Urban, divers, kosmopolitisch, individualistisch - links ist für viele heute vor allem eine Lifestylefrage. Politische Konzepte für sozialen Zusammenhalt bleiben auf der Strecke, genauso wie schlecht verdienende Frauen, arme Zuwandererkinder, ausgebeutete Leiharbeiter und große Teile der Mittelschicht. Ob in den USA oder Europa: Wer sich auf Gendersternchen konzentriert statt auf Chancengerechtigkeit und dabei Kultur und Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerungsmehrheit vernachlässigt, arbeitet der politischen Rechten in die Hände. Sahra Wagenknecht zeichnet in ihrem Buch eine Alternative zu einem Linksliberalismus, der sich progressiv wähnt, aber die Gesellschaft weiter spaltet, weil er sich nur für das eigene Milieu interessiert und Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft ignoriert. Sie entwickelt ein Programm, mit dem linke Politik wieder mehrheitsfähig werden kann. Gemeinsam statt egoistisch.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Eckhard Jesse empfiehlt Sahra Wagenknechts "scharfsinniges" Manifest gegen den Linksliberalismus der "Lifestyle-Linken". Dass Wagenknecht noch lange ihrer Partei treu bleibt, möchte er nach diesem Buch allerdings bezweifeln. Zu konservativ Wagenknechts familienpolitische Einlassungen, meint er, und nirgends "kommunistische Positionen". Von der Formulierungskunst der Autorin können sich andere Politker eine Scheibe abschneiden, findet Jesse. Was Wagenknecht als Gegenprogramm offeriert, scheint dem Rezensenten allerdings etwas vage.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2021Knallhart kultursensibel
Ist Sahra Wagenknecht noch eine Linke? Kritiker ihres Buchs halten ihr politische Fahnenflucht und Mangel an kultureller Sensibilität vor. Das Gegenteil ist richtig.
Kürzlich platzte Huschke Mau der Kragen. Die Ex-Prostituierte, die das Netzwerk Ella gegründet hat, um über die Realitäten der Prostitution aufzuklären, war auf einem Podium wieder einmal als Rassistin bezeichnet worden. Was hatte sie verbrochen? Sie hatte berichtet, dass Freier bestimmte Ethnien fetischisierten, wie die "devote Thai-Frau" oder die "tabulose Osteuropäerin". Das sei "problematisch", wurde ihr von einem kultursensiblen Publikum vorgehalten, weil es "nichtweiße" Frauen herabwürdige. Flugs wurde Mau die Betroffenheit abgesprochen, weil sie seit Jahren nicht mehr im Rotlichtmilieu arbeite - als könnte eine praktizierende Prostituierte ihr Arbeitsumfeld ohne Angst vor Schikanen schildern. Schließlich warf man ihr "Migrantenfeindlichkeit" vor, weil sie erwähnt hatte, dass Frauen aus armen Ländern hierzulande sexuell ausgebeutet würden, was zwar zutrifft, aber offensichtlich hätte beschwiegen werden sollen.
Auf ihrem Blog schrieb Mau, die sich weiter als Linke versteht, einen wütenden Abschiedsbrief an eine Linke, die in ihrer identitätspolitischen Variante nichts anderes als das Sprachrohr von Zuhältern sei. Welcher Bordellbesitzer freut sich nicht über wachsame Aktivisten, die für ihn die schmutzige Realität der Prostitution zur "selbstbestimmten Sexarbeit" verklären und allen ein Sprachverbot erteilen, die von Gewalt und Menschenhandel sprechen? "Ich stehe sprachlos vor einer linken Kultur, die vergessen hat, was strukturelle Kritik, politische Analyse und Kapitalismuskritik ist", schreibt Mau. Diese Leute mögen dort hingehen, wo sie eigentlich zu Hause seien - zur FDP.
Bleibt die Frage: Ist das Kalkül? Oder nur die unbeabsichtigte Nebenfolge einer narzisstischen Realitätsflucht? Sahra Wagenknecht, die ein ganzes Buch dazu geschrieben hat, erteilt all jenen eine Absage, die meinen, das linksliberale Spektrum, der Träger der Identitätspolitik, habe sich nur unbewusst vom Markt korrumpieren lassen. Es sei mehr als das, eine Liebesheirat mit beidseitiger Rendite, und im historischen Rückblick nur der vorläufige Endpunkt eines langen Gestaltwandels der Linken, für den tüchtige Liberalisierer des Finanzmarkts wie Gerhard Schröder, Tony Blair oder Bill Clinton stehen.
Die Lifestyle-Linken, wie Wagenknecht sie nennt, wollen gar keinen Kontakt zu den Leuten, mit denen sie sich vordergründig solidarisieren, im Gegenteil, sie wollen die Unterschicht, die sie verachten, mit moralischen Posen auf Abstand halten. Wagenknecht stellt sie als die neuen Besitzstandswahrer dar, die der globalen Marktwirtschaft den Weg frei machen, indem sie das kalte Vokabular des Neoliberalismus durch schön klingende Worthülsen ersetzen.
Aus Freihandel, Egoismus und Laisser-faire wurden Weltoffenheit, Vielfalt und Toleranz. Wer auf Widersprüche hinweist, wird als Nazi, Rassist oder Hinterwäldler niedergemacht.
Verrat an der Aufklärung
Nun ließe sich darüber diskutieren, wie weit dieser Politikwechsel die Linke (und das bürgerliche Lager) durchdringt und ob sich die von Wagenknecht beobachtete Spaltung nicht auch durch die Mittelschicht selbst zieht. Kritik richtete sich aber vor allem darauf, dass Wagenknecht die Sensibilität für die "neuen" kulturellen Ziele wie Feminismus und Antirassismus vermissen lasse (taz) und den Gegensatz zwischen einer identitätsverliebten Kulturlinken und einer Traditionslinken aufwärme, die ausschließlich an sozialer Gerechtigkeit interessiert sei. Am Ende stand die Frage, ob sie eigentlich noch eine Linke sei (Die Zeit).
