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Nichts ist wie früher. Die Welt und die Werte sind aus den Fugen, Wirklichkeit und Kulisse scheinen die Plätze getauscht zu haben. Potok, ein Sucher, Zweifler, Anarchist und Bohemien, glaubt zu wissen, was jetzt zu tun ist: Mit Freunden gründet er eine 'Organisation', halb Sekte, halb Bande, die ein marktwirtschaftlich geführtes Unternehmen aufbaut. Als deren kriminelle Verstrickungen immer mafiöser werden, muß Potok untertauchen. Er flieht aus Prag, und die nun folgende Odyssee führt ihn durch ein phantastisches Nirgendwo und Überall, durch ein atavistisches Osteuropa. Das Chaos seiner…mehr

Produktbeschreibung
Nichts ist wie früher. Die Welt und die Werte sind aus den Fugen, Wirklichkeit und Kulisse scheinen die Plätze getauscht zu haben. Potok, ein Sucher, Zweifler, Anarchist und Bohemien, glaubt zu wissen, was jetzt zu tun ist: Mit Freunden gründet er eine 'Organisation', halb Sekte, halb Bande, die ein marktwirtschaftlich geführtes Unternehmen aufbaut. Als deren kriminelle Verstrickungen immer mafiöser werden, muß Potok untertauchen. Er flieht aus Prag, und die nun folgende Odyssee führt ihn durch ein phantastisches Nirgendwo und Überall, durch ein atavistisches Osteuropa. Das Chaos seiner Lebenssituation steht dem Chaos der Verhältnisse nicht nach. Einzigen Halt scheint die Liebe zu bieten - Potok treibt das Verlangen vorwärts, die 'Schwester' zu finden, jenes die Liebe und den Tod verkörpernde Mädchen, von dem ihm die 'kleine weiße Hündin' berichtet hat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998

Der Bote aus dem schrägen Osten
Trunken vor Witz: "Die Schwester", ein Roman des Tschechen Jáchym Topol / Von Christoph Bartmann

Jáchym Topols literarisches Ich gibt sich rabiat und romantisch. Pathetisch und cool ist sein Stil, gewitzt von der Straße und trunken von Lektüren, die von Karl May bis Céline, vom Indianermärchen über Rimbaud alias Rimbo bis zu Jack Kerouac reichen. Bei Topol liegen alle diese Einflüsse so eng beieinander wie auf den Tischen Prager Buchhandlungen die Neuerscheinungen aus Philosophie, Esoterik und Religion. Wie überhaupt, mal "Praga", mal "Perle" genannt, den Dreh- und Angelpunkt seiner Phantasie abgibt.

In Böhmen und Mähren haben, seit Topols Roman 1994 herauskam, Buch und Autor Kultstatus erlangt. Topols düster-ekstatisches Gemälde der "postbolschewistischen" Gesellschaft, seine Experimente mit der Muttersprache, die er in atemlosen, expressiven Perioden karnevalisiert und "kanakisiert", sein selbstgedrehter Beat- und Drogen-Symbolismus verkünden den Abschied vom erotisch-moralischen Habitus der Vätergeneration. Die Söhne träumen nicht den liberaldemokratischen Traum von einer Zivilgesellschaft der guten Gesinnung und der gelockerten Sitten. Auf Klimas, Kohouts oder Kunderas selbstgewisses Dissidententum folgt, so scheint es, eine Generation, die sich aus subjektiven Riten und Mythen eine rätselhafte Welt zusammenbaut.

Eine leichte Lektüre läßt der Roman folglich nicht erwarten. Er hat unbestreitbar Längen, und mitunter geraten die Ufer des breit, aber wirr dahinfließenden Erzählstroms außer Sicht. Wer sich aber erst auf Topols wundersame Bilderwelten und auf die Mutwilligkeit seiner Sprache eingestellt hat, den entführt dieser Roman in die Unwegsamkeit eines böse verwunschenen Ostens. Er liegt zwischen Prag, Auschwitz und Tschernobyl, und über ihm schwebt der Geist von "Josef Vissarionowitsch Schwejk". Als Allegorie des neuen, schrägen Ostens kann man "Die Schwester" lesen, als Allegorie einer fortdauernden Ungewißheit, nachdem die Zeit, wie es eingangs heißt, explodiert ist. Topol/Potoks literarisches Verfahren, seine "Leidenschaft" ist die "Bastelei", das bedeutet bei ihm: "die Kultivierung des Textes und seine gleichzeitige Degeneration".

"Wie hat das alles angefangen?", fragt am Romanbeginn Potok, Tänzer und Schauspieler, Punk und Businessman und fallweise auch Mitarbeiter des Geheimdienstes. Um zur Antwort zu geben: "Wenn ich meine Spuren damals . . . in der Steinzeit . . . erkunden will, dann muß ich darüber sprechen, wie Bara und ich über den Platz gegangen sind, auf dem die Deutschen waren, und das tu ich, weil ich da zum ersten Mal die Bewegung gespürt habe, da bekam die Zeit Farbe und Geschmack, da begann mein Karneval." Die von mannigfachen Betrachtungen über Gut und Böse gesäumte Handlung beginnt am Anfang der "Jahre 1-2-3", als Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht finden. Mit ein paar Bekannten, darunter seiner Freundin, die er "Kleine Weiße Hündin" nennt, beobachtet Potok das Geschehen. In jenen Tagen legt er mit ein paar Freunden, die wie er den Sozialismus als Dissidenten und "Klugscheißer" im sogenannten "Kanal" zugebracht haben, den Grundstein zur "Organisation". Und zwar im "Tchibo-Café". Frauen haben zum Inneren der Organisation keinen Zutritt. Schon bald ist die Kleine Weiße Hündin verschwunden, und es mehren sich im Verlauf des Romans die Hinweise, daß Potok seine Geliebte ermordet hat. Als ideale Gefährtin hatte sie ihm die "Schwester" verheißen. Nun lebt Potok im Zeichen ihres Advents.

Die Organisation, eine Kreuzung aus Sekte, Jugendgang und mafiöser Vereinigung, hat fünf Mitglieder. Neben Potok sind dies der abtrünnige Priester Göttler, der amerikanische Jude Rai Stein - sein Vater, heißt es, hat Auschwitz in einer Schuhschachtel überlebt -, Micka, der kühle Rechner und Betriebswirt, sowie David, ein Tscheche aus Siebenbürgen mit Computergedächtnis. Man pflegt den Kult um einen altslawischen Gott - "BOG" -, der ebenso hybrid ist wie das Geblüt des "Stammes". ". . . ich hab wohl vergessen zu erwähnen", so Potok in seiner überfallartigen Erzähl-Manier, "daß meine Kumpels . . . also die meisten waren so ne balkanougrofinnische Romawaldtypen (. . .) wir waren alle ein bißchen von den verschiedenen sauren Stürmen mitgenommen, von mancherlei Niederschlägen."

Im Busineßanzug, unter dem sie ein silbernes Amulett tragen, gehen die Herren der Organisation einträglichen Geschäften nach: Immobilien, Import-Export-Handel mit vietnamesischen Partnern, Erpressung von ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Kinderprostitution, Waffenhandel und Drogenverkauf sind tabu. Nach getaner Arbeit sucht man Erholung auf dem Lande. Auch hier, im "Inneren Bohemias", sind die neuen Zeiten angebrochen. Topol ist nicht nur ein begnadeter Apokalyptiker, er hat sich in den Jahren, als er für die dissidenten Zeitschriften "Respekt" und "Revolver Revue" schrieb, auch den Reporterblick erworben.

Nachdem Neonazis (Topol nennt sie "Hitleri" und ihr linkes Pendant die "Stalinge") das Hauptquartier der Organisation gestürmt haben, bricht die Gruppe auseinander. Potok widmet sich nun ganz der Suche nach der "Schwester". Er vermutet sie in einer Bar namens "Cerna", doch trifft er dort zunächst nur einen Geheimdienstmann. Der bietet ihm an, die "Zone", einen Bezirk des Bösen, der sich im Keller des Hauses der Organisation befindet, zu reinigen, sofern sich Potok zur Zusammenarbeit bereit erkläre. Potok stimmt zu. Wenig später begegnet er zum ersten Mal der "Schwarzen", die in der gleichnamigen Bar als Sängerin arbeitet. Eingestreut in die Handlung sind Erinnerungen an die Zeit, die Potok glücklich in "Berlun", dort vor allem in "Krojcberk" verbracht hat, als Kanak unter Kanaken: "Wir sind alle Kanaken. Die Megarasse aus dem Tunnel." Man habe dort an "gigantischen Flohmärkten" teilgenommen, "wo die Leute aus unsern Ländern lernten, Markt zu wirtschaften". Und beim Rumstehen auf den Märkten sei ihm der Gedanke gekommen, "daß durch die Vermischung so was wie ne neue Sprache entsteht . . . die kanakische".

Nach langem Suchen findet Potok unterdessen die "Schwarze" wieder, in der er die versprochene "Schwester" zu erkennen glaubt. Er nimmt sie zu sich, pflegt sie, geht tagsüber für den Geheimdienst arbeiten, mal für den tschechischen, mal für den vietnamesischen. Plötzlich ist die "Schwarze" verschwunden und taucht erst wieder im einem Wagen des tschechischen Geheimdienstes auf. Etliche Peripetien später findet man Potok und die "Schwarze" auf der Flucht im östlichen Grenzland, einer surrealen Mischung aus Galizien, Transsylvanien und Karpatho-Ukraine. Potok bekennt der "Schwarzen" seinen Mord an der Kleinen Weißen Hündin. Wenig später landen die beiden in einem riesigen Schwarzhändler-Camp. Potok wird zum Trinker, die "Schwarze" prostituiert sich. Im letzten Teil des Romans, "Silber", kehrt Potok allein zurück nach Prag. Er sucht den ehemaligen Sitz der Organisation auf, der sich unterdessen in ein Hotel verwandelt hat. Dann lungert er mit Obdachlosen auf dem Hauptbahnhof herum und zieht von dort weiter auf seine am Stadtrand gelegene Mülldeponie. Dort geschehen grausame Morde. Sie werden von Kucera, einem kleinen Jungen, verübt, der in der "Zone" zur Personifikation des Bösen geworden ist. Potok tötet ihn mit einer Gewehrkugel, die er aus seinem silbernen Amulett mit dem Bildnis der Madonna von Tschenstochau gegossen hat.

Topols Roman fällt über das literarische Hoch-Tschechisch mit der Wut des Kannibalen her. Die Übersetzerinnen beweisen bei der Verwandlung des von Topol kreierten "broukn cek", des "Kanakischen", des Prager Jugendslangs in deutsche Äquivalente großes Geschick. Die Provokation, die Topols Sprache für den tschechischen Literaturstandard bedeutet, können sie nicht mitübersetzen. Auf deutsch wirken die Verballhornungen der Schriftsprache oder die gelegentlich russifizierten Wort-Endungen naturgemäß weniger verstörend als im Original; auch die krude Mündlichkeit von Topols Stil läßt sich in ihrer Prager Lokalfärbung kaum übertragen. Hier und da greift die Übersetzung deshalb zu einer Art "Starckdeutsch", was dann so klingt: "auf Fuorrwerken zogen's her, einem Färrsprechen nach, ont wasz warr hier, nichts . . . nur die tüfen Wälder vom Banat, ont die Ahnen fingen's Graben an, esz ward gegraben, gerodet ont verbrannt". Gewiß nicht schlecht, aber so wird Topols Sprache komischer, als sie gemeint ist. Er hat sich nämlich einem kryptischen Ernst verschrieben, demselben Ernst, den Potok an der Sprache junger Leute in Prag wahrnimmt. auf einmal redeten sie vom "Los", der "Buße", der "Sühne", und, so sein Befund, "ins internationale Narkomanenwörterbuch streute da und dort jemand fast schon protektoratische Argotismen ein, und aus dem Ganzen ragte die marxistische Pittoreske raus wie ein schlecht rasierter Hals aus einem abgewetzten Hemdkragen". "Die Schwester", der Generations- als Degenerationsroman, bleibt nicht an den Milieu-Grenzen des Underground stehen. Welches Land der Prager Stadtindianer statt dessen unter seine Füße bekommt, werden die kommenden Romane zeigen.

Jáchym Topol: "Die Schwester". Roman. Aus dem Tschechischen übersetzt von Eva Profousová und Beate Smandek. Verlag Volk & Welt, Berlin 1998. 652 S., geb., 48,- DM.

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