Neun Jahre lang war Micheline Calmy-Rey Außenministerin der Schweiz. Wie kaum einer ihrer Vorgänger hat sie die Außenpolitik offensiv gestaltet, mit ihren Stellungnahmen überrascht und durch aktive Teilhabe die Verfechter der Neutralität provoziert. Doch selbst ihre Kritiker räumen ihr Mut und Entscheidungsstärke ein. Nun erzählt Calmy-Rey von ihren Erfahrungen und erläutert die Politik der Schweiz in Europa und in der Welt. Spannend verknüpft sie ihr politisches Credo mit der Erinnerung an die wichtigen Ereignisse ihrer Zeit im Bundesrat. Ein kluges und oft sehr persönliches Buch, das eine mitunter provokante Gegenwartsanalyse der Schweiz bietet.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wichtig findet Philip Rosin dieses mahnende Plädoyer für eine andere Schweiz, verfasst von der früheren Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey. Streitbar scheint die Autorin dem Rezensentin von jeher. Und auch der Einsatz der Autorin für eine aktive Menschenrechtspolitik der Eidgenossen, für eine Annäherung an die EU und die Aufgabe des bilateralen Wegs, für eine offene, internationale Schweiz, findet er nicht selbstverständlich, aber richtig. Problematisch macht ihm die Lektüre einzig der Mix des Buches aus Streitschrift und Memoiren, als einerseits distanzierte Darstellung einer "elder stateswoman" und andererseits leidenschaftliches Plädoyer einer aktiven Streiterin für eine bessere Schweiz.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2014Bitte mehr Engagement!
Eidgenossin Calmy-Rey
Langfristige mentalitätsgeschichtliche Prägungen eines Landes werden bei der Analyse aktueller Ereignisse häufig nicht ausreichend in Rechnung gestellt. Die Eidgenossenschaft definierte sich traditionell über ihre Andersartigkeit vom europäischen Umfeld - keine fremden Vögte, erfolgreiche Revolution von 1848 und Gründung eines liberalen Bundesstaats, als Republik unter Monarchien beziehungsweise Demokratie unter Diktaturen. Das bis in die heutige Zeit nachwirkende, meist positiv konnotierte Bild vom "Sonderfall Schweiz" mit Elementen wie der bewaffneten Neutralität und der direkten Demokratie stellt das genaue Gegenteil zum negativen deutschen "Sonderweg" dar, als dessen Konsequenzen hierzulande die Bereitschaft zur Integration in internationale Strukturen und freiwilliger Souveränitätsverlust abgeleitet werden.
Vor diesem Hintergrund ist ein Plädoyer für mehr Offenheit und Kooperation mit Europa und der Welt, wie es die ehemalige Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey nun vorlegt, keine Selbstverständlichkeit. Die streitbare Genfer Sozialdemokratin nimmt die Erinnerungen an ihre Zeit als Mitglied des Bundesrats von 2003 bis 2011 als Folie, um ihre politischen Überzeugungen zu betonen. In den Mittelpunkt stellt Calmy-Rey ihre Forderung nach einer aktiven Neutralitätspolitik, die bereits ihre Regierungstätigkeit geprägt und ihr harsche Kritik der nationalkonservativen Kräfte eingetragen hatte. Die Schweiz habe die Aufgabe, bei der Konfliktverhütung, der zivilen Friedensförderung und dem Schutz der Menschenrechte aktiv mitzuwirken. Jenseits der Erfordernisse des Neutralitätsrechts - keine Kriegsbeteiligung, keine Waffenlieferungen an Kriegsparteien in einem Konflikt, keine Nutzung des heimischen Territoriums zum Waffen- und Truppentransport von Konfliktparteien - ergäben sich durch die Neutralität keine wirklichen Einschränkungen. Auslandsreisen von Bundesräten insbesondere in Entwicklungsländer waren im Berner Politikbetrieb als angeblich unnötige äußere Repräsentation lange Zeit umstritten und sind noch heute eher die Ausnahme. Als symptomatisch beschreibt Calmy-Rey die verzögerte Abreise zu einer internationalen Tagung nach Bamako - alles war minutiös geplant worden, doch hatte man vergessen, die beiden Piloten der Regierungsmaschine gegen Gelbfieber zu impfen.
