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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.1998

Vorsprung der Neinsager
Die Schweiz und Europa, Europa und die Schweiz

Jean François Bergier: Die Schweiz in Europa. Zeitgemäße Gedanken eines Historikers. Aus dem Französischen von Josef Winiger. Pendo Verlag Zürich und München 1998. 200 Seiten, 38,- Mark.

Die kleine Schrift ist schon sechs Jahre alt. Sie entstand im Vorfeld des Europa-Referendums, sollte und wollte werben für den EG-Beitritt der Schweiz. Allein, das mißlang, denn am 6. Dezember 1992 entschied die Mehrheit der Schweizer sich gegen eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union, gegen den Beitritt ihres Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum. Die Entscheidung fiel allerdings denkbar knapp aus, der Vorsprung der "Neinsager" betrug nur wenige tausend Stimmen. Doch damit begannen die Schwierigkeiten der Schweizer mit ihrer eigenen Rolle und Identität eigentlich erst so richtig - die das Land wirklich aufwühlende Debatte um NS-Raubgold und Verstrickung in den Zweiten Weltkrieg stand ja noch bevor. Der Autor Jean François Bergier, Direktor des Instituts für Geschichte der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, wurde zu seiner eigenen Verblüffung kurz vor der Pensionierung noch selbst hineingezogen in diese "Wirren", als man ihn zum Leiter der "Unabhängigen Expertenkommission" ernannte, die ebenjene Verstrickungen näher beleuchten und aufhellen sollte.

Von alledem ist im Text natürlich kaum die Rede. Aber man begreift bei der Lektüre, weshalb gerade Bergier zum Kommissionsvorsitzenden und Leiter der überaus heiklen Mission berufen wurde. Er versteht es, aus historischen Quellen kenntnisreich und zugleich differenziert zu schöpfen. Außerdem hält er es mit Rathenau: Die Wirtschaft ist unser Schicksal. Das ist auch seine Überzeugung. Seine integrationsunwilligen Landsleute fordert er auf: Vergeßt nicht, daß es das kleine Volk von Uri war, das im dreizehnten Jahrhundert mit der Öffnung des Gotthard-Passes Europa ein überaus folgenreiches Großereignis bescherte, indem es die Nord-Süd-Route öffnete und erleichterte. Vergeßt nicht, mahnt Bergier, daß die Schweiz im Herzen Europas entstand, dabei ebensowenig homogen und klar umgrenzt wie Europa selbst. Vier Landessprachen existieren innerhalb ihrer "surrealistischen Grenzen", ihre Gewässer fließen in vier verschiedene Meere.

Erfolg hatte dieses seltsame Gebilde Schweiz immer nur im Zusammenwirken mit Europa. Zunächst spielte es zwei wichtige Rollen, war Refugium und Durchgangsland. Innerhalb von zehn Jahren in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts während Reformation und Gegenreformation nahm Genf allein 500 Flüchtlinge auf - so viele Menschen, wie es selbst an Einwohnern zählte. Doch die eigenen Ressourcen waren begrenzt, die Beschäftigungsmöglichkeiten gering, die Nachbarn mächtig und bedrohlich - die schweizerischen Städte begannen bald, sich dem Strom der Flüchtlinge und Verfemten stärker zu verschließen. Nach 1933 hieß es dann: "Das Boot ist voll."

Für Bergier blieb ein Makel haften, bekam das Vertrauen Europas in die Schweiz einen Sprung. Dabei war, so Bergier, die Schweiz über die Jahrhunderte hinweg eingebettet in die europäische "res publica mercatoria", die Republik der Kaufleute. Deren Verbindungen, von einer aufmerksamen und subtilen Handelsdiplomatie fein geknüpft, überdauerten politische Veränderungen und Konfrontationen und halfen den Schweizern, die Nachteile ihrer geographischen Insellage im Herzen Europas zu überwinden, selbst etwa eine lange erfolgreiche Textilindustrie aufzubauen. Was lieferte die Schweiz im Gegenzug dem Kontinent? Vor allem Menschen, zunächst und über drei Jahrhunderte hinweg etwa eine Million (!) junger Männer als Söldner für viele Armeen, später dann Spezialisten wie Uhrmacher, Techniker, Chemiker, Konditoren (vor allem aus Graubünden), aber auch Unternehmer und Ingenieure.

Insgesamt ist Bergiers Appell zur Integration der Schweiz in das Europa von morgen natürlich weiterhin aktuell. Und hat der Verfasser nicht recht, wenn er fragt, ob nicht gerade die Schweiz mit ihrer jahrhundertealten Föderalismus-Erfahrung dem europäischen Einigungsprozeß zu neuen Impulsen verhelfen, ihm sogar in manchem als Modell dienen könnte?

DANIEL KOERFER

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