Selbst guten Kennern von Hildesheimers Leben und Werk war und ist weitgehend unbekannt, was genau ihn beschäftigte, bevor er 1950, scheinbar aus purem Zufall, zu schreiben begann und umgehend literarische Erfolge feierte. Hildesheimers Briefe an die Eltern, eine erstklassige Quelle, erhellen nicht nur das Dunkel dieser Frühzeit, sondern auch seine weitere, bislang weitgehend unbekannte Entwicklung. Beginnend mit einer Schiffsreise des angehenden Studenten nach London 1937 und endend mit dem Tod der Mutter 1962, bieten die erhalten gebliebenen 507 Briefe ein so aufschlussreiches wie aufregendes Tagebuch in Briefform über einen Zeitraum von 25 Jahren. Wichtige Stationen sind das Studium in England, der Aufenthalt in Palästina während des Weltkriegs, die Tätigkeit als Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen und der Weg ins Rampenlicht der deutschen Literaturszene als Autor und Übersetzer. In diesen Briefen spiegelt sich aber auch eine Epoche großer politischer Umwälzungen sowie tiefgreifender Entwicklungen in der internationalen Kultur und Kunst, die Hildesheimer als bildender Künstler aufmerksam verfolgte und denen er wichtige Impulse für sein schriftstellerisches Werk verdankte.Volker Jehle, einer der besten Kenner von Hildesheimers Werk, Editor und Monograph des Autors, hat sämtliche erhaltenen Briefe chronologisch geordnet und die ihnen zugrunde liegenden biographischen Fakten und Ereignisse in akribischer Recherche ermittelt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2016Liebe Leute fand er nur in der Familie
Reiche Ernte eines großen Schaffens: Zum hundertsten Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer erscheinen eine Biographie, ein Aufsatzband und die Briefe des Schriftstellers an seine Eltern.
Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer gehörte in den fünfziger und sechziger Jahren zum Kanon der westdeutschen Gegenwartsliteratur und erhielt 1966 für seinen Roman "Tynset" den Büchnerpreis. Daran muss heute explizit erinnert werden, weil sein Name jüngeren Lesern mehrheitlich gar nichts sagt und ältere ihn gründlich vergessen zu haben scheinen. Zwar fristet sein Werk in einer siebenbändigen, bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe ein Schattendasein in Bibliotheken und ist in Einzelausgaben weitgehend noch greifbar, aber aus dem Kanon der deutschen Gegenwartsliteratur scheint er verschwunden.
Immerhin hat Suhrkamp nun zu Hildesheimers hundertstem Geburtstag am 9. Dezember zwei voluminöse Bände mit Briefen an seine Eltern herausgebracht, der Aachener Literaturwissenschaftler Stephan Braese bei Wallstein eine substantielle Biographie des Autors vorgelegt und die edition text + kritik Hildesheimer ihm ihr diesjähriges "Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre" gewidmet, das einige sehr bemerkenswerte Beiträge enthält.
Stephan Braese ist sich der besonderen Aufgabe bewusst, die es bedeutet, eine Biographie gerade über Wolfgang Hildesheimer zu schreiben. Denn dieser Autor hat sich über das biographische Genre mehrfach kritisch geäußert und seine eigene Lebensgeschichte in fünf kurzen Abrissen zwischen 1953 und 1966 immer wieder neu erzählt und die Schwerpunkte verschoben. Mit der Analyse dieser Selbstdarstellungen beginnt Braese seine Biographie. Zudem hat Hildesheimer selbst zwei Biographien geschrieben, die eine, seinen größten Publikumserfolg überhaupt, über Mozart und die andere, vielleicht sein geheimes Meisterwerk, über den englischen Adligen und Kunsttheoretiker Andrew Marbot, der 1830 im Alter von 29 Jahren von seinem Wohnsitz Urbino aus einen Gang ins Gebirge macht und nicht mehr zurückkehrt: verschollen für immer. Der Clou dabei ist der Umstand, dass hier jemand verschwindet, der nie gelebt hat, denn Marbot ist eine fiktive Schöpfung Hildesheimers. Sein Leben und seine nachgelassenen Schriften sind indes so überzeugend dargestellt, dass manche Leser und Rezensenten ihn als historische Figur für bare Münze genommen haben.
