Die Vielfalt der weiblichen Faustgestalten spiegelt in Kritik oder Bestätigung die sich wandelnden Vorstellungen über das Verhältnis der Geschlechter zueinander und damit ihre enge Verflechtung mit der Ideen- und Sozialgeschichte.Seit einem halben Jahrtausend durchwandert der Gelehrte, Weltreisende, Erz-Zauberer und Höllenfahrer Doktor Faust in immer neuen Gestalten die Weltliteratur. Wie sich der männliche Lebensentwurf eines Teufelsbündlers mit seinem verklärten Streben nach Wissen und Unabhängigkeit auf spezifisch weibliche Existenzformen übertragen läßt, stellt Sabine Doerings historischer Längsschnitt in den Mittelpunkt. Versuche, in Transformationen des Faust-Mythos die scheinbar festgefügten Grenzen zwischen den Geschlechtern zu überwinden, wurden als ebenso gewagtes wie reizvolles Gedankenspiel unternommen und haben ein eigenes, bisher noch unentdecktes Kapitel der Literaturgeschichte geschaffen.'Faustas' und 'Faustinen' verkörpern Modelle eines freien und selbstbestimmten Frauenlebens oder - aus männlicher Perspektive - 'besorgte Warnungen vor den vermeintlichen Gefahren der Emanzipation'. Die Goethe-Begeisterung des 19. Jahrhunderts beeinflußte außerdem Stoffkreise, die sich unabhängig vom Faust-Mythos entwickelt hatten: Die Päpstin Johanna und die niederländische Teufelsbündlerin Mariken von Nymwegen wurden als »weiblicher Faust« beansprucht. Mit diesen wechselvollen Vereinnahmungen sind die weiblichen Faustgestalten auch Teil der Wissenschaftsgeschichte.Im Zentrum des Buches stehen ausführliche Interpretationen der Faust-Adaptionen der Gräfin Ida Hahn-Hahn, Frank Wedekinds und Irmtraud Morgners. Doerings fundierte, dem New Historicism wie den Aspekten der Gender Studies verpflichtete Darstellung erfaßt jedoch zugleich Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. So wird aus kritischer kulturhistorischer Perspektive erstmals ein faszinierendes Thema erschlossen, das der Literaturgeschichte wie auch der Geschlechtergeschichte wesentliche Anregungen gibt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2002Hexenreise zum Brocken
Höllenbräute: Sabine Doering untersucht weibliche Faust-Gestalten
In einer Folge von "Vor-Geschichten" stellt Sabine Doerings Studie zum Typus weiblicher Faust-Gestalten zunächst drei unabhängig vom Faust-Mythos entstandene, jedoch später mit ihm verschränkte Überlieferungen vor: das Teufelsbündnis der Päpstin Johanna; die niederländische Historie der Teufelsbündnerin Mariken von Nymwegen aus dem Mittelalter; schließlich die Reihe der römischen Faustinen von Wieland über Goethe bis zu Jakob Wassermann, die alle in der Tradition unbeschwerter antikischer Sinnenfreudigkeit stehen.
Weibliche Faustgestalten als Höllenbräute und dämonische Verführerinnen werden um 1800 durch die anonyme Übersetzung des Schauerromans "The Monk" von Matthew Gregory Lewis (1796) unter dem Titel "Mathilde von Villanegas" zu einem weithin rezipierten Motiv, auf das auch Schiller mit seinem "Rosamunde"Plan und Goethe zurückgriffen, der gelegentlich die Absicht äußerte, er wolle ein weibliches Pendant zum Faust schreiben. Bedrohend, böse, angsterregend - so sind die meisten weiblichen Faustgestalten des 19. Jahrhunderts: In Eichendorffs Versepos "Julian" (1853), das die spätantiken Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden im 4. Jahrhundert zur Zeit des Kaisers Julian Apostata schildert, wird "zum wiederholten Male die verführerische Kraft ungezügelter Sinnlichkeit und freier Sexualität" gestaltet.
Dagegen schuf Ida Hahn-Hahn 1841 mit ihrer "Gräfin Faustine" zum erstenmal eine positiv gezeichnete weibliche Faust-Gestalt. Der Roman trägt deutlich autobiographische Einschläge. Die in Hahn-Hahns "Faustine" vorgetragene Sicht auf die selbständige Frau blieb noch für lange Zeit die große Ausnahme.