Nun besteht die Pointe des Buchs aber gerade darin, dass Wagenknecht Punkt für Punkt nachweist, wie Identitätspolitik dem linksliberalen Milieu materiell nutzt und den kulturellen Minderheiten, die es moralisch mandatiert, schadet. Das geht schon auf das Prinzip der Identitätspolitik zurück, die nicht auf Emanzipation und Gleichheit, sondern auf Ungleichheit zielt, indem sie Menschen in ihre Herkunft verschließt und zu Interessengruppen verschweißt, die nicht miteinander in Dialog treten könnten, weil niemand die Perspektive eines Betroffenen nachvollziehen könne. Damit ist der aufklärerische Vernunftoptimismus ebenso aufgekündigt wie die Idee der Solidarität. Margaret Thatcher hätte es sich nicht besser wünschen können: There is no such thing as society.
Der Vorzug des Buchs liegt darin, dass es konsequent die Kehrseiten dieses schiefen Konzepts in der politischen und wirtschaftlichen Praxis zeigt. Die Freude an Vielfalt erweist sich hier als ziemlich exklusiv. In den Brennpunktvierteln leben eine deklassierte Unterschicht von ehemaligen Industriearbeitern und in kulturelle Sondergruppen aufgeteilte Migranten mehr oder weniger konfliktreich nebeneinander her. Das linksliberale Milieu bleibt in den schicken Vierteln unter sich, ein wirkungsvolles Instrument der Abschottung ist der Mietpreis. Auf dem Arbeitsmarkt macht sich besonders deutlich bemerkbar, wie sehr das Faible für offene Grenzen und uneingeschränkte Migration den Interessen der Unternehmenswelt nach billigen Arbeitskräften dient, die mangels gewerkschaftlicher Organisation keine Lohnforderungen stellen. Die linksliberale Schicht darf sich währenddessen über billigere Konsumprodukte freuen. Identitätspolitik kostet nicht viel, schon gar keine anstrengenden Auseinandersetzungen mit Wirtschaftslobbyisten.
Anwalt der Starken
Die Attacken des linksliberalen Lagers auf den Nationalstaat sind das deutlichste Zeichen seiner innigen Verbindung mit dem Weltmarkt. Wer anders als der Nationalstaat sollte global operierenden Firmen soziale und rechtliche, aber auch umweltpolitische Standards auferlegen? Hier zeigt sich am deutlichsten, wie die moralischen Forderungen des linksliberalen Lagers, würden sie erfüllt, in ihr Gegenteil umschlagen würden. Die geforderte Abkehr vom Nationalstaat würde ja nichts anderes als das Ende von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie bedeuten und jenen Gruppen den Schutz entziehen, die den Sozialstaat besonders brauchen. Dass davon auch jene kulturellen Minderheiten überproportional betroffen werden, die man zu schützen vorgibt, kann man sich denken. Es geht diesem Milieu nicht um Politik, folgert Wagenknecht, sondern um die Demonstration moralisch überlegener Haltungen, die in der Praxis ins Gegenteil umschlagen würden, weshalb man insgeheim und manchmal auch explizit darauf setzt, dass dies nicht geschehen möge.
Man kann sich beispielsweise fragen, wie die beschwichtigende Haltung zu radikalen Strömungen des Islams mit dem Ziel der Geschlechteremanzipation zusammengeht. Flüchtlinge und Migranten, die in den Westen flohen, um den Beschränkungen und der Gewalt ihrer Heimatkulturen zu entkommen, treibt dieser Widerspruch regelmäßig zur Verzweiflung. Man kann auch fragen, ob der dominierende Queerfeminismus, der Frauen wie Islamisten im Kampf gegen Rassismus trotz weit auseinanderliegender Interessen unterschiedslos zusammenspannt, überhaupt der Frauenemanzipation dient. Wo es keine Frauen, sondern nur noch Konstrukte gibt, kann auch nicht für ihre Interessen gekämpft werden. Wer an seinem biologischen Geschlecht als Frau festhält, sieht sich heute, wie Joanne K. Rowling, vernichtenden Attacken ausgesetzt. Lässt sich ein gemeinsames Interesse von inzwischen mehr als achthundert absolut gesetzten Geschlechtsidentitäten überhaupt formulieren?
Man hat Wagenknecht, die eine marxistisch inspirierte Analyse mit ordoliberalen Vorstellungen von einer juristisch eingehegten, in kleineren Einheiten wirtschaftenden Ökonomie verbindet, nun gefragt, was sie mit der Linken überhaupt noch zu tun habe und ihr verschiedene Parteien aus dem konservativen Spektrum als neue politische Heimat anempfohlen. Der Konservatismus hat die Auszehrung seiner Traditionswerte durch die Ökonomie, die heute die Linke ereilt, aber schon absolviert und präsentiert sich in erschöpfter Gestalt. Die AfD hat zwar die frustrierte Arbeiterschicht angezogen, lässt sie aber bei sozialpolitischen Forderungen konsequent auflaufen, weil ihr eigentliches Ziel ein national eingehegter Marktliberalismus ist.
Umgekehrt wäre zu fragen, ob sich nicht das identitätspolitische Lager vom Attribut links verabschieden sollte. In der ausgezehrten, zwischen alten und neuen Zielen irrlichternden Sozialdemokratie hat sich die Dahrendorf-Formel breitgemacht, man sei Opfer des eigenen Erfolgs: der erfüllten sozialen Ziele. Das ist nicht mehr als eine Legende, wie Wagenknecht mit Blick auf die Monopolbildung in der Digitalökonomie und die EZB-Schuldenpolitik nachweist, die Banken und Kapitalbesitzern ohne demokratische Grundlage Milliarden Euro zuschiebt - unter dem Applaus linker Parteien, die schon in der Finanzkrise hingenommen hatten, dass der Mittelstand für die Fehler von Investmentbankern geradestehen musste. Dass eine Linke, die an ihren Traditionswerten festhält, weiter gebraucht wird, ist die eigentliche Erkenntnis von Wagenknechts Buch.