Braese war sich der inhärenten Tendenz aller Biographien bewusst, in einer Lebensgeschichte Kohärenz herzustellen, wo in Wahrheit Kontingenz regiert. Kontingenz, die im Fall Hildesheimer eine besonders herausragende Rolle spielt. Geboren 1916 in Hamburg als "Enkel eines der namhaftesten Rabbiner Mitteleuropas in der Neuzeit", wie Braese schreibt, war seine Familie in der Elterngeneration bereits säkularisiert. Die Hildesheimers wanderten 1933 mit ihrem Sohn Wolfgang und dessen Schwester Eva nach Palästina aus. Die Jahreszahl suggeriert eine unmittelbare Reaktion auf Hitlers Machteroberung; in der Realität hatten Hildesheimers Eltern diesen Schritt schon wesentlich länger erwogen. Weder orthodox noch religiös, waren sie dennoch zionistisch. Der Vater, Chemiker, wurde in Palästina als leitender Angestellter für Unilever tätig, sein Sohn, der bis dahin in Deutschland die Odenwaldschule und danach ganz kurz eine Public School in England besucht hatte, machte in Jerusalem eine Tischlerlehre.
Von 1937 an setzte Wolfgang Hildesheimer seine handwerklich-künstlerische Ausbildung in London an der Central School of Arts and Crafts fort. Hier beginnt dann auch der umfangreiche Briefwechsel mit den Eltern, dem wir die 507 Briefe verdanken, die jetzt bei Suhrkamp erschienen sind, vom Hildesheimer-Experten Volker Jehle mustergültig ediert. Der erste dieser Briefe, die immer mit der Anrede "Liebe Leute" beginnen, wurde noch während der Schiffspassage geschrieben und registriert unter anderem: "Sonst ist es ziemlich langweilig. Die Arier treiben ihr Unwesen. Die frommen Juden nicht minder."
In London führte Hildesheimer alters- und milieugemäß ein Bohemeleben. Das Porträt des Künstlers als junger Mann, das aus seinen Briefen durchscheint, zeigt zugleich, wie ihn dieses Leben formte und zum Kosmopoliten machte, so dass ihm später die Kollegen von der Gruppe 47, die von der Welt nicht sehr viel mehr gesehen hatten als die Länder, die sie als Wehrmachtssoldaten zu verwüsten oder zu okkupieren geholfen hatten, "Weltläufigkeit" bescheinigten. Dieser Kosmopolitismus wurde nach der Rückkehr nach Palästina verfeinert und ausgebildet. Von 1941 bis 1946 arbeitete Hildesheimer, dessen Englisch inzwischen muttersprachliche Qualität hatte, in Jerusalem als Informationsoffizier für das britische Public Information Office (PIO), eine Art Informations- und Propagandaministerium, und traf im Kontext dieser Arbeit auf viele Briten, die derzeit zwar Offiziere waren, im Zivilberuf aber Wissenschaftler und Künstler.
Dieser Hintergründe muss man sich bewusst sein, wenn man verstehen will, dass Hildesheimers Rückkehr nach Deutschland keine Heimkehr war, auch nicht die eines Exilanten. Vielmehr verstand er sich als Angehöriger der Besatzungsmacht. "Unter Deutsche mischen wir uns nicht", schreibt er am 12. März 1947 an seine Eltern, und am 26. April: "Die Deutschen dagegen sind ein trauriges Kapitel. Obwohl sie sehr ausgehungert sind nach moderner Kultur, Musik und Kunst . . . ist gesellschaftlicher Verkehr mit ihnen dadurch beschwert, dass sie sich so entsetzlich leid tun."
Der Angehörige der Besatzungsmacht arbeitete von 1947 an als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen. Solche Arbeit verlangt bekanntlich höchste Konzentration bei sofortiger Umsetzung des Gehörten in die andere Sprache, wobei eventuell die Inhalte, die man gerade hört, zunächst der Amnesie verfallen, um so eher, je grauenhafter sie sind. Braeses Ausführungen zum "Hörsinn nach Nürnberg" und den Auswirkungen auf die spätere Hörspielarbeit Hildesheimers sowie auf seine Prosaarbeiten von den frühen sechziger Jahren an gehören zu den Glanzstücken dieser Biographie.
Erstaunlicherweise wurde dann die vorwiegend aus ehemaligen Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der "inneren Emigration" bestehende Gruppe 47 für den jüdischen Besatzer Hildesheimer zum Sprungbrett für seine Karriere als Schriftsteller und auch ausschlaggebend dafür, dass er sich entschloss, zunächst in Deutschland zu bleiben. "Mit dieser Erfolgsgeschichte", schreibt Jennifer Bigelow in ihrem aufschlussreichen Beitrag über Hildesheimers Verhältnis zur Gruppe fürs Jahrbuch, "gelang der Gruppe 47 auf geradezu vorbildliche Weise die Integration eines jüdischen Emigranten in ihren Kreis." Erstaunlich ist das insofern, als das problematische Verhältnis der Gruppe zu jüdischen Autorinnen und Autoren inzwischen hinlänglich bekannt ist. Hildesheimers "Integration" blieb denn auch die Ausnahme.
