gewaltsexzesse des 20. Jahrhunderts vorbereitete, lässt sich vielen Büchern vor dem Ersten Weltkrieg entnehmen. Auch „Stopfkuchen“ berichtet von der Welt, die der Film „Das weiße Band“ 120 Jahre später noch einmal vor Augen stellte.
Wilhelm Raabe starb am 15. November vor hundert Jahren. Er war damals schon seit einem Jahrzehnt verstummt und hatte einer brillanten jungen Generation das Feld überlassen. Ein halbes Jahrhundert davor war er mit bittersüßlichen Kitschbüchern wie „Die Chronik der Sperlingsgasse“ zum Liebling einer Millionenleserschaft aufgestiegen. Dann begann er, kurz nach der Reichsgründung von 1871, etwa ein Dutzend alterskühner – „kurz- &-gut“ nannte sie Arno Schmidt – Romane mit immer skurrileren Titeln vorzulegen, die immer weniger Leser fanden. Wie Fontane wurde Raabe erst im hohen Alter richtig gut. Aber als er zur Meisterschaft gelangte, fand schon die naturalistische Theaterrevolution statt und erschienen von jungen deutschen Autoren die ersten modernen Gedichte in französischem Stil. So stürzte Raabe zwischen die Epochen. Der Volksschriftsteller musste für seine Wiederauferstehung als „Writer’s writer“, als Autor für Fortschrittene, bis in die dreißiger Jahre warten, als ausgerechnet Romano Guardini ihn entdeckte und der Germanistik den Fall neu unterbreitete.
Seither hat eine nicht abreißende Kette brillanter literaturwissenschaftlicher Untersuchungen Raabes formale Meisterschaft bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet. Zuletzt hat Brigitte Kronauer für diesen Autor geworben ( SZ vom 8. Juli 2010 ). Was dabei noch nicht recht deutlich wurde, ist das Wut-Thema, die Inspektion der menschlichen Natur, die dieser ganz unsonnige Humorist geleistet hat. Das aber ließe sich mit einem leiblichen Experiment in Erfahrung bringen.
Im Kern des narrativen Sterngewölbes „Stopfkuchen“ steht der Erzählmonolog des dicken, verfressenen Heinrich Schaumann, den seine Jugendkumpanen mit diesem hässlichen Spitznamen (ein Kuchen, der aus Essensresten zusammengebacken wird) belegt haben. Und Heinrich Stopfkuchens Monolog ist ein Racheakt: Erst quält er mit Langeweile, dann mit Spannung, am Ende mit Erkenntnis. Er verwandelt Wut vor den Augen und Ohren der Leser in Kunst. Eigentlich sollte man das hören. „Stopfkuchen“ ist, das merkt man aber erst nach vielen Jahren, gar kein Roman; es ist ein aufwendig eingefasstes therapeutisches Schimpfdrama, ein ewig stehender Moment, in dem immer wieder, aber nur symbolisch zugeschlagen wird. Was für ein Hörbuchstoff für einen intelligenten Schauspieler!
Mit siebzehn waren wir dafür zu unerfahren; übrigens zufälligerweise, denn in unserem Jahrgang gab es weit und breit kein Mobbing. Mord und Totschlag waren trotz der Terroristenplakate in den Bahnhöfen so fern, dass wir gar nicht begriffen, wie bitterböse es im Kern von „Stopfkuchen“ zugeht.
GUSTAV SEIBT
Wer sich durch den „Stopfkuchen“
gefressen hatte, den konnte die
Literaturmoderne nicht schrecken
Raabe berichtet von einem
Wilhelminismus, der die späteren
Gewaltexzesse vorbereitete
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Erinnerung an Wilhelm Raabe und seinen „Stopfkuchen“
Wie an Wilhelm Raabe erinnern? Vielleicht, indem man es macht wie er, die Maske eines Uralten aufsetzt, um dann an die Jugend zu erinnern. In den späten siebziger Jahren, vor unvordenklicher Zeit also – Fahndungsplakate mit RAF-Gesichtern klebten in Bahnhöfen, die noch Warteräume hatten – gab uns ein Deutschlehrer ein schmales, eng bedrucktes Rowohlt-Taschenbuch mit suggestiv hässlichem Umschlagbild zur Lektüre auf, das in zackiger Schrift den unverständlichen Titel „Stopfkuchen“ trug.
Wir, eine zweifelhaft gewaschene Jungenklasse, hatten gerade die Fron der ersten beiden Griechisch-Jahre hinter uns, waren also gestählt in Entsagung und Fadheit. In dieser definitiv nicht fun-orientierten Umgebung – kein Handy, kein Facebook weit und breit – mit ihren zähen leeren Nachmittagen nahmen wir es nicht weiter krumm, einen Text von schier unendlicher Langeweile aufgetragen zu bekommen. Man las und las und begriff erst kaum, worum es ging in diesen sonderbar ungeschickten Sätzen, die damit begannen, dass ein Autor „gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen und darzuthun“ gedachte, „daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf. Nämlich, ich habe es in Südafrika zu einem Vermögen gebracht.“ Oje, derlei dünne Ironie konnte doch Thomas Mann überzeugender – und war der nicht „wichtiger“?
Schon drei Jahre später hätte kaum einer von uns das Buch „Stopfkuchen“ überhaupt zu Ende gelesen. Aber die Eltern der meisten von uns hatten noch Erinnerungen an die letzte Kriegszeit mit Hunger und Mangel, von ihnen hatte man gelernt, dass es Sünde sei, altes Brot wegzuwerfen, und so hielt man es mit Büchern klassischer Autoren: Man legte sie nicht so einfach zur Seite.
Und irgendwie schaffte es dieser „Stopfkuchen“ in unsere ja nicht überforderten, sondern von den mechanischen Lernvorgängen zu Aorist und dorischem Futur ermatteten Gehirne, und zwar durch seine scheinbar mühseligste Eigenschaft, die von aller Germanistik so abschreckend ehrfürchtig gerühmte komplexe Erzählform. Gerade der gewissermaßen ingenieurstechnische, heute würde man sagen: computerbastlerische Aspekt des kurzen, reichen Raabe’schen Altersbuchs weckte den Denksportehrgeiz der Siebzehnjährigen.
Und das puzzelten wir dann nach: Der Roman besteht aus einer Niederschrift, die während einer dreißigtägigen Schiffsreise von Hamburg nach Kapstadt entsteht. Diese Niederschrift enthält den Bericht von einem einzigen Tag. Das Verhältnis Erzählzeit und erzählte Zeit beträgt auf dieser Ebene also 30 : 1. Doch in diesem einen Tag wiederum erzählt die Hauptfigur, die den Spitznamen Stopfkuchen trägt, seinem Freund, der das auf seiner Schiffsreise aufschreibt, mündlich Ereignisse aus etwa 25 Jahren.
Behält man das Tagesmaß bei, kommt man so zu Verhältnissen zwischen den Erzählebenen von 30 : 1 : 9000. Dahinter stehen noch Anspielungen auf die deutsche Geschichte von Bismarck rückwärts bis in den Siebenjährigen Krieg und noch weiter dahinter die Zeitebene der Urgeschichte, weil der fette Herr Stopfkuchen Mammutknochen und Versteinerungen sammelt. Versenkung in einen Abgrund, mise-en-abîme nennt der Franzose das.
Das gefiel uns, zumal dieses enorme Zeitbauwerk im Rowohlt-Taschenbuch Nr. 100 nur 190 Seiten in Anspruch nahm. Stilistisch schien es quälend geschwätzig, aber bautechnisch war es fugenlos. Denn auch seine räumlichen Verhältnisse spiegelten dieses Ineinander von Groß und Winzig. Das „See- und Mordgeschichte“ genannte Büchlein wird niedergeschrieben auf einer Schiffsreise um den halben Globus, von Norden nach Süden. Doch der Schauplatz der darin verpuppten Geschichte hat genau den Durchmesser eines Kanonenschusses aus dem Siebenjährigen Krieg. Denn damals, um 1760, wurde das ungenannte preußische Städtchen an der altmärkisch-niedersächsischen Grenze, in dem der Roman spielt, von einem kursächsischen Prinzen belagert; und seither steckt eine Kugel im Giebel des Elternhauses jenes Mannes, der auf seiner Reise nach Südafrika die Geschichte niederschreibt.
Wie weit flogen im 18. Jahrhundert Kanonenkugeln? Höchstens ein paar hundert Meter. Das setze man gegen die Entfernung Hamburg-Kapstadt. Und verknüpfe es mit dem im Roman geschwätzig erörterten Umstand, dass eine wichtige Figur der „Stopfkuchen“-Handlung ein Landbriefträger ist, der zwar nie den Radius des heimatlichen Kanonenschusses verlässt, aber im Laufe seiner fünfzig Dienstjahre zu Fuß so viele Kilometer abläuft, dass er den Erdball fünfmal hätte umrunden können.
Auf Kilometer umgerechnet lauten dann die Raumverhältnisse des Romans annähernd: 20 000 : 1 : 200 000. Und da über allem natürlich der Mond schimmert, die Sterne glitzern und auch die Sonne in ihrem kurz-langen Lauf durch den einen Erzähltag ostentativ blendet, rundet sich das zeitbildende Weltall darüber. Die im „Stopfkuchen“ erbaute Raumzeitwelt darf man mit Goethe ein „drehend Sterngewölbe“ nennen, „Anfang und Ende immerfort dasselbe“.
Wir waren einigermaßen beeindruckt, als wir das alles ausgerechnet hatten, an einem Regenvormittag im humanistischen Gymnasium. Das scheußliche Rowohlt-Heft mit seinem gelben Holzpapier lag verbraucht und zerfleddert auf den Bänken. Tatsächlich hat die Woche mit „Stopfkuchen“, die so langweilig begonnen hatte und in ein Rechenexempel mündete, viele von uns fit gemacht für die meisten Anforderungen der literarischen Moderne. Wer hier einmal durchgegangen war, wer sich, um einen „Stopfkuchen“-Ausdruck zu verwenden, durchgefressen hatte, denn konnten später kein William Faulkner, kein Arno Schmidt, kein Vladimir Nabokov, ja nicht einmal Joyce so recht mehr schrecken.
Denn, das zeigte sich vor allem beim Wiederlesen – wenn man ein Buch immer wieder lesen muss, dann dieses –, auch motivisch, handlungstechnisch, philosophisch ist Raabes kleiner, riesengroßer Roman so dicht vernäht und eng gestrickt wie nur die allerbesten Exemplare dieses dehnbaren Genres. Die „Seegeschichte“ des Untertitels erschöpft sich darin, dass er vorgibt, auf See niedergeschrieben zu sein; die „Mordgeschichte“ dagegen findet statt. Sie darf natürlich nicht verraten werden. Sie lässt sich aber in zwei Sätzen andeuten: Ein bösartiger Viehhändler wird im Affekt erschlagen; da der Mörder nicht entdeckt wird, muss ein falsch Verdächtigter ein Leben lang dafür büßen.
Aber eigentlich geht es, und das versteht man vielleicht erst, wenn man sich dem senatorischen Alter nähert, in dem Raabe sein Büchlein schrieb, um Wut. Wut nicht über Großes, sondern die alltägliche Wut, die entsteht, wenn die Menschen einander gedankenlos und sozusagen unschuldig quälen. „Stopfkuchen“, dieses prunkvoll gerahmte, blendend helle Sommerstück aus einer deutschen Kleinstadt, hat als Mitte seines drehenden Sterngewölbes tatsächlich „immerfort dasselbe“: die Kain-und-Abel-Geschichte. Die Handlung entwickelt sich mit der strengen Unausweichlichkeit der Tragödie aus dem Fortwirken der Wut: Der eine quält den anderen ein Leben lang und wird dafür erschlagen, dann überträgt die Gemeinschaft der Umgebung die Quälerei auf den nächsten Besten, der darüber beinahe selber wieder zum Mörder wird. Heute würde man das als Kette des Mobbings beschreiben.
Als Raabe das schrieb, wurde Bismarck gerade entlassen und erlitten Jugendliche wie Thomas Mann jenen mit Demütigungen gespickten Schulalltag, den die „Buddenbrooks“ zehn Jahre nach „Stopfkuchen“ so suggestiv, aber literarisch durchaus nicht subtiler darstellten. Dass die wilhelminische Gesellschaft, in der die idealistische Bildungsphrase, der Glaube an Geschichte und Fortschritt die Bühne beherrschte, im Untergrund schon die Gewaltsexzesse des 20. Jahrhunderts vorbereitete, lässt sich vielen Büchern vor dem Ersten Weltkrieg entnehmen. Auch „Stopfkuchen“ berichtet von der Welt, die der Film „Das weiße Band“ 120 Jahre später noch einmal vor Augen stellte.
Wilhelm Raabe starb am 15. November vor hundert Jahren. Er war damals schon seit einem Jahrzehnt verstummt und hatte einer brillanten jungen Generation das Feld überlassen. Ein halbes Jahrhundert davor war er mit bittersüßlichen Kitschbüchern wie „Die Chronik der Sperlingsgasse“ zum Liebling einer Millionenleserschaft aufgestiegen. Dann begann er, kurz nach der Reichsgründung von 1871, etwa ein Dutzend alterskühner – „kurz- &-gut“ nannte sie Arno Schmidt – Romane mit immer skurrileren Titeln vorzulegen, die immer weniger Leser fanden. Wie Fontane wurde Raabe erst im hohen Alter richtig gut. Aber als er zur Meisterschaft gelangte, fand schon die naturalistische Theaterrevolution statt und erschienen von jungen deutschen Autoren die ersten modernen Gedichte in französischem Stil. So stürzte Raabe zwischen die Epochen. Der Volksschriftsteller musste für seine Wiederauferstehung als „Writer’s writer“, als Autor für Fortschrittene, bis in die dreißiger Jahre warten, als ausgerechnet Romano Guardini ihn entdeckte und der Germanistik den Fall neu unterbreitete.
Seither hat eine nicht abreißende Kette brillanter literaturwissenschaftlicher Untersuchungen Raabes formale Meisterschaft bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet. Zuletzt hat Brigitte Kronauer für diesen Autor geworben ( SZ vom 8. Juli 2010 ). Was dabei noch nicht recht deutlich wurde, ist das Wut-Thema, die Inspektion der menschlichen Natur, die dieser ganz unsonnige Humorist geleistet hat. Das aber ließe sich mit einem leiblichen Experiment in Erfahrung bringen.
Im Kern des narrativen Sterngewölbes „Stopfkuchen“ steht der Erzählmonolog des dicken, verfressenen Heinrich Schaumann, den seine Jugendkumpanen mit diesem hässlichen Spitznamen (ein Kuchen, der aus Essensresten zusammengebacken wird) belegt haben. Und Heinrich Stopfkuchens Monolog ist ein Racheakt: Erst quält er mit Langeweile, dann mit Spannung, am Ende mit Erkenntnis. Er verwandelt Wut vor den Augen und Ohren der Leser in Kunst. Eigentlich sollte man das hören. „Stopfkuchen“ ist, das merkt man aber erst nach vielen Jahren, gar kein Roman; es ist ein aufwendig eingefasstes therapeutisches Schimpfdrama, ein ewig stehender Moment, in dem immer wieder, aber nur symbolisch zugeschlagen wird. Was für ein Hörbuchstoff für einen intelligenten Schauspieler!
Mit siebzehn waren wir dafür zu unerfahren; übrigens zufälligerweise, denn in unserem Jahrgang gab es weit und breit kein Mobbing. Mord und Totschlag waren trotz der Terroristenplakate in den Bahnhöfen so fern, dass wir gar nicht begriffen, wie bitterböse es im Kern von „Stopfkuchen“ zugeht.
GUSTAV SEIBT
Wer sich durch den „Stopfkuchen“
gefressen hatte, den konnte die
Literaturmoderne nicht schrecken
Raabe berichtet von einem
Wilhelminismus, der die späteren
Gewaltexzesse vorbereitete
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