Damit sich die Schweiz in einem wandelnden internationalen Umfeld zukünftig behaupten kann, ist nach Ansicht Calmy-Reys eine Annäherung an die EU unerlässlich. Aus ihrer Amtszeit nennt sie zwei Beispiele. Im vorrevolutionären Libyen des Muammar al-Gaddafi wurden im Sommer 2008 zwei Schweizer Staatsbürger inhaftiert, nachdem der Gaddafi-Sohn Hannibal in Genf kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen worden war. Die Lösung des Konflikts gelang erst 2010 durch eine Europäisierung des Konflikts, als die Schweiz Visabeschränkungen gegen Libyen erließ, die für den gesamten Schengen-Raum gültig waren, und die EU sich in die Verhandlungen einschaltete. Darüber hinaus beharrte die Schweiz im Streit über ihr Bankgeheimnis lange auf Maximalpositionen, die sie unter großem internationalem Druck schließlich doch räumen musste, anstatt sich in Verhandlungen mit der EU proaktiv an einer Lösung zu beteiligen und den Gang der Ereignisse zu beeinflussen.
Calmy-Rey kommt zu dem Schluss, dass eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz größere Vorteile brächte als eine Fortsetzung des bilateralen Wegs. In einer sich entwickelnden EU der zwei Geschwindigkeiten, in der ein Teil der Mitglieder den Euro eingeführt hat sowie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik eng zusammenarbeitet und ein anderer Teil sich eher als eine Art Freihandelszone versteht, sei die zweite Variante für die Schweiz attraktiv. Auf diese Weise besäße Bern die Möglichkeit zur Mitentscheidung und würde neues EU-Recht nicht wie bisher passiv im "autonomen Nachvollzug" übernehmen müssen.
Die Mischung aus Streitschrift und Memoiren wirkt sich etwas störend auf Struktur und Lesbarkeit aus. Der Autorin ist anzumerken, dass sie sich noch nicht als distanzierte "elder stateswoman" begreift, sondern weiterhin als leidenschaftliche Streiterin für eine offene und internationale Schweiz. Nach der Volksabstimmung vom Februar 2014 gegen "Masseneinwanderung", durch die die gesellschaftliche Spaltung der Eidgenossen offenbar wurde, ist eine solche mahnende Stimme wichtiger denn je. Die Aktualität von Calmy-Reys außenpolitischem Plädoyer unterstreicht die Schweiz gegenwärtig mit ihrem diplomatischen Engagement zur Deeskalation der Ukraine-Krise im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren Präsidentschaft sie 2014 innehat.
PHILIP ROSIN
Micheline Calmy-Rey: Die Schweiz, die ich uns wünsche. Mit einem Vorwort von Charles Lewinsky. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2014. 240 S., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eidgenossin Calmy-Rey
Langfristige mentalitätsgeschichtliche Prägungen eines Landes werden bei der Analyse aktueller Ereignisse häufig nicht ausreichend in Rechnung gestellt. Die Eidgenossenschaft definierte sich traditionell über ihre Andersartigkeit vom europäischen Umfeld - keine fremden Vögte, erfolgreiche Revolution von 1848 und Gründung eines liberalen Bundesstaats, als Republik unter Monarchien beziehungsweise Demokratie unter Diktaturen. Das bis in die heutige Zeit nachwirkende, meist positiv konnotierte Bild vom "Sonderfall Schweiz" mit Elementen wie der bewaffneten Neutralität und der direkten Demokratie stellt das genaue Gegenteil zum negativen deutschen "Sonderweg" dar, als dessen Konsequenzen hierzulande die Bereitschaft zur Integration in internationale Strukturen und freiwilliger Souveränitätsverlust abgeleitet werden.