THOMAS THIEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist Sahra Wagenknecht noch eine Linke? Kritiker ihres Buchs halten ihr politische Fahnenflucht und Mangel an kultureller Sensibilität vor. Das Gegenteil ist richtig.
Kürzlich platzte Huschke Mau der Kragen. Die Ex-Prostituierte, die das Netzwerk Ella gegründet hat, um über die Realitäten der Prostitution aufzuklären, war auf einem Podium wieder einmal als Rassistin bezeichnet worden. Was hatte sie verbrochen? Sie hatte berichtet, dass Freier bestimmte Ethnien fetischisierten, wie die "devote Thai-Frau" oder die "tabulose Osteuropäerin". Das sei "problematisch", wurde ihr von einem kultursensiblen Publikum vorgehalten, weil es "nichtweiße" Frauen herabwürdige. Flugs wurde Mau die Betroffenheit abgesprochen, weil sie seit Jahren nicht mehr im Rotlichtmilieu arbeite - als könnte eine praktizierende Prostituierte ihr Arbeitsumfeld ohne Angst vor Schikanen schildern. Schließlich warf man ihr "Migrantenfeindlichkeit" vor, weil sie erwähnt hatte, dass Frauen aus armen Ländern hierzulande sexuell ausgebeutet würden, was zwar zutrifft, aber offensichtlich hätte beschwiegen werden sollen.
Auf ihrem Blog schrieb Mau, die sich weiter als Linke versteht, einen wütenden Abschiedsbrief an eine Linke, die in ihrer identitätspolitischen Variante nichts anderes als das Sprachrohr von Zuhältern sei. Welcher Bordellbesitzer freut sich nicht über wachsame Aktivisten, die für ihn die schmutzige Realität der Prostitution zur "selbstbestimmten Sexarbeit" verklären und allen ein Sprachverbot erteilen, die von Gewalt und Menschenhandel sprechen? "Ich stehe sprachlos vor einer linken Kultur, die vergessen hat, was strukturelle Kritik, politische Analyse und Kapitalismuskritik ist", schreibt Mau. Diese Leute mögen dort hingehen, wo sie eigentlich zu Hause seien - zur FDP.
Bleibt die Frage: Ist das Kalkül? Oder nur die unbeabsichtigte Nebenfolge einer narzisstischen Realitätsflucht? Sahra Wagenknecht, die ein ganzes Buch dazu geschrieben hat, erteilt all jenen eine Absage, die meinen, das linksliberale Spektrum, der Träger der Identitätspolitik, habe sich nur unbewusst vom Markt korrumpieren lassen. Es sei mehr als das, eine Liebesheirat mit beidseitiger Rendite, und im historischen Rückblick nur der vorläufige Endpunkt eines langen Gestaltwandels der Linken, für den tüchtige Liberalisierer des Finanzmarkts wie Gerhard Schröder, Tony Blair oder Bill Clinton stehen.
Die Lifestyle-Linken, wie Wagenknecht sie nennt, wollen gar keinen Kontakt zu den Leuten, mit denen sie sich vordergründig solidarisieren, im Gegenteil, sie wollen die Unterschicht, die sie verachten, mit moralischen Posen auf Abstand halten. Wagenknecht stellt sie als die neuen Besitzstandswahrer dar, die der globalen Marktwirtschaft den Weg frei machen, indem sie das kalte Vokabular des Neoliberalismus durch schön klingende Worthülsen ersetzen.
Aus Freihandel, Egoismus und Laisser-faire wurden Weltoffenheit, Vielfalt und Toleranz. Wer auf Widersprüche hinweist, wird als Nazi, Rassist oder Hinterwäldler niedergemacht.
Verrat an der Aufklärung
Nun ließe sich darüber diskutieren, wie weit dieser Politikwechsel die Linke (und das bürgerliche Lager) durchdringt und ob sich die von Wagenknecht beobachtete Spaltung nicht auch durch die Mittelschicht selbst zieht. Kritik richtete sich aber vor allem darauf, dass Wagenknecht die Sensibilität für die "neuen" kulturellen Ziele wie Feminismus und Antirassismus vermissen lasse (taz) und den Gegensatz zwischen einer identitätsverliebten Kulturlinken und einer Traditionslinken aufwärme, die ausschließlich an sozialer Gerechtigkeit interessiert sei. Am Ende stand die Frage, ob sie eigentlich noch eine Linke sei (Die Zeit).
Nun besteht die Pointe des Buchs aber gerade darin, dass Wagenknecht Punkt für Punkt nachweist, wie Identitätspolitik dem linksliberalen Milieu materiell nutzt und den kulturellen Minderheiten, die es moralisch mandatiert, schadet. Das geht schon auf das Prinzip der Identitätspolitik zurück, die nicht auf Emanzipation und Gleichheit, sondern auf Ungleichheit zielt, indem sie Menschen in ihre Herkunft verschließt und zu Interessengruppen verschweißt, die nicht miteinander in Dialog treten könnten, weil niemand die Perspektive eines Betroffenen nachvollziehen könne. Damit ist der aufklärerische Vernunftoptimismus ebenso aufgekündigt wie die Idee der Solidarität. Margaret Thatcher hätte es sich nicht besser wünschen können: There is no such thing as society.