Es ist nicht der kleinste Gewinn, den man aus dieser Studie ziehen kann, daß es verlockt, wachen Auges die Wege noch ein wenig weiterzugehen, welche die Verfasserin ihren Lesern weist. Im Hauptteil des Buches entwickelt Döring eine Typologie weiblicher Faustgestalten im 19. und 20. Jahrhundert. Einen eigenen Typus bildet dabei auch die Hauptgestalt in Frank Wedekinds Schauspiel "Franziska", in dem der Dramatiker ein ganzes "Kaleidoskop verschiedener Weiblichkeitsvorstellungen" vorstellt, leider ohne Rücksicht auf psychologische Glaubwürdigkeit.
In der unvollendeten Trilogie der Romane um die Triebwagenfahrerin Laura Salman hat Irmtraud Morgner, bücherfern aufgewachsen und als Kind zufällig in eine Lektüre von Goethes "Faust" gestolpert, die "Tauglichkeit Fausts als Leitfigur für weibliche Lebensentwürfe entschieden bestritten". Da erwacht in "Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau" (1974) die altprovenzalische Minnesängerin Beatriz de Dia aus einem achthundertjährigen Zauberschlaf im Paris von 1968, dem sie sich bald durch die Weiterreise in das gelobte Land der Gleichberechtigung, die DDR, wieder entzieht. Allmählich übernimmt sie eine nachgerade komplementäre Existenz zu der "Werktätigen" Laura, wird von einer exzentrischen Künstlerin zur Helferin, die das Kind der alleinerziehenden Freundin betreut, welche ihrerseits nunmehr künstlerische Neigungen entfaltet. Das Leitthema der Existenzvertauschung wird gegen Ende des Romans abgelöst durch dasjenige der Existenzverschmelzung in der Androgynie und später im zweiten Teil der Trilogie, "Amanda. Ein Hexenroman" (1983), ersetzt durch dasjenige des Doppellebens: Indem die Protagonistin ihr verborgenes Wesen als Hexe im militärisch abgeschirmten Sperrbereich des Brocken im Harz treibt, führt sie eine gespaltene Existenz, die sie nicht aus dem Zugriff männlicher Dominanz befreit. Mit schlüpfrigen Versen aus Goethes "Faust" parodiert Morgner die Frauenbewegung. Überall wird im Werk dieser Schriftstellerin eine bestimmte Form des Daseins als ein Quid-pro-quo entlarvt.
Nie ist sich die Autorin dieser exzellenten Studie zu schade, die oft wenig bekannten Werke, von denen sie handelt, in bester philologischer Tradition dem Leser erst einmal vorzustellen, bevor sie darüber räsoniert, nirgendwo verfällt sie in germanistischen Jargon. Und es ist erfreulich, daß Doering ein Buch zu gerade diesem Thema geschrieben hat, ohne jemals in einen eifernden Ton zu verfallen, der eine aggressiv-feministische Literaturwissenschaft so ungenießbar machen kann.
HANS-ALBRECHT KOCH
Sabine Doering: "Die Schwestern des Doktor Faust". Eine Geschichte der weiblichen Faustgestalten. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 371 S., geb., 44,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Höllenbräute: Sabine Doering untersucht weibliche Faust-Gestalten
In einer Folge von "Vor-Geschichten" stellt Sabine Doerings Studie zum Typus weiblicher Faust-Gestalten zunächst drei unabhängig vom Faust-Mythos entstandene, jedoch später mit ihm verschränkte Überlieferungen vor: das Teufelsbündnis der Päpstin Johanna; die niederländische Historie der Teufelsbündnerin Mariken von Nymwegen aus dem Mittelalter; schließlich die Reihe der römischen Faustinen von Wieland über Goethe bis zu Jakob Wassermann, die alle in der Tradition unbeschwerter antikischer Sinnenfreudigkeit stehen.
Weibliche Faustgestalten als Höllenbräute und dämonische Verführerinnen werden um 1800 durch die anonyme Übersetzung des Schauerromans "The Monk" von Matthew Gregory Lewis (1796) unter dem Titel "Mathilde von Villanegas" zu einem weithin rezipierten Motiv, auf das auch Schiller mit seinem "Rosamunde"Plan und Goethe zurückgriffen, der gelegentlich die Absicht äußerte, er wolle ein weibliches Pendant zum Faust schreiben. Bedrohend, böse, angsterregend - so sind die meisten weiblichen Faustgestalten des 19. Jahrhunderts: In Eichendorffs Versepos "Julian" (1853), das die spätantiken Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden im 4. Jahrhundert zur Zeit des Kaisers Julian Apostata schildert, wird "zum wiederholten Male die verführerische Kraft ungezügelter Sinnlichkeit und freier Sexualität" gestaltet.
