EINE REISE ZU DEN SELTSAMSTEN SPRACHEN DER WELT
Viele Sprachen erscheinen uns fremdartig, weil wir ihre Schnalzlaute nicht hervorbringen oder ihren Satzbau mit den vertrauten grammatischen Rastern nicht erfassen können. Der renommierte Sprachwissenschaftler Harald Haarmann beschreibt 49 Sprachen mit seltsamen Eigenheiten und lässt uns über die Vielfalt der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten staunen.
Von afrikanischen Klicklauten und deutschen Schachtelsätzen - die wundersame Welt der Sprachen
Was spezielle Wortschätze und sonderbare Satzkonstruktionen über ihre Sprecher verraten
Für alle Sprachinteressierten und Weltreisenden
Das ideale Buch zum Schmökern, Staunen und Lernen
Viele Sprachen erscheinen uns fremdartig, weil wir ihre Schnalzlaute nicht hervorbringen oder ihren Satzbau mit den vertrauten grammatischen Rastern nicht erfassen können. Der renommierte Sprachwissenschaftler Harald Haarmann beschreibt 49 Sprachen mit seltsamen Eigenheiten und lässt uns über die Vielfalt der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten staunen.
Von afrikanischen Klicklauten und deutschen Schachtelsätzen - die wundersame Welt der Sprachen
Was spezielle Wortschätze und sonderbare Satzkonstruktionen über ihre Sprecher verraten
Für alle Sprachinteressierten und Weltreisenden
Das ideale Buch zum Schmökern, Staunen und Lernen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2021Sind der Leser verblüfft?
Sprachpanorama: Harald Haarmann lädt ein zur ethnolinguistischen Rundreise
Die Eskimos haben Dutzende von Wörtern für Schnee. Damit benennen sie feinste Unterschiede im winterlichen Weiß, die wir nicht einmal wahrnehmen können. Diese Geschichte ist so populär wie falsch. Wie durch eine lange Kette immer phantastischer werdender Falschzitate der fabelhafte Eskimo-Schnee-Wortschatz zum alternativen Faktum der akademischen Pop-Kultur wurde, hat die Ethnologin Laura Martin schon in den achtziger Jahren rekonstruiert. Für manche Wissenschaftler bietet es seitdem einen willkommenen Anlass, die Suche nach Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Sprachen und Weltwahrnehmungen gleich ganz unter den Generalverdacht des romantischen Exotismus zu stellen.
Das ist allerdings voreilig, denn in der Eskimosprache Inuit gibt es tatsächlich ein hochdifferenziertes Winter-Vokabular. Nur bezieht es sich nicht auf Schnee, sondern auf Eis. Zu wissen und mitteilen zu können, wie genau das Eis beschaffen war, auf dem man sich bewegte, war nämlich für die Robbenjagd, einst die Lebensgrundlage der Inuit, viel wichtiger als eine ausgefeilte Schnee-Terminologie. Die existiert dafür bei den Samen, bekannt auch unter dem älteren Namen "Lappen". Auch dahinter stecken die Zwänge des wirtschaftlichen Überlebens: Als Rentierzüchter müssen die Samen die Schneeverhältnisse präzise erfassen und benennen, um sicherzustellen, dass die Tiere auch unter der weißen Decke noch an Futter kommen. Dementsprechend gibt es mehr als zwanzig Spezialausdrücke zur Bezeichnung unterschiedlicher Schneequalitäten bei wechselnder Witterung.
Die Expedition in diese winterlichen Regionen findet sich im Buch des Linguisten Harald Haarmann über die "seltsamsten Sprachen der Welt". Die 49 Sprachen, die er dafür ausgewählt hat, stammen aus allen Erdteilen. Sie zeichnen sich aus durch eigentümliche Lautsysteme und ungewöhnliche Wortschätze, fremdartige Grammatiken, sonderbare Zählweisen und rätselhafte Schriftsysteme. Dazu gehört zum Beispiel die sibirische Sprache Jukagirisch, deren Sprecher grammatisch unterscheiden müssen zwischen dem, was sie selbst erlebt haben und dem, was sie nur vom Hörensagen wissen. Oder das im Kaukasus beheimatete Ubychisch, das über achtzig bedeutungsunterscheidende Konsonanten, aber über nur zwei Vokale verfügt. Deutsch, zum Vergleich, hat 21 Grundkonsonanten und 16 Vokale. Die extreme Konsonantenlastigkeit im Ubychischen äußert sich unter anderem darin, dass das z in sechs, das q sogar in acht verschiedenen Aussprachevarianten existiert, wobei die Wahl zwischen ihnen über die Bedeutung der Wörter entscheidet, die mit ihnen gebildet werden. Das Thailändische wiederum hat ein ungewöhnliches System von Klassifikatoren zu bieten, die verwendet werden, wenn man Dinge zählt. So bekommt zum Beispiel die Bezeichnung für Regenschirm einen Klassifikator mit der Bedeutung "Objekt mit Enden" zugeordnet. Der Kürbis wiederum wird in die sprachliche Schublade der "kugelförmigen Objekte" gesteckt. Allerdings nur, wenn er nicht ausgehöhlt wurde, sonst muss er als "hohles kugelförmiges Objekt" kategorisiert werden. Dyirbal, eine australische Sprache, die nur noch von 30 Menschen gesprochen wird, hat einen "Schwiegermutterstil" hervorgebracht, der einem komplizierten System verwandtschaftlicher Kontakt-, Heirats- und Benennungstabus geschuldet ist. Die Kommunikation mit verschwägerten Familienmitgliedern läuft hier nur über Dritte: "Möchte die geschätzte Schwiegermutter etwas Fleisch essen?" Wer noch alteuropäische Höflichkeitsformen kennt, dem wird diese sprachliche Indirektheit allerdings ganz vertraut vorkommen: "Hat die Dame schon gewählt?"
Seltsam sind all diese Sprachen natürlich nur, wenn man sie vor der Folie des Deutschen betrachtet. Diese Relativität des muttersprachlichen Maßstabs und die Vielfalt menschlicher Ausdrucksweisen deutlich zu machen, ist Haarmanns Absicht. Was er präsentiert, ist bei aller Freude an der Publikumsverblüffung kein Kuriositätenkabinett, sondern ein Panorama, das zeigt, wie lautliche, grammatische und semantische Eigenarten aus der Vielfalt der gesellschaftlichen Verhältnisse und kulturellen Muster hervorgehen. Auf eine besonders wichtige Ursache für grammatische "Seltsamkeiten" geht der Autor allerdings nicht ein: Extrem komplizierte Konjugationen und Deklinationen findet man häufig in den Sprachen kleiner, isoliert lebender Gemeinschaften. Solche Idiome werden kaum je von Außenstehenden als Fremdsprachen gelernt. Es ist diese Abgeschiedenheit, die sie vor dem Schleifstein der Vereinfachung schützt.
Haarmanns Buch ist laienfreundlich geschrieben; unumgängliche linguistische Fachausdrücke werden meistens hinreichend erläutert. Bei den "emphatischen Lauten" des Maltesischen fehlt allerdings der Hinweis, dass es sich hier nicht um Ausdrücke der Leidenschaft handelt, sondern um spezielle Kehlkopflaute, wie sie für semitische Sprachen typisch sind. Maltesisch mit seinem arabischen Laut- und Grammatikgerüst, seiner lateinischen Alphabetschrift und seinem italienisch dominierten Wortschatz hat es nämlich ebenfalls in die Auswahl der seltsamen Sprachen geschafft. Und auch dem Deutschen begegnet der Leser auf Haarmanns ethnolinguistischer Rundreise. Denn dessen Schachtel- und Bandwurmsätze, die zum Beispiel, wie hier jetzt gerade demonstriert wird, ihre gebeugten Verben ohne Rücksicht auf die bis aufs äußerste strapazierte Geduld der Leser ganz ans Ende des scheinbar gar nicht enden wollenden Nebensatzes stellen, zählen zu den Raritäten im internationalen Vergleich.
WOLFGANG KRISCHKE.
Harald Haarmann: "Die seltsamsten Sprachen der Welt". Von Klicklauten und hundert Arten, ,ich' zu sagen.
C. H. Beck Verlag, München 2021.
206 S., Abb., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprachpanorama: Harald Haarmann lädt ein zur ethnolinguistischen Rundreise
Die Eskimos haben Dutzende von Wörtern für Schnee. Damit benennen sie feinste Unterschiede im winterlichen Weiß, die wir nicht einmal wahrnehmen können. Diese Geschichte ist so populär wie falsch. Wie durch eine lange Kette immer phantastischer werdender Falschzitate der fabelhafte Eskimo-Schnee-Wortschatz zum alternativen Faktum der akademischen Pop-Kultur wurde, hat die Ethnologin Laura Martin schon in den achtziger Jahren rekonstruiert. Für manche Wissenschaftler bietet es seitdem einen willkommenen Anlass, die Suche nach Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Sprachen und Weltwahrnehmungen gleich ganz unter den Generalverdacht des romantischen Exotismus zu stellen.
Das ist allerdings voreilig, denn in der Eskimosprache Inuit gibt es tatsächlich ein hochdifferenziertes Winter-Vokabular. Nur bezieht es sich nicht auf Schnee, sondern auf Eis. Zu wissen und mitteilen zu können, wie genau das Eis beschaffen war, auf dem man sich bewegte, war nämlich für die Robbenjagd, einst die Lebensgrundlage der Inuit, viel wichtiger als eine ausgefeilte Schnee-Terminologie. Die existiert dafür bei den Samen, bekannt auch unter dem älteren Namen "Lappen". Auch dahinter stecken die Zwänge des wirtschaftlichen Überlebens: Als Rentierzüchter müssen die Samen die Schneeverhältnisse präzise erfassen und benennen, um sicherzustellen, dass die Tiere auch unter der weißen Decke noch an Futter kommen. Dementsprechend gibt es mehr als zwanzig Spezialausdrücke zur Bezeichnung unterschiedlicher Schneequalitäten bei wechselnder Witterung.
Die Expedition in diese winterlichen Regionen findet sich im Buch des Linguisten Harald Haarmann über die "seltsamsten Sprachen der Welt". Die 49 Sprachen, die er dafür ausgewählt hat, stammen aus allen Erdteilen. Sie zeichnen sich aus durch eigentümliche Lautsysteme und ungewöhnliche Wortschätze, fremdartige Grammatiken, sonderbare Zählweisen und rätselhafte Schriftsysteme. Dazu gehört zum Beispiel die sibirische Sprache Jukagirisch, deren Sprecher grammatisch unterscheiden müssen zwischen dem, was sie selbst erlebt haben und dem, was sie nur vom Hörensagen wissen. Oder das im Kaukasus beheimatete Ubychisch, das über achtzig bedeutungsunterscheidende Konsonanten, aber über nur zwei Vokale verfügt. Deutsch, zum Vergleich, hat 21 Grundkonsonanten und 16 Vokale. Die extreme Konsonantenlastigkeit im Ubychischen äußert sich unter anderem darin, dass das z in sechs, das q sogar in acht verschiedenen Aussprachevarianten existiert, wobei die Wahl zwischen ihnen über die Bedeutung der Wörter entscheidet, die mit ihnen gebildet werden. Das Thailändische wiederum hat ein ungewöhnliches System von Klassifikatoren zu bieten, die verwendet werden, wenn man Dinge zählt. So bekommt zum Beispiel die Bezeichnung für Regenschirm einen Klassifikator mit der Bedeutung "Objekt mit Enden" zugeordnet. Der Kürbis wiederum wird in die sprachliche Schublade der "kugelförmigen Objekte" gesteckt. Allerdings nur, wenn er nicht ausgehöhlt wurde, sonst muss er als "hohles kugelförmiges Objekt" kategorisiert werden. Dyirbal, eine australische Sprache, die nur noch von 30 Menschen gesprochen wird, hat einen "Schwiegermutterstil" hervorgebracht, der einem komplizierten System verwandtschaftlicher Kontakt-, Heirats- und Benennungstabus geschuldet ist. Die Kommunikation mit verschwägerten Familienmitgliedern läuft hier nur über Dritte: "Möchte die geschätzte Schwiegermutter etwas Fleisch essen?" Wer noch alteuropäische Höflichkeitsformen kennt, dem wird diese sprachliche Indirektheit allerdings ganz vertraut vorkommen: "Hat die Dame schon gewählt?"
Seltsam sind all diese Sprachen natürlich nur, wenn man sie vor der Folie des Deutschen betrachtet. Diese Relativität des muttersprachlichen Maßstabs und die Vielfalt menschlicher Ausdrucksweisen deutlich zu machen, ist Haarmanns Absicht. Was er präsentiert, ist bei aller Freude an der Publikumsverblüffung kein Kuriositätenkabinett, sondern ein Panorama, das zeigt, wie lautliche, grammatische und semantische Eigenarten aus der Vielfalt der gesellschaftlichen Verhältnisse und kulturellen Muster hervorgehen. Auf eine besonders wichtige Ursache für grammatische "Seltsamkeiten" geht der Autor allerdings nicht ein: Extrem komplizierte Konjugationen und Deklinationen findet man häufig in den Sprachen kleiner, isoliert lebender Gemeinschaften. Solche Idiome werden kaum je von Außenstehenden als Fremdsprachen gelernt. Es ist diese Abgeschiedenheit, die sie vor dem Schleifstein der Vereinfachung schützt.
Haarmanns Buch ist laienfreundlich geschrieben; unumgängliche linguistische Fachausdrücke werden meistens hinreichend erläutert. Bei den "emphatischen Lauten" des Maltesischen fehlt allerdings der Hinweis, dass es sich hier nicht um Ausdrücke der Leidenschaft handelt, sondern um spezielle Kehlkopflaute, wie sie für semitische Sprachen typisch sind. Maltesisch mit seinem arabischen Laut- und Grammatikgerüst, seiner lateinischen Alphabetschrift und seinem italienisch dominierten Wortschatz hat es nämlich ebenfalls in die Auswahl der seltsamen Sprachen geschafft. Und auch dem Deutschen begegnet der Leser auf Haarmanns ethnolinguistischer Rundreise. Denn dessen Schachtel- und Bandwurmsätze, die zum Beispiel, wie hier jetzt gerade demonstriert wird, ihre gebeugten Verben ohne Rücksicht auf die bis aufs äußerste strapazierte Geduld der Leser ganz ans Ende des scheinbar gar nicht enden wollenden Nebensatzes stellen, zählen zu den Raritäten im internationalen Vergleich.
WOLFGANG KRISCHKE.
Harald Haarmann: "Die seltsamsten Sprachen der Welt". Von Klicklauten und hundert Arten, ,ich' zu sagen.
C. H. Beck Verlag, München 2021.
206 S., Abb., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Eine Menge gelernt und sich dabei offenbar auch bestens unterhalten hat Katharina Granzin mit diesem Buch. Milde kritisiert sie zwar, dass Haarmann "sehr lässig" mit dem Sonderbarkeitsbegriff umgeht, aber an der Qualifikation von einem, der 1970 über den "lateinischen Lehnwortschatz im Kymrischen" promovierte, hat sie keinen Zweifel. Kulturelle Differenzen sind für sie noch das leichteste: Dass Rentierjäger mehr Wörter für Schnee haben als die gleich weit nördlich lebenden, aber Robbenjagenden Inuit - sei's drum. Viel mehr ans Sonderbare geht's schon bei den Knacklauten der afrikanischen Khoisan-Sprachen, die aber eigentlich Schnalzlaute seien. Auch das Deutsche gelte mit seiner "Eigenart, bei zusammengesetzten Zeiten das Partizip vom Hilfsverb zu trennen und es ganz ans Ende eines beliebig langen Satzes zu platzieren ", zurecht als sonderbar. Allen Sprachinteressierten - auch den seltenen, die des Klingonischen mächtig sind - empfiehlt Granzin dies Buch zur Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.02.2021Ist ein Flugzeug nicht ganz wie ein Bambusrohr?
Der Linguist Harald Haarmann hat ein höchst lesenswertes Buch darüber geschrieben, wie andere Sprachen funktionieren
Das große Verdienst dieses Buchs liegt darin, dass es ein Gefühl dafür weckt, wie Sprachen auch funktionieren können. Die hierzulande üblicherweise erworbenen Fremdsprachen – Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Latein – weisen alle die erhebliche Familienähnlichkeit der indoeuropäischen Idiome auf, und so verengt sich notwendig unser Blick auf die Möglichkeiten von Sprache überhaupt.
Der vergleichsweise schmale Band hat nicht den Raum und erwartet auch vom Leser nicht, sich komplett in fremde Sprachsysteme einzuarbeiten. Harald Haarmann konzentriert sich vielmehr auf einzelne Phänomene, die vom uns Bekannten weit entfernt sind. Und hier wächst der Kuriosität, der markanten Abweichung von dem, was wir gewohnt sind, augenöffnende Kraft zu.
Diese Abweichungen betreffen alle Aspekte, die eine Sprache ausmachen, Phonetik, Morphologie, Satzbau, Schrift, Register. Haarmanns Verfahrensweise muss man als anekdotisch bezeichnen, aber das ist kein Schaden, im Gegenteil: ist doch die Anekdote dem Gedächtnis verschwistert, und man merkt sich in der Zuspitzung, was man sonst gleich wieder vergessen hätte.
Die Inuit hätten 200 Wörter für Schnee? Unfug! Die Inuit interessieren sich überhaupt nicht für Schnee, der nämlich auf dem für sie unergiebigen Land liegt; desto mehr jedoch für das Eis auf dem Wasser, wo sie ihre Robben jagen. Da hat ihr Wortschatz seine ganze Fülle.
Der Schnee ist eher wichtig für die Saami (früher Lappen genannt), die mit ihren Rentierherden durch das Festland des hohen Nordens ziehen. 22 Varianten werden von Haarmann aufgezählt, etwa „seeli – Schnee, der vollkommen weich ist“, „kamadoh – im Frühjahr gefallener Schnee, der leicht bricht“, „ceeyvi – vom Wind hartgepeitschter Schnee, der so hart ist, dass Rentiere die Decke nicht mit ihren Hufen durchbrechen können, um Futter zu finden“.
Das Deutsche braucht hier jeweils einen ganzen Lexikonartikel, um das Gemeinte adäquat wiederzugeben, während ein Same einfach früh aus der Zeltöffnung oder dem Fenster schaut und sagt: Oje, heute sieht’s mal wieder ganz nach ceeyvi aus. Ähnliches wie von Schnee und Rentieren in Lappland gilt von den Realien der Kamelzucht in Somalia. Besonders schön auch der Golqaniinyo, ein „Gerät, womit das Kamel in die Flanke gezwickt wird, um es zum Melken still zu halten“.
Wortschätze sind das für Nacherzählungen ergiebigste Terrain. Die anderen Sprachaspekte verlangen Autor und Leser deutlich mehr Geduld ab. Wie hat man sich die vielen Klicklaute der afrikanischen San akustisch vorzustellen, wie die 80 Konsonanten des Ubychischen? Dass es hier, im Ubychischen, vier verschiedene Ps gibt, nämlich ein einfach aspiriertes, ein verengt/pharyngalisiert aspiriertes, den einfachen Kehllaut und den verengten Kehllaut, nimmt man besser schweigend zur Kenntnis, denn wenn man spräche, brächte man am Ende die Vokabeln für „bitten, flehen“ und „Schwein“ durcheinander, mit wer weiß was für Folgen.
In Thai muss jedes Substantiv notwendig einer inhaltlich bestimmten Klasse zugeordnet werden, wovon es wiederum Dutzende gibt, in den Wörtern jeweils mit einer Bestimmungssilbe präsent. Solche Klassen sind etwa „hohles sphärisches Objekt – bai“, wozu zum Beispiel der Kürbis zählt, oder „dünnes, flaches Objekt – _phèn“, etwa ein Blatt. Taucht ein technischer Neuzugang auf, sagen wir ein Flugzeug, muss er irgendwo in diesem System untergebracht werden, und landet bei „lam“, einer Kategorie, die er sich mit dem Bambusrohr teilt: hohles zylindrisches Objekt.
Wer das putzig findet, der sei daran erinnert, dass im Deutschen jedes neue Fremdwort mit absoluter Notwendigkeit ein grammatisches Geschlecht erhalten muss, sodass wir nebeneinander haben: das Sofa, der Diwan, die Couch – für praktisch dasselbe Möbelstück. Neben solcher Willkür scheint das fliegende Bambusrohr geradezu ein Geniestreich.
In lange Studien versenken kann einen die Tabelle „Das System der Demonstrativpronomen im Sirenik-Eskimo“ (das hier doch einmal wieder „Eskimo“ heißt). Das Deutsche hat es ja noch nicht mal geschafft, das an sich sehr brauchbare zweipolige System von „dieser“ und „jener“ am Leben zu erhalten. Hier erblicken wir eine Matrix mit nicht weniger als 28 Positionen. Wer braucht so was? Na, zum Beispiel ein Jäger, der einem anderen in aller gebotenen Kürze mitteilen will, dass sich die erhoffte Beute in mittlerer Entfernung befindet, aber sichtbar ist, wenngleich sie sich gerade vom Sprecher wegbewegt.
Wir kennen die vier Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Aber das Baskische weiß darüber hinaus von einem Delimitativ, Motivativ und Allativ, das Ungarische von einem Illativ, Elativ, Delativ und Essiv, letzterer nochmals unterteilt in einen formalen und einen modalen. Nachdem Haarmann die rund zwei Dutzend Kasus des Ungarischen (wie viel genau, scheint keiner zu wissen) jeweils mit Beispiel aufgelistet hat, fragt er scheinbar harmlos „Schwirrt Ihnen der Kopf?“ und meint: Das brauchen Sie sich nicht zu merken. Sie sollten bloß zur Kenntnis nehmen, dass man es auch ganz anders machen kann als wir.
Wenn das Buch weitere Auflagen erleben sollte, wünscht man ihm, dass es mindestens doppelt so dick wird – und dass es ein Kapitel über Mark Twain gibt, der das Deutsche zu erlernen versuchte und es schließlich kopfschüttelnd wieder aufgab: was für eine unmögliche Sprache!
Der letzte Mensch, der noch das Sirenikische mit seinen 28 Demonstrativpronomen sprach, war übrigens eine Frau mit Namen Vyjve. Sie starb 1997. Die anderen Mitglieder ihrer Gemeinschaft hatten sich längst ans Russische assimiliert. Soll man es bedauern? Es ging auf jeden Fall etwas verloren, nämlich ein komplettes Sprach- und das heißt auch Weltsystem. Die verbliebenen Mitglieder der Gemeinschaft haben allerdings auch etwas gewonnen: den Anschluss an eine größere Welt, in der arktische Jäger keinen Platz mehr finden, aber dafür Chancen anderer Art.
Der Turmbau von Babel, den die Bibel als Frevel darstellt, der mit der Verwirrung der Sprachen sowohl geahndet als auch gesühnt wird, ist immer ambivalent beurteilt worden. Pieter Bruegel hat ihn gemalt, als ein ebenso geordnetes wie chaotisches Zugleich von Baustelle und Ruine. So und nicht anders steht es mit der Sprachlichkeit der Menschen.
BURKHARD MÜLLER
Es gibt einen Illativ, einen Elativ
und einen Delativ. „Schwirrt
Ihnen der Kopf?“
Harald Haarmann:
Die seltsamsten
Sprachen der Welt.
Von Klicklauten
und hundert Arten,
„ich“ zu sagen.
C.H. Beck, München 2021. 206 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Linguist Harald Haarmann hat ein höchst lesenswertes Buch darüber geschrieben, wie andere Sprachen funktionieren
Das große Verdienst dieses Buchs liegt darin, dass es ein Gefühl dafür weckt, wie Sprachen auch funktionieren können. Die hierzulande üblicherweise erworbenen Fremdsprachen – Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Latein – weisen alle die erhebliche Familienähnlichkeit der indoeuropäischen Idiome auf, und so verengt sich notwendig unser Blick auf die Möglichkeiten von Sprache überhaupt.
Der vergleichsweise schmale Band hat nicht den Raum und erwartet auch vom Leser nicht, sich komplett in fremde Sprachsysteme einzuarbeiten. Harald Haarmann konzentriert sich vielmehr auf einzelne Phänomene, die vom uns Bekannten weit entfernt sind. Und hier wächst der Kuriosität, der markanten Abweichung von dem, was wir gewohnt sind, augenöffnende Kraft zu.
Diese Abweichungen betreffen alle Aspekte, die eine Sprache ausmachen, Phonetik, Morphologie, Satzbau, Schrift, Register. Haarmanns Verfahrensweise muss man als anekdotisch bezeichnen, aber das ist kein Schaden, im Gegenteil: ist doch die Anekdote dem Gedächtnis verschwistert, und man merkt sich in der Zuspitzung, was man sonst gleich wieder vergessen hätte.
Die Inuit hätten 200 Wörter für Schnee? Unfug! Die Inuit interessieren sich überhaupt nicht für Schnee, der nämlich auf dem für sie unergiebigen Land liegt; desto mehr jedoch für das Eis auf dem Wasser, wo sie ihre Robben jagen. Da hat ihr Wortschatz seine ganze Fülle.
Der Schnee ist eher wichtig für die Saami (früher Lappen genannt), die mit ihren Rentierherden durch das Festland des hohen Nordens ziehen. 22 Varianten werden von Haarmann aufgezählt, etwa „seeli – Schnee, der vollkommen weich ist“, „kamadoh – im Frühjahr gefallener Schnee, der leicht bricht“, „ceeyvi – vom Wind hartgepeitschter Schnee, der so hart ist, dass Rentiere die Decke nicht mit ihren Hufen durchbrechen können, um Futter zu finden“.
Das Deutsche braucht hier jeweils einen ganzen Lexikonartikel, um das Gemeinte adäquat wiederzugeben, während ein Same einfach früh aus der Zeltöffnung oder dem Fenster schaut und sagt: Oje, heute sieht’s mal wieder ganz nach ceeyvi aus. Ähnliches wie von Schnee und Rentieren in Lappland gilt von den Realien der Kamelzucht in Somalia. Besonders schön auch der Golqaniinyo, ein „Gerät, womit das Kamel in die Flanke gezwickt wird, um es zum Melken still zu halten“.
Wortschätze sind das für Nacherzählungen ergiebigste Terrain. Die anderen Sprachaspekte verlangen Autor und Leser deutlich mehr Geduld ab. Wie hat man sich die vielen Klicklaute der afrikanischen San akustisch vorzustellen, wie die 80 Konsonanten des Ubychischen? Dass es hier, im Ubychischen, vier verschiedene Ps gibt, nämlich ein einfach aspiriertes, ein verengt/pharyngalisiert aspiriertes, den einfachen Kehllaut und den verengten Kehllaut, nimmt man besser schweigend zur Kenntnis, denn wenn man spräche, brächte man am Ende die Vokabeln für „bitten, flehen“ und „Schwein“ durcheinander, mit wer weiß was für Folgen.
In Thai muss jedes Substantiv notwendig einer inhaltlich bestimmten Klasse zugeordnet werden, wovon es wiederum Dutzende gibt, in den Wörtern jeweils mit einer Bestimmungssilbe präsent. Solche Klassen sind etwa „hohles sphärisches Objekt – bai“, wozu zum Beispiel der Kürbis zählt, oder „dünnes, flaches Objekt – _phèn“, etwa ein Blatt. Taucht ein technischer Neuzugang auf, sagen wir ein Flugzeug, muss er irgendwo in diesem System untergebracht werden, und landet bei „lam“, einer Kategorie, die er sich mit dem Bambusrohr teilt: hohles zylindrisches Objekt.
Wer das putzig findet, der sei daran erinnert, dass im Deutschen jedes neue Fremdwort mit absoluter Notwendigkeit ein grammatisches Geschlecht erhalten muss, sodass wir nebeneinander haben: das Sofa, der Diwan, die Couch – für praktisch dasselbe Möbelstück. Neben solcher Willkür scheint das fliegende Bambusrohr geradezu ein Geniestreich.
In lange Studien versenken kann einen die Tabelle „Das System der Demonstrativpronomen im Sirenik-Eskimo“ (das hier doch einmal wieder „Eskimo“ heißt). Das Deutsche hat es ja noch nicht mal geschafft, das an sich sehr brauchbare zweipolige System von „dieser“ und „jener“ am Leben zu erhalten. Hier erblicken wir eine Matrix mit nicht weniger als 28 Positionen. Wer braucht so was? Na, zum Beispiel ein Jäger, der einem anderen in aller gebotenen Kürze mitteilen will, dass sich die erhoffte Beute in mittlerer Entfernung befindet, aber sichtbar ist, wenngleich sie sich gerade vom Sprecher wegbewegt.
Wir kennen die vier Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Aber das Baskische weiß darüber hinaus von einem Delimitativ, Motivativ und Allativ, das Ungarische von einem Illativ, Elativ, Delativ und Essiv, letzterer nochmals unterteilt in einen formalen und einen modalen. Nachdem Haarmann die rund zwei Dutzend Kasus des Ungarischen (wie viel genau, scheint keiner zu wissen) jeweils mit Beispiel aufgelistet hat, fragt er scheinbar harmlos „Schwirrt Ihnen der Kopf?“ und meint: Das brauchen Sie sich nicht zu merken. Sie sollten bloß zur Kenntnis nehmen, dass man es auch ganz anders machen kann als wir.
Wenn das Buch weitere Auflagen erleben sollte, wünscht man ihm, dass es mindestens doppelt so dick wird – und dass es ein Kapitel über Mark Twain gibt, der das Deutsche zu erlernen versuchte und es schließlich kopfschüttelnd wieder aufgab: was für eine unmögliche Sprache!
Der letzte Mensch, der noch das Sirenikische mit seinen 28 Demonstrativpronomen sprach, war übrigens eine Frau mit Namen Vyjve. Sie starb 1997. Die anderen Mitglieder ihrer Gemeinschaft hatten sich längst ans Russische assimiliert. Soll man es bedauern? Es ging auf jeden Fall etwas verloren, nämlich ein komplettes Sprach- und das heißt auch Weltsystem. Die verbliebenen Mitglieder der Gemeinschaft haben allerdings auch etwas gewonnen: den Anschluss an eine größere Welt, in der arktische Jäger keinen Platz mehr finden, aber dafür Chancen anderer Art.
Der Turmbau von Babel, den die Bibel als Frevel darstellt, der mit der Verwirrung der Sprachen sowohl geahndet als auch gesühnt wird, ist immer ambivalent beurteilt worden. Pieter Bruegel hat ihn gemalt, als ein ebenso geordnetes wie chaotisches Zugleich von Baustelle und Ruine. So und nicht anders steht es mit der Sprachlichkeit der Menschen.
BURKHARD MÜLLER
Es gibt einen Illativ, einen Elativ
und einen Delativ. „Schwirrt
Ihnen der Kopf?“
Harald Haarmann:
Die seltsamsten
Sprachen der Welt.
Von Klicklauten
und hundert Arten,
„ich“ zu sagen.
C.H. Beck, München 2021. 206 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ein Panorama, das zeigt, wie lautliche, grammatische und semantische Eigenarten aus der Vielfalt der gesellschaftlichen Verhältnisse und kulturellen Muster hervorgehen." Frankfurter Allgemeine Zeitung, Wolfgang Krischke
"Der Linguist Harald Haarmann hat ein höchst lesenswertes Buch (...) geschrieben."
Süddeutsche Zeitung, Burkhard Müller
"Ein Buch wie eine Weltreise."
Bayern 2, Hendrik Heinze
"Harald Haarmann versammelt in seinem neuen Buch die besten Fundstücke aus dem reichen Fundus seines Forscherlebens."
Deutschlandfunk Kultur, Sieglinde Geisel
"Man lernt immer eine Menge dazu bei der Lektüre eines Buchs von Harald Haarmann."
taz, Katharina Granzin
"Kurzweilig und kenntnisreich." Bild der Wissenschaft
"Der hoch anerkannte Linguist (...) lädt dazu ein, die Vielfalt als Reichtum zu sehen, auch als persönliche Bereicherung, weil sie uns die Welt anders verstehen lässt. Das gelingt ihm mit seinem Buch."
Die Presse, Karl Gaulhofer
"Überraschende Fakten aus der Wunderwelt der Sprachen."
ORF.at, Sophie Menasse
"Voll mit lohnenden Erkenntnissen." Falter, Georg Renöckl
"So witzig und abstrus sich manches für uns anhört, so deutlich macht Haarmann aber auch, wie sehr Sprache immer auch die Gesellschaftsform abbildet, die Traditionen und die Gedankenwelt, die dahinter steht."
Badisches Tagblatt, Georg Patzer
Das ist so amüsant wie informativ (...) solch ein Buch kriegt man wahrlich nicht jeden Tag vor die Augen."
Wiener Zeitung, Edwin Baumgartner
"Der Linguist Harald Haarmann hat ein höchst lesenswertes Buch (...) geschrieben."
Süddeutsche Zeitung, Burkhard Müller
"Ein Buch wie eine Weltreise."
Bayern 2, Hendrik Heinze
"Harald Haarmann versammelt in seinem neuen Buch die besten Fundstücke aus dem reichen Fundus seines Forscherlebens."
Deutschlandfunk Kultur, Sieglinde Geisel
"Man lernt immer eine Menge dazu bei der Lektüre eines Buchs von Harald Haarmann."
taz, Katharina Granzin
"Kurzweilig und kenntnisreich." Bild der Wissenschaft
"Der hoch anerkannte Linguist (...) lädt dazu ein, die Vielfalt als Reichtum zu sehen, auch als persönliche Bereicherung, weil sie uns die Welt anders verstehen lässt. Das gelingt ihm mit seinem Buch."
Die Presse, Karl Gaulhofer
"Überraschende Fakten aus der Wunderwelt der Sprachen."
ORF.at, Sophie Menasse
"Voll mit lohnenden Erkenntnissen." Falter, Georg Renöckl
"So witzig und abstrus sich manches für uns anhört, so deutlich macht Haarmann aber auch, wie sehr Sprache immer auch die Gesellschaftsform abbildet, die Traditionen und die Gedankenwelt, die dahinter steht."
Badisches Tagblatt, Georg Patzer
Das ist so amüsant wie informativ (...) solch ein Buch kriegt man wahrlich nicht jeden Tag vor die Augen."
Wiener Zeitung, Edwin Baumgartner