Der Vorzug des Buchs liegt darin, dass es konsequent die Kehrseiten dieses schiefen Konzepts in der politischen und wirtschaftlichen Praxis zeigt. Die Freude an Vielfalt erweist sich hier als ziemlich exklusiv. In den Brennpunktvierteln leben eine deklassierte Unterschicht von ehemaligen Industriearbeitern und in kulturelle Sondergruppen aufgeteilte Migranten mehr oder weniger konfliktreich nebeneinander her. Das linksliberale Milieu bleibt in den schicken Vierteln unter sich, ein wirkungsvolles Instrument der Abschottung ist der Mietpreis. Auf dem Arbeitsmarkt macht sich besonders deutlich bemerkbar, wie sehr das Faible für offene Grenzen und uneingeschränkte Migration den Interessen der Unternehmenswelt nach billigen Arbeitskräften dient, die mangels gewerkschaftlicher Organisation keine Lohnforderungen stellen. Die linksliberale Schicht darf sich währenddessen über billigere Konsumprodukte freuen. Identitätspolitik kostet nicht viel, schon gar keine anstrengenden Auseinandersetzungen mit Wirtschaftslobbyisten.
Anwalt der Starken
Die Attacken des linksliberalen Lagers auf den Nationalstaat sind das deutlichste Zeichen seiner innigen Verbindung mit dem Weltmarkt. Wer anders als der Nationalstaat sollte global operierenden Firmen soziale und rechtliche, aber auch umweltpolitische Standards auferlegen? Hier zeigt sich am deutlichsten, wie die moralischen Forderungen des linksliberalen Lagers, würden sie erfüllt, in ihr Gegenteil umschlagen würden. Die geforderte Abkehr vom Nationalstaat würde ja nichts anderes als das Ende von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie bedeuten und jenen Gruppen den Schutz entziehen, die den Sozialstaat besonders brauchen. Dass davon auch jene kulturellen Minderheiten überproportional betroffen werden, die man zu schützen vorgibt, kann man sich denken. Es geht diesem Milieu nicht um Politik, folgert Wagenknecht, sondern um die Demonstration moralisch überlegener Haltungen, die in der Praxis ins Gegenteil umschlagen würden, weshalb man insgeheim und manchmal auch explizit darauf setzt, dass dies nicht geschehen möge.
Man kann sich beispielsweise fragen, wie die beschwichtigende Haltung zu radikalen Strömungen des Islams mit dem Ziel der Geschlechteremanzipation zusammengeht. Flüchtlinge und Migranten, die in den Westen flohen, um den Beschränkungen und der Gewalt ihrer Heimatkulturen zu entkommen, treibt dieser Widerspruch regelmäßig zur Verzweiflung. Man kann auch fragen, ob der dominierende Queerfeminismus, der Frauen wie Islamisten im Kampf gegen Rassismus trotz weit auseinanderliegender Interessen unterschiedslos zusammenspannt, überhaupt der Frauenemanzipation dient. Wo es keine Frauen, sondern nur noch Konstrukte gibt, kann auch nicht für ihre Interessen gekämpft werden. Wer an seinem biologischen Geschlecht als Frau festhält, sieht sich heute, wie Joanne K. Rowling, vernichtenden Attacken ausgesetzt. Lässt sich ein gemeinsames Interesse von inzwischen mehr als achthundert absolut gesetzten Geschlechtsidentitäten überhaupt formulieren?
Man hat Wagenknecht, die eine marxistisch inspirierte Analyse mit ordoliberalen Vorstellungen von einer juristisch eingehegten, in kleineren Einheiten wirtschaftenden Ökonomie verbindet, nun gefragt, was sie mit der Linken überhaupt noch zu tun habe und ihr verschiedene Parteien aus dem konservativen Spektrum als neue politische Heimat anempfohlen. Der Konservatismus hat die Auszehrung seiner Traditionswerte durch die Ökonomie, die heute die Linke ereilt, aber schon absolviert und präsentiert sich in erschöpfter Gestalt. Die AfD hat zwar die frustrierte Arbeiterschicht angezogen, lässt sie aber bei sozialpolitischen Forderungen konsequent auflaufen, weil ihr eigentliches Ziel ein national eingehegter Marktliberalismus ist.
Umgekehrt wäre zu fragen, ob sich nicht das identitätspolitische Lager vom Attribut links verabschieden sollte. In der ausgezehrten, zwischen alten und neuen Zielen irrlichternden Sozialdemokratie hat sich die Dahrendorf-Formel breitgemacht, man sei Opfer des eigenen Erfolgs: der erfüllten sozialen Ziele. Das ist nicht mehr als eine Legende, wie Wagenknecht mit Blick auf die Monopolbildung in der Digitalökonomie und die EZB-Schuldenpolitik nachweist, die Banken und Kapitalbesitzern ohne demokratische Grundlage Milliarden Euro zuschiebt - unter dem Applaus linker Parteien, die schon in der Finanzkrise hingenommen hatten, dass der Mittelstand für die Fehler von Investmentbankern geradestehen musste. Dass eine Linke, die an ihren Traditionswerten festhält, weiter gebraucht wird, ist die eigentliche Erkenntnis von Wagenknechts Buch.
THOMAS THIEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.04.2021Die Buhfrau
Sahra Wagenknecht, ihr Buch
„Die Selbstgerechten“ und der Streit
unter deutschen Linken
VON HANS WERNER KILZ
Sahra Wagenknecht, die kommunistische Ikone der Linken, liebt Auftritte. Fernsehstudios, Veranstaltungssäle, das Plenum des Bundestages – das sind die Szenerien, in denen sie sich wohlfühlt. Sie glänzt mit brillanter Rhetorik, schlägt auch jene in ihren Bann, die das, was sie da redet, für Teufelszeug halten. Wer erlebt hat, wie begeistert CEOs deutscher Dax-Firmen auf Wirtschaftskongressen ihre Darbietungen beklatschen, weiß um ihre Wirkung. Wenn sie auf Parteitagen agitiert, schwenken die Genossen rote Fahnen. Sie redet aber nicht nur gut, sie schreibt auch exzellent.
So verwundert es nicht, dass über ihr neues Buch „Die Selbstgerechten“ schon diskutiert wurde, bevor es in den Handel kam. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Bundestagsabgeordnete der Linken ihre Bücher für „unfriendly fire“ nutzt: Sie schießt in die eigenen Reihen. Das Buch sei „eine Kriegserklärung an Hunderttausende junge Menschen, die uns wählen und sich für Klimaschutz und Antirassismus einsetzen“, schäumte der Fraktionskollege Niema Movassat aus Wuppertal, Mitglied des Bundesvorstandes der Partei, der – wie Wagenknecht – einen iranischen Vater hat, sonst aber schon lange keine Gemeinsamkeiten mehr mit ihr entdecken kann. Es muss dem Mann ein Gräuel sein, dass Wagenknecht von seiner Partei gerade wieder zur nordrhein-westfälischen Spitzenkandidatin für den Bundestag nominiert wurde mit 61 Prozent der Stimmen. Eine Zustimmungsquote, von der Armin Laschet in seiner CDU nur träumt. Was also hat die Buhfrau da geschrieben, dass einige nur noch im Parteiausschluss die Lösung sehen?
Sie hat schon früher Sätze formuliert, die schmerzen, weil sie Grüne, Sozialdemokraten und eigene Parteifreunde als „Lifestyle-Linke“ verspottet, als „großstädtische Veganer“, „die ihre Kinder im E-Auto zur Schule fahren, Plastikverpackungen meiden und den weltweiten CO2- Ausstoß minimieren wollen, auch wenn sie selbst zu ihm nicht unmaßgeblich beitragen“. Das alles, so Wagenknecht, ließe sich noch ertragen, wenn sie ihre Privilegien nicht für persönliche Tugenden hielten und ihre eigene Weltsicht und Lebensweise zum Inbegriff von Progressivität und Verantwortung verklärten. Diese „Selbstzufriedenheit des moralisch Überlegenen“, die viele Lifestyle-Linke ausstrahlen, geht ihr auf die Nerven, weil sie letztlich die Ärmeren und weniger Gebildeten, für die sie vorgeben, Politik zu machen, schlicht verachten.
Was heute als links gilt, hat nach Wagenknechts Befinden mit den traditionellen Anliegen linker Politik nicht mehr viel zu tun. Statt soziale Missstände, Armut und niedrige Renten anzuprangern, beschäftigen sich die Linken mit Gendersternchen und Fragen des Lebensstils. Von Arbeitern und Arbeitslosen werden die Linken kaum noch gewählt, sie laufen zur AfD. Und so falsch liegt Wagenknecht nicht, wenn sie behauptet: Wer Mühe habe, sich von seinem Einkommen einmal im Jahr einen Urlaub zu leisten, wer trotz lebenslanger Arbeit von einer kargen Rente leben müsse, der schätze es nicht, wenn ihm Leute Verzicht predigten, denen es im Leben noch nie an etwas gefehlt habe. Über Zuwanderung als „große Bereicherung für unsere Gesellschaft“ will sie nicht von Freunden des Multikulturalismus belehrt werden, die sorgsam darauf achten, dass das eigene Kind eine Schule besucht, in der es mit anderen Kulturen gar nicht in Kontakt kommt. Solche Thesen sind gut belegt. Auch Sozialdemokraten und Grüne, die von „Chancengleichheit“ schwafelten und die „integrierte Gesamtschule“ propagierten, weil das dreigliedrige Schulsystem Kinder aus einkommensschwachen Familien zu früh separiere und benachteilige, schickten ihre Sprösslinge dann gerne und immer schon auf Gymnasien. Sie sollten es ja mal besser haben als die Eltern.
Es sind diese Unaufrichtigkeiten , die „schwer zu leugnende Bigotterie“, die Wagenknecht geißelt, wenn Linke und Linksliberale für eine Post-Wachstums-Ökonomie plädieren, biologisch einwandfreie Ernährung bevorzugen, Discounter-Fleisch, Dieselauto-Fahrer und Mallorca-Billigreisende verachten, sich dann aber – wenn es Corona wieder erlaubt – zu Bildungsreisen ins Flugzeug setzen oder die Quarantäne im Ayurveda-Resort zur Selbstfindung nutzen. Statt höhere Fleischpreise zu fordern, so Wagenknecht, solle sich der Grüne Robert Habeck für schärfere Kontrollen in den Fleischbetrieben und höhere Löhne für die Arbeiter einsetzen.
Es missfällt ihr auch, dass Begriffe wie Glaube, Nation und Heimat von Linksliberalen als Chiffre für Rückständigkeit diskreditiert werden, stattdessen Fragen der Hautfarbe, des Geschlechts und der sexuellen Orientierung die Debatten bestimmen. Auch die Propheten der Gendertheorie, die erzählen, dass es biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht mehr geben solle, sind ihr suspekt. Wenn ihre Partei das Geschlecht als „gewalthafte Zuweisung“ der „heteronormativen Gesellschaft“ definiert und biologische Unterschiede von Mann und Frau zum „Akt diskursiver Machtausübung“ erklärt, lässt sie das zweifeln, ob die Linke noch die richtigen Themen aufgreift, um Wähler zu gewinnen.
Dieses Gefühl teilt sie mit dem SPD-Intellektuellen Wolfgang Thierse, der seine Partei mahnte, die Menschen nicht zu verprellen, „die das Gendersternchen nicht mitsprechen wollen“. Weil er vom stellvertretenden Parteivorsitzenden Kevin Kühnert dafür abgekanzelt wurde, bot der langjährige Bundestagspräsident und frühere DDR-Bürgerrechtler sogar an, seine SPD-Mitgliedschaft aufzukündigen. Wie in der SPD, wo Thilo Sarrazin mit seinen Thesen zur Sozial- und Bevölkerungspolitik („Deutschland schafft sich ab“) die Partei nervte, bis er ausgeschlossen wurde, gibt es auch in der Linken Stimmen, die Wagenknecht loswerden möchten. Aber liegt sie so falsch, wenn sie die Identitätspolitik der Linken ablehnt, weil sie das Augenmerk „auf immer skurrilere Minderheiten“ richtet, die „ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden“, aus der sie dann ableiten, Opfer zu sein. Ihre Gegner entrüsten sich: Solche Einlassungen seien „unerträglich“, gar „das Leugnen von Rassismus“, warf ihr der Abgeordnete Movassat vor, weil sie die Migrationspolitik ihrer Partei für apolitisch hält und nicht hinnehmen will, dass jede Kritik an „offenen Grenzen“ als „rechtsradikal“ verunglimpft wird. „Mir zu unterstellen, ich wäre Rassistin, das ist einfach krank“, so ihre Antwort.
Das Buch bietet andere Angriffsflächen. Wenn sie die „Fridays for Future“-Demonstrationen als eine „Bewegung der Bessergestellten“ schmäht, weil sich zwei Drittel der beteiligten Schüler und Studenten laut Umfragen der oberen Mittelschicht zurechnen lassen, belegt das auch die Ignoranz, mit der sie das Thema Umwelt- und Klimaschutz seit Jahren begleitet. Ein paar Zeilen im Buch, mehr hat sie für die Proteste nicht übrig. Auch im Hambacher Forst, wo der Energieversorger RWE den Wald für den Braunkohle-Tagebau hat roden lassen, hat sie sich nie sehen lassen. Sie steht gern im Rampenlicht, aber nicht in Jeans und Parka. Oder vor Wasserwerfern, die Reizgas versprühen. Ein Gang durch den Geschichtslehrpfad Mutlanger Heide könnte das Wissen über bundesdeutsche Protestbewegungen verbessern. Sicher hat sie recht, wenn sie behauptet, dass sich – anders als in Frankreich – die 68er-Bewegung und die Arbeiterschaft in Deutschland fremd geblieben sind. Aber mit Gelbweste vor Kameras zu posieren und sich mit einer heterogenen Allianz aus frustrierten Linksradikalen, Antisemiten und tönenden Rechtsradikalen zu solidarisieren, verrät nicht gerade überzeugendes politisches Geschick. Das sind eindrucksvolle Bilder, für die TV-Anstalten und auch für sie. Da wirkt sie wie eine linke Söderin.
Wagenknecht wird von Parteifreunden als scheu und unnahbar geschildert. Sie will nicht umarmen, sie will im Kopf bewegen. Sie mag keine Bierfeste, kein Schulterklopfen, verlässt Veranstaltungen, bevor zu viel Nähe entsteht. Das muss ihr überlassen bleiben, zumal sie viele Pöbeleien zu ertragen hat. Sie erhält polizeilichen Begleitschutz. Die Linken nun sollten sich, bei allem politischen Ärger, glücklich schätzen, sie in ihren Reihen zu haben. Wenn Sahra kommt, sagen sie in der Partei, ist die Halle voll. Wagenknecht hat ein Buch geschrieben, das in den analytischen Passagen überzeugt. Ihr „Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ sieht sie nicht als Gegenprogramm zum Wahlprogramm der Linken, sondern als Gegenprogramm zu einem Verständnis von linker Politik, das sie für falsch hält.
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag Frankfurt am Main und New York, 345 Seiten, 24,95 Euro.
Mallorca-Urlauber
verachten, zur
Ayurveda-Kur fliegen
Mit dem Thema
Klimaschutz und Umwelt
hat sie es nicht so sehr
Gern gesehen und gehört bei den einen, bei den anderen gerade nicht: Sahra Wagenknecht polarisiert die Linke. Foto: Steffen Roth/Agentur Focus
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sahra Wagenknecht, ihr Buch
„Die Selbstgerechten“ und der Streit
unter deutschen Linken
VON HANS WERNER KILZ
Sahra Wagenknecht, die kommunistische Ikone der Linken, liebt Auftritte. Fernsehstudios, Veranstaltungssäle, das Plenum des Bundestages – das sind die Szenerien, in denen sie sich wohlfühlt. Sie glänzt mit brillanter Rhetorik, schlägt auch jene in ihren Bann, die das, was sie da redet, für Teufelszeug halten. Wer erlebt hat, wie begeistert CEOs deutscher Dax-Firmen auf Wirtschaftskongressen ihre Darbietungen beklatschen, weiß um ihre Wirkung. Wenn sie auf Parteitagen agitiert, schwenken die Genossen rote Fahnen. Sie redet aber nicht nur gut, sie schreibt auch exzellent.
So verwundert es nicht, dass über ihr neues Buch „Die Selbstgerechten“ schon diskutiert wurde, bevor es in den Handel kam. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Bundestagsabgeordnete der Linken ihre Bücher für „unfriendly fire“ nutzt: Sie schießt in die eigenen Reihen. Das Buch sei „eine Kriegserklärung an Hunderttausende junge Menschen, die uns wählen und sich für Klimaschutz und Antirassismus einsetzen“, schäumte der Fraktionskollege Niema Movassat aus Wuppertal, Mitglied des Bundesvorstandes der Partei, der – wie Wagenknecht – einen iranischen Vater hat, sonst aber schon lange keine Gemeinsamkeiten mehr mit ihr entdecken kann. Es muss dem Mann ein Gräuel sein, dass Wagenknecht von seiner Partei gerade wieder zur nordrhein-westfälischen Spitzenkandidatin für den Bundestag nominiert wurde mit 61 Prozent der Stimmen. Eine Zustimmungsquote, von der Armin Laschet in seiner CDU nur träumt. Was also hat die Buhfrau da geschrieben, dass einige nur noch im Parteiausschluss die Lösung sehen?