Sein Erfolg bei der Gruppe und beim Publikum mag damit zusammenhängen, dass seine "Lieblosen Legenden" mit ihrem satirischen Charakter nach der Schwere der Kahlschlagphase als Entlastung empfunden wurden. Dabei wurde die Tatsache übersehen und (bei den Hörspielen) überhört, dass Wolfgang Hildesheimers Werk von Beginn an von einem tiefschwarzen Pessimismus Schopenhauerscher Qualität grundiert ist. Darüber ließ man sich wegen des satirischen Ansatzes und der extrem unteutonischen Eleganz seiner Schreibweise offenbar hinwegtäuschen.
Dieser Einwand muss leider auch gegen Stefan Braeses ansonsten sehr tiefgehende Biographie erhoben werden. Auch er sieht unausgesprochen einen Hildesheimer I, der das Werk bis etwa 1960 umfasst, und einen Hildesheimer II, der etwa mit den "Vergeblichen Aufzeichnungen" beginnt und dann in Büchern wie "Tynset" und "Masante" kulminiert. Deshalb wird etwa der Roman "Paradies der falschen Vögel" aus dem Jahr 1953 keiner weiteren Würdigung unterzogen, obwohl in ihm bereits alle Motive des Hildesheimerschen Werks entfaltet werden: die Auflösung des Begriffs Identität, die Ununterscheidbarkeit von Original und Fälschung und von Schein und Sein (in postfaktischen Zeiten hochaktuell), die Ablehnung jeglichen Nationalismus, bis hin zu einem Weltekel, der in der Feststellung Philipp Roskols gipfelt, am besten seien die dran, die niemals geboren seien, ergänzt durch den bedauernden Nachsatz: "Aber das kommt in tausend Fällen höchstens zwei- bis dreimal vor."
1957 schon hatte Hildesheimer mit seiner Frau Deutschland wieder verlassen und sich im graubündischen Poschiavo angesiedelt. Anfänglich hatte er dafür ausschließlich klimatische Gründe geltend gemacht. Klima ist ein polyvalenter Begriff. Es kann kein Zweifel bestehen, dass bei dieser Entscheidung die langsame Wiederkehr des Verdrängten, sprich die Erinnerung an die Inhalte der Nürnberger Prozesse, eine Rolle gespielt hat, die sich dann in "Tynset" niedergeschlagen hat. Obwohl das Erscheinen des Buchs - Hildesheimer hat es explizit nicht Roman genannt, weil er an die Romanform nicht mehr glaubte - ins selbe Jahr fiel wie die Uraufführung von Peter Weiss' "Die Ermittlung", hat ein Großteil der Kritik damals (mehrheitlich wohlwollend) darin nur den Monolog eines schweren Melancholikers erkannt, den Holocaust aber, der unmissverständlich, wenn auch nicht plakativ thematisiert wird, nicht wahrnehmen wollen.
Als Hildesheimer in den siebziger und achtziger Jahren in Interviews zunehmend seinen Fokus auf die ökologische Katastrophe richtete und daraus unter anderem die Obsoletheit fiktionaler Literatur ableitete, sah man in ihm immer stärker einen Propheten des Unheils, über den man sich mokierte. Volker Jehle hat in seiner Werkgeschichte die Reaktionen von Kollegen auf die Ankündigung des Autors aufgeführt, mit dem Schreiben aufzuhören. Sie waren mehrheitlich pikiert, ja wütend. Offenbar sah man die eigene Arbeit in Frage gestellt. Zudem reihte ihn die "Titanic" an vierter Stelle unter den "sieben peinlichsten Persönlichkeiten" ein, was sie wenigstens in diesem Fall selbst zu einer peinlichen Zeitschrift machte. Dem Betrieb, so lernt man daraus, kann man sich offenbar nicht aus freien Stücken ungestraft entziehen; nur der Betrieb selbst kann einen Autor aussortieren. Das hat er bei Hildesheimer in der Folge dann nach und nach getan.
Ob Hildesheimer das persönlich sehr berührt hat, steht dahin. Wohl eher nicht, denn im Interview mit Tilman Jens sagte er 1984: "Ich glaube, dass in wenigen Generationen der Mensch die Erde verlassen wird, das heißt, auch der Hildesheimer-Leser." Das ist eine Einschätzung, die heute an Wahrscheinlichkeit keineswegs eingebüßt hat. Bis dahin sollte es allerdings, schon allein wegen der beinahe solitären sprachlichen Eleganz dieses Autors in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, doch möglichst neue Hildesheimer-Leser geben. Viele werden es vielleicht nicht sein, eher die happy few, zu denen sich 1984 auch Günter Kunert zählte, als er an Hildesheimer schrieb: "Ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr ich mich Ihnen verbunden fühle. Ich glaube, es ist überhaupt noch das einzige, was wir haben, dass wir uns anderen nahe wissen und spüren." Wenn Literatur das schafft, hat sie das Maximum erreicht.
JOCHEN SCHIMMANG
Wolfgang Hildesheimer: "Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts". Die Briefe an die Eltern.
Hrsg. von Volker Jehle.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 2 Bde. im Schuber. Zusammen 1556 S., geb., 78,- [Euro].
Günter Häntzschel, Sven Hanuschek, Ulrike Leuschner (Hrsg.): "Treibhaus". Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Bd.12: Wolfgang Hildesheimer. Edition text + kritik, München 2016. 327 S., br., 38,- [Euro].
Stephan Braese: "Jenseits der Pässe". Wolfgang Hildesheimer - Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 588 S., Abb., geb., 44,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reiche Ernte eines großen Schaffens: Zum hundertsten Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer erscheinen eine Biographie, ein Aufsatzband und die Briefe des Schriftstellers an seine Eltern.
Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer gehörte in den fünfziger und sechziger Jahren zum Kanon der westdeutschen Gegenwartsliteratur und erhielt 1966 für seinen Roman "Tynset" den Büchnerpreis. Daran muss heute explizit erinnert werden, weil sein Name jüngeren Lesern mehrheitlich gar nichts sagt und ältere ihn gründlich vergessen zu haben scheinen. Zwar fristet sein Werk in einer siebenbändigen, bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe ein Schattendasein in Bibliotheken und ist in Einzelausgaben weitgehend noch greifbar, aber aus dem Kanon der deutschen Gegenwartsliteratur scheint er verschwunden.
Immerhin hat Suhrkamp nun zu Hildesheimers hundertstem Geburtstag am 9. Dezember zwei voluminöse Bände mit Briefen an seine Eltern herausgebracht, der Aachener Literaturwissenschaftler Stephan Braese bei Wallstein eine substantielle Biographie des Autors vorgelegt und die edition text + kritik Hildesheimer ihm ihr diesjähriges "Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre" gewidmet, das einige sehr bemerkenswerte Beiträge enthält.
Stephan Braese ist sich der besonderen Aufgabe bewusst, die es bedeutet, eine Biographie gerade über Wolfgang Hildesheimer zu schreiben. Denn dieser Autor hat sich über das biographische Genre mehrfach kritisch geäußert und seine eigene Lebensgeschichte in fünf kurzen Abrissen zwischen 1953 und 1966 immer wieder neu erzählt und die Schwerpunkte verschoben. Mit der Analyse dieser Selbstdarstellungen beginnt Braese seine Biographie. Zudem hat Hildesheimer selbst zwei Biographien geschrieben, die eine, seinen größten Publikumserfolg überhaupt, über Mozart und die andere, vielleicht sein geheimes Meisterwerk, über den englischen Adligen und Kunsttheoretiker Andrew Marbot, der 1830 im Alter von 29 Jahren von seinem Wohnsitz Urbino aus einen Gang ins Gebirge macht und nicht mehr zurückkehrt: verschollen für immer. Der Clou dabei ist der Umstand, dass hier jemand verschwindet, der nie gelebt hat, denn Marbot ist eine fiktive Schöpfung Hildesheimers. Sein Leben und seine nachgelassenen Schriften sind indes so überzeugend dargestellt, dass manche Leser und Rezensenten ihn als historische Figur für bare Münze genommen haben.
Braese war sich der inhärenten Tendenz aller Biographien bewusst, in einer Lebensgeschichte Kohärenz herzustellen, wo in Wahrheit Kontingenz regiert. Kontingenz, die im Fall Hildesheimer eine besonders herausragende Rolle spielt. Geboren 1916 in Hamburg als "Enkel eines der namhaftesten Rabbiner Mitteleuropas in der Neuzeit", wