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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.2009

Der rote Jürgen als Straßenkind
Einblicke in das Milieu der jüdischen Oberschicht Berlins

Der Titel ist erklärungsbedürftig. Wer kann schon etwas mit diesen Familiennamen anfangen? Wer kommt schon auf die Idee, dass die eine Familie mit Jürgen Kuczynski zu tun hat, jenem Ost-Berliner Wirtschaftshistoriker und überzeugten Kommunisten, der wie kein anderer Statistiken produzierte und 42 Bände über die Geschichte der arbeitenden Klassen herausgebracht hat? Das Buch stellt eine interessante Mischung von jüdischer Familiengeschichte, Unternehmerbiographien und Einblicken in das gesellschaftliche Milieu der jüdischen Oberschicht Berlins dar. Da werden die Wohnviertel von Bankiers vorgestellt oder über die "Gesellschaft der Freunde" berichtet, eine Vereinigung "aufstrebender und assimilationsbereiter Juden", die schon am Ende des 18. Jahrhunderts gegründet, im Jahre 1935 mit Hilfe der Reichstagsbrandverordnung aufgelöst wurde. Die Privatbankiers waren im Berlin der Kaiserzeit zahlreich vertreten. Es gab zirka 350 Privatbanken. Auf den qualitativen Unterschied zwischen diesen eigenverantwortlich handelnden Bankiers und den bonusorientierten "Bankern" unserer Tage braucht nicht sonderlich hingewiesen zu werden.

Bei der Familie Gradenwitz überrascht die Vielseitigkeit. Da gab es einen Grundstücksentwickler, der zusammen mit dem Fürsten Henckel von Donnersmarck ganze Villenviertel erschloss, die es dem neuen Wohlstand ermöglichten, einen Lebensstil zu pflegen, der sich denkbar krass vom Leben der anderen in den Mietskasernen unterschied. Die wirtschaftliche Betätigung in der Industrie verdient einiges Interesse. Auffallend ist die Verbindung von wissenschaftlich-technischer Ausbildung und unternehmerischer Tätigkeit, die vom Maschinenbau über die chemische Industrie bis zum Flugzeugbau reichte.

Bertha Gradenwitz, die Tochter des Flugzeugpioniers, stiftete der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft einen Institutsneubau für den Zellphysiologen Otto Warburg. Es war die Kopie eines märkischen Herrenhauses. Deutlicher kann wohl Assimilation nicht demonstriert werden.

Bleibt die Frage zu klären, wen der Autor mit "den schwarzen Schafen" gemeint hat. Das bezieht sich nicht auf Jürgen Kuczynski als krassen Außenseiter dieses reichen und weitverzweigten Familienclans. Es verhält sich genau umgekehrt. Denn der Historiker bezeichnete seinen Großvater, den Privatbankier Wilhelm Kuczynski, als "schwarzes Schaf" - "er wurde nämlich Millionär". Das ist eine bewusste Verdrehung, denn diese Spezies war eher die Regel als die Ausnahme. Kuczynski hat sich wiederholt mit der Familiengeschichte beschäftigt, dabei aber eine bewusste Auswahl vorgenommen. Wissenschaftler und im sozialen Bereich tätige Familienmitglieder stehen im Vordergrund. Er selbst stilisierte sich einmal als "Straßenkind".

Der Autor zeigt jedoch, dass die Hochzeit der Eltern Kuczynskis im Jahre 1903 einen großbürgerlichen Lebensstil par excellence demonstrierte, der mit der selektiven Wahrnehmung des Sohnes nichts zu tun hat. Wir lernen noch mehr: Auch der rote Jürgen hatte nichts gegen die schnelle Art des Geldverdienens und verschmähte keineswegs Tipps für "gewinnträchtige Finanzanlagen", die er von seinem Onkel erhielt. Schließlich macht uns der Autor auf eine Ursache für das Scheitern des Marxismus aufmerksam. Im Tagebuch Kuczynskis aus den zwanziger Jahren lernen wir: "Heute wieder viel Marx gelesen. Ich glaube der erste zu sein, der gründlich versteht. Man muss eben Jude sein und Hegel verstanden haben, um Marx zu verstehen." Jüdische Marxisten hat es genug gegeben, aber wie viele hatten auch Hegel verstanden? Hier gilt es weiter zu forschen.

HENNING KÖHLER

Hans H. Lembke: Die schwarzen Schafe bei den Gradenwitz und Kuczynski. Zwei Berliner Familien im 19. und 20. Jahrhundert. Trafo Wissenschaftsverlag, Berlin 2008. 452 S., 29,80 [Euro].

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