Sie hat schon früher Sätze formuliert, die schmerzen, weil sie Grüne, Sozialdemokraten und eigene Parteifreunde als „Lifestyle-Linke“ verspottet, als „großstädtische Veganer“, „die ihre Kinder im E-Auto zur Schule fahren, Plastikverpackungen meiden und den weltweiten CO2- Ausstoß minimieren wollen, auch wenn sie selbst zu ihm nicht unmaßgeblich beitragen“. Das alles, so Wagenknecht, ließe sich noch ertragen, wenn sie ihre Privilegien nicht für persönliche Tugenden hielten und ihre eigene Weltsicht und Lebensweise zum Inbegriff von Progressivität und Verantwortung verklärten. Diese „Selbstzufriedenheit des moralisch Überlegenen“, die viele Lifestyle-Linke ausstrahlen, geht ihr auf die Nerven, weil sie letztlich die Ärmeren und weniger Gebildeten, für die sie vorgeben, Politik zu machen, schlicht verachten.
Was heute als links gilt, hat nach Wagenknechts Befinden mit den traditionellen Anliegen linker Politik nicht mehr viel zu tun. Statt soziale Missstände, Armut und niedrige Renten anzuprangern, beschäftigen sich die Linken mit Gendersternchen und Fragen des Lebensstils. Von Arbeitern und Arbeitslosen werden die Linken kaum noch gewählt, sie laufen zur AfD. Und so falsch liegt Wagenknecht nicht, wenn sie behauptet: Wer Mühe habe, sich von seinem Einkommen einmal im Jahr einen Urlaub zu leisten, wer trotz lebenslanger Arbeit von einer kargen Rente leben müsse, der schätze es nicht, wenn ihm Leute Verzicht predigten, denen es im Leben noch nie an etwas gefehlt habe. Über Zuwanderung als „große Bereicherung für unsere Gesellschaft“ will sie nicht von Freunden des Multikulturalismus belehrt werden, die sorgsam darauf achten, dass das eigene Kind eine Schule besucht, in der es mit anderen Kulturen gar nicht in Kontakt kommt. Solche Thesen sind gut belegt. Auch Sozialdemokraten und Grüne, die von „Chancengleichheit“ schwafelten und die „integrierte Gesamtschule“ propagierten, weil das dreigliedrige Schulsystem Kinder aus einkommensschwachen Familien zu früh separiere und benachteilige, schickten ihre Sprösslinge dann gerne und immer schon auf Gymnasien. Sie sollten es ja mal besser haben als die Eltern.
Es sind diese Unaufrichtigkeiten , die „schwer zu leugnende Bigotterie“, die Wagenknecht geißelt, wenn Linke und Linksliberale für eine Post-Wachstums-Ökonomie plädieren, biologisch einwandfreie Ernährung bevorzugen, Discounter-Fleisch, Dieselauto-Fahrer und Mallorca-Billigreisende verachten, sich dann aber – wenn es Corona wieder erlaubt – zu Bildungsreisen ins Flugzeug setzen oder die Quarantäne im Ayurveda-Resort zur Selbstfindung nutzen. Statt höhere Fleischpreise zu fordern, so Wagenknecht, solle sich der Grüne Robert Habeck für schärfere Kontrollen in den Fleischbetrieben und höhere Löhne für die Arbeiter einsetzen.
Es missfällt ihr auch, dass Begriffe wie Glaube, Nation und Heimat von Linksliberalen als Chiffre für Rückständigkeit diskreditiert werden, stattdessen Fragen der Hautfarbe, des Geschlechts und der sexuellen Orientierung die Debatten bestimmen. Auch die Propheten der Gendertheorie, die erzählen, dass es biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht mehr geben solle, sind ihr suspekt. Wenn ihre Partei das Geschlecht als „gewalthafte Zuweisung“ der „heteronormativen Gesellschaft“ definiert und biologische Unterschiede von Mann und Frau zum „Akt diskursiver Machtausübung“ erklärt, lässt sie das zweifeln, ob die Linke noch die richtigen Themen aufgreift, um Wähler zu gewinnen.
Dieses Gefühl teilt sie mit dem SPD-Intellektuellen Wolfgang Thierse, der seine Partei mahnte, die Menschen nicht zu verprellen, „die das Gendersternchen nicht mitsprechen wollen“. Weil er vom stellvertretenden Parteivorsitzenden Kevin Kühnert dafür abgekanzelt wurde, bot der langjährige Bundestagspräsident und frühere DDR-Bürgerrechtler sogar an, seine SPD-Mitgliedschaft aufzukündigen. Wie in der SPD, wo Thilo Sarrazin mit seinen Thesen zur Sozial- und Bevölkerungspolitik („Deutschland schafft sich ab“) die Partei nervte, bis er ausgeschlossen wurde, gibt es auch in der Linken Stimmen, die Wagenknecht loswerden möchten. Aber liegt sie so falsch, wenn sie die Identitätspolitik der Linken ablehnt, weil sie das Augenmerk „auf immer skurrilere Minderheiten“ richtet, die „ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden“, aus der sie dann ableiten, Opfer zu sein. Ihre Gegner entrüsten sich: Solche Einlassungen seien „unerträglich“, gar „das Leugnen von Rassismus“, warf ihr der Abgeordnete Movassat vor, weil sie die Migrationspolitik ihrer Partei für apolitisch hält und nicht hinnehmen will, dass jede Kritik an „offenen Grenzen“ als „rechtsradikal“ verunglimpft wird. „Mir zu unterstellen, ich wäre Rassistin, das ist einfach krank“, so ihre Antwort.
Das Buch bietet andere Angriffsflächen. Wenn sie die „Fridays for Future“-Demonstrationen als eine „Bewegung der Bessergestellten“ schmäht, weil sich zwei Drittel der beteiligten Schüler und Studenten laut Umfragen der oberen Mittelschicht zurechnen lassen, belegt das auch die Ignoranz, mit der sie das Thema Umwelt- und Klimaschutz seit Jahren begleitet. Ein paar Zeilen im Buch, mehr hat sie für die Proteste nicht übrig. Auch im Hambacher Forst, wo der Energieversorger RWE den Wald für den Braunkohle-Tagebau hat roden lassen, hat sie sich nie sehen lassen. Sie steht gern im Rampenlicht, aber nicht in Jeans und Parka. Oder vor Wasserwerfern, die Reizgas versprühen. Ein Gang durch den Geschichtslehrpfad Mutlanger Heide könnte das Wissen über bundesdeutsche Protestbewegungen verbessern. Sicher hat sie recht, wenn sie behauptet, dass sich – anders als in Frankreich – die 68er-Bewegung und die Arbeiterschaft in Deutschland fremd geblieben sind. Aber mit Gelbweste vor Kameras zu posieren und sich mit einer heterogenen Allianz aus frustrierten Linksradikalen, Antisemiten und tönenden Rechtsradikalen zu solidarisieren, verrät nicht gerade überzeugendes politisches Geschick. Das sind eindrucksvolle Bilder, für die TV-Anstalten und auch für sie. Da wirkt sie wie eine linke Söderin.
Wagenknecht wird von Parteifreunden als scheu und unnahbar geschildert. Sie will nicht umarmen, sie will im Kopf bewegen. Sie mag keine Bierfeste, kein Schulterklopfen, verlässt Veranstaltungen, bevor zu viel Nähe entsteht. Das muss ihr überlassen bleiben, zumal sie viele Pöbeleien zu ertragen hat. Sie erhält polizeilichen Begleitschutz. Die Linken nun sollten sich, bei allem politischen Ärger, glücklich schätzen, sie in ihren Reihen zu haben. Wenn Sahra kommt, sagen sie in der Partei, ist die Halle voll. Wagenknecht hat ein Buch geschrieben, das in den analytischen Passagen überzeugt. Ihr „Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ sieht sie nicht als Gegenprogramm zum Wahlprogramm der Linken, sondern als Gegenprogramm zu einem Verständnis von linker Politik, das sie für falsch hält.
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag Frankfurt am Main und New York, 345 Seiten, 24,95 Euro.
Mallorca-Urlauber
verachten, zur
Ayurveda-Kur fliegen
Mit dem Thema
Klimaschutz und Umwelt
hat sie es nicht so sehr
Gern gesehen und gehört bei den einen, bei den anderen gerade nicht: Sahra Wagenknecht polarisiert die Linke. Foto: Steffen Roth/Agentur Focus
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Sahra Wagenknechts Buch ist eine Herausforderung für jeden, egal ob er sich für eher links, liberal oder konservativ hält, die eigenen Argumente zu prüfen, die eigenen Überzeugungen zu korrigieren oder auch beizubehalten.« Monika Maron, Die Welt, 13. April 2021»Wagenknecht hat ein Buch geschrieben, das sich mit großem Gewinn und viel Spaß lesen lässt, und das aufgrund seiner Klarheit auch von jenen Menschen verstanden werden kann, die kein sozial- oder geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben, wie es sonst bei den meisten linken Diskursen der Fall ist.« Rainer Balcerowiak, Cicero Online, 14. April 2021»Das Skandalbuch der klugen Marxistin gegen die postmarxistische Lifestyle-Linke. Skandalös scharfsinnig!« Jens Jessen, Die ZEIT, 18.11.2021»Eine fulminante Abrechnung, die das ganze Gefüge der Gesellschaft betrifft.« Wolfgang Schütz, Augsburger Allgemeine, 14. April 2021»Wagenknecht emotionalisiert nicht, sie argumentiert; sie stellt keine Stimmung her, sondern analysiert; sie schwelgt nicht in Betroffenheit, sondern ist erkenntnisgetrieben.« Adam Soboczynski, Die Zeit, 15. April 2021»Ein grundlegendes gesellschaftstheoretisches Werk.« Tobias Becker, Der Spiegel, 16. April 2021»Wagenknecht hat ein Buch geschrieben, das in den analytischen Passagen überzeugt. Ihr "Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt" sieht sie nicht als Gegenprogramm zum Wahlprogramm der Linken, sondern als Gegenprogramm zu einem Verständnis von linker Politik, das sie für falsch hält.« Hans Werner Kilz, Süddeutsche Zeitung, 17. April 2021»Wagenknechts Gegenprogramm ist für eine Wortführerin der Linken ziemlich spektakulär, aber auch ziemlich klar: Wir brauchen im Interesse gerade der unteren sozialen Hälfte der Bevölkerung in Deutschland eine Wiederbelebung der Solidarität mit dem eigenen Land.« Peter Gauweiler, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. April 2021»Wagenknechts Buch ist [...] eine fundierte Gesamtbeschreibung und -analyse von allem, was in Amerika und Europa in den vergangenen Jahrzehnten wirtschaftlich, sozial und politisch schiefgelaufen ist. Es ist flüssig lesbar und gut strukturiert; es verzichtet auf polarisierende Polemik.« Wolfgang Pichler, General-Anzeiger Bonn, 24. April 2021»Funkelnde Formulierungen machen die Lektüre zu einem Genuss. (...) Die Selbstbewusste und Analysenstarke scheut weder "Beifall von der falschen Seite" noch Wut der Genossen.« Eckhard Jesse, Neue Zürcher Zeitung, 7. Mai 2021»Eine lesenswerte Analyse des Niedergangs der politischen Linken durch die Entfremdung von ihrer einstigen Wählerschaft.« Tim Herden, MDR, 23. Mai 2021»Selten fand ich eine politische Gegenwartsanalyse treffender.« Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 12. September 2021