Dagegen schuf Ida Hahn-Hahn 1841 mit ihrer "Gräfin Faustine" zum erstenmal eine positiv gezeichnete weibliche Faust-Gestalt. Der Roman trägt deutlich autobiographische Einschläge. Die in Hahn-Hahns "Faustine" vorgetragene Sicht auf die selbständige Frau blieb noch für lange Zeit die große Ausnahme.
Es ist nicht der kleinste Gewinn, den man aus dieser Studie ziehen kann, daß es verlockt, wachen Auges die Wege noch ein wenig weiterzugehen, welche die Verfasserin ihren Lesern weist. Im Hauptteil des Buches entwickelt Döring eine Typologie weiblicher Faustgestalten im 19. und 20. Jahrhundert. Einen eigenen Typus bildet dabei auch die Hauptgestalt in Frank Wedekinds Schauspiel "Franziska", in dem der Dramatiker ein ganzes "Kaleidoskop verschiedener Weiblichkeitsvorstellungen" vorstellt, leider ohne Rücksicht auf psychologische Glaubwürdigkeit.
In der unvollendeten Trilogie der Romane um die Triebwagenfahrerin Laura Salman hat Irmtraud Morgner, bücherfern aufgewachsen und als Kind zufällig in eine Lektüre von Goethes "Faust" gestolpert, die "Tauglichkeit Fausts als Leitfigur für weibliche Lebensentwürfe entschieden bestritten". Da erwacht in "Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau" (1974) die altprovenzalische Minnesängerin Beatriz de Dia aus einem achthundertjährigen Zauberschlaf im Paris von 1968, dem sie sich bald durch die Weiterreise in das gelobte Land der Gleichberechtigung, die DDR, wieder entzieht. Allmählich übernimmt sie eine nachgerade komplementäre Existenz zu der "Werktätigen" Laura, wird von einer exzentrischen Künstlerin zur Helferin, die das Kind der alleinerziehenden Freundin betreut, welche ihrerseits nunmehr künstlerische Neigungen entfaltet. Das Leitthema der Existenzvertauschung wird gegen Ende des Romans abgelöst durch dasjenige der Existenzverschmelzung in der Androgynie und später im zweiten Teil der Trilogie, "Amanda. Ein Hexenroman" (1983), ersetzt durch dasjenige des Doppellebens: Indem die Protagonistin ihr verborgenes Wesen als Hexe im militärisch abgeschirmten Sperrbereich des Brocken im Harz treibt, führt sie eine gespaltene Existenz, die sie nicht aus dem Zugriff männlicher Dominanz befreit. Mit schlüpfrigen Versen aus Goethes "Faust" parodiert Morgner die Frauenbewegung. Überall wird im Werk dieser Schriftstellerin eine bestimmte Form des Daseins als ein Quid-pro-quo entlarvt.
Nie ist sich die Autorin dieser exzellenten Studie zu schade, die oft wenig bekannten Werke, von denen sie handelt, in bester philologischer Tradition dem Leser erst einmal vorzustellen, bevor sie darüber räsoniert, nirgendwo verfällt sie in germanistischen Jargon. Und es ist erfreulich, daß Doering ein Buch zu gerade diesem Thema geschrieben hat, ohne jemals in einen eifernden Ton zu verfallen, der eine aggressiv-feministische Literaturwissenschaft so ungenießbar machen kann.
HANS-ALBRECHT KOCH
Sabine Doering: "Die Schwestern des Doktor Faust". Eine Geschichte der weiblichen Faustgestalten. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 371 S., geb., 44,-
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hans-Albrecht Koch lobt diese Studie über weibliche Faustgestalten von ihren Urtypen bis in die 80-er Jahre des 20. Jahrhunderts über den grünen Klee. Dabei sieht er als nicht geringstes Verdienst an, dass die Autorin ihre Leser dazu anregt, selbst die Fäden zu verfolgen, die sie ausgelegt hat. Koch preist das Buch als "exzellente Studie" und findet es besonders lobenswert, dass sich die Autorin "nie zu schade ist", auch die unbekannteren Werke, die sie behandelt, detailliert vorzustellen - und das sogar unter Verzicht auf jeglichen "germanistischen Jargon"! Richtig freuen tut er sich abschließend darüber, dass Doering an keiner Stelle in einen "aggressiv-feministischen" Ton verfällt, obwohl das Thema der Untersuchung dies leicht gemacht hätte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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