Vor diesem Hintergrund ist ein Plädoyer für mehr Offenheit und Kooperation mit Europa und der Welt, wie es die ehemalige Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey nun vorlegt, keine Selbstverständlichkeit. Die streitbare Genfer Sozialdemokratin nimmt die Erinnerungen an ihre Zeit als Mitglied des Bundesrats von 2003 bis 2011 als Folie, um ihre politischen Überzeugungen zu betonen. In den Mittelpunkt stellt Calmy-Rey ihre Forderung nach einer aktiven Neutralitätspolitik, die bereits ihre Regierungstätigkeit geprägt und ihr harsche Kritik der nationalkonservativen Kräfte eingetragen hatte. Die Schweiz habe die Aufgabe, bei der Konfliktverhütung, der zivilen Friedensförderung und dem Schutz der Menschenrechte aktiv mitzuwirken. Jenseits der Erfordernisse des Neutralitätsrechts - keine Kriegsbeteiligung, keine Waffenlieferungen an Kriegsparteien in einem Konflikt, keine Nutzung des heimischen Territoriums zum Waffen- und Truppentransport von Konfliktparteien - ergäben sich durch die Neutralität keine wirklichen Einschränkungen. Auslandsreisen von Bundesräten insbesondere in Entwicklungsländer waren im Berner Politikbetrieb als angeblich unnötige äußere Repräsentation lange Zeit umstritten und sind noch heute eher die Ausnahme. Als symptomatisch beschreibt Calmy-Rey die verzögerte Abreise zu einer internationalen Tagung nach Bamako - alles war minutiös geplant worden, doch hatte man vergessen, die beiden Piloten der Regierungsmaschine gegen Gelbfieber zu impfen.
Damit sich die Schweiz in einem wandelnden internationalen Umfeld zukünftig behaupten kann, ist nach Ansicht Calmy-Reys eine Annäherung an die EU unerlässlich. Aus ihrer Amtszeit nennt sie zwei Beispiele. Im vorrevolutionären Libyen des Muammar al-Gaddafi wurden im Sommer 2008 zwei Schweizer Staatsbürger inhaftiert, nachdem der Gaddafi-Sohn Hannibal in Genf kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen worden war. Die Lösung des Konflikts gelang erst 2010 durch eine Europäisierung des Konflikts, als die Schweiz Visabeschränkungen gegen Libyen erließ, die für den gesamten Schengen-Raum gültig waren, und die EU sich in die Verhandlungen einschaltete. Darüber hinaus beharrte die Schweiz im Streit über ihr Bankgeheimnis lange auf Maximalpositionen, die sie unter großem internationalem Druck schließlich doch räumen musste, anstatt sich in Verhandlungen mit der EU proaktiv an einer Lösung zu beteiligen und den Gang der Ereignisse zu beeinflussen.
Calmy-Rey kommt zu dem Schluss, dass eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz größere Vorteile brächte als eine Fortsetzung des bilateralen Wegs. In einer sich entwickelnden EU der zwei Geschwindigkeiten, in der ein Teil der Mitglieder den Euro eingeführt hat sowie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik eng zusammenarbeitet und ein anderer Teil sich eher als eine Art Freihandelszone versteht, sei die zweite Variante für die Schweiz attraktiv. Auf diese Weise besäße Bern die Möglichkeit zur Mitentscheidung und würde neues EU-Recht nicht wie bisher passiv im "autonomen Nachvollzug" übernehmen müssen.
Die Mischung aus Streitschrift und Memoiren wirkt sich etwas störend auf Struktur und Lesbarkeit aus. Der Autorin ist anzumerken, dass sie sich noch nicht als distanzierte "elder stateswoman" begreift, sondern weiterhin als leidenschaftliche Streiterin für eine offene und internationale Schweiz. Nach der Volksabstimmung vom Februar 2014 gegen "Masseneinwanderung", durch die die gesellschaftliche Spaltung der Eidgenossen offenbar wurde, ist eine solche mahnende Stimme wichtiger denn je. Die Aktualität von Calmy-Reys außenpolitischem Plädoyer unterstreicht die Schweiz gegenwärtig mit ihrem diplomatischen Engagement zur Deeskalation der Ukraine-Krise im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren Präsidentschaft sie 2014 innehat.
PHILIP ROSIN
Micheline Calmy-Rey: Die Schweiz, die ich uns wünsche. Mit einem Vorwort von Charles Lewinsky. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2014. 240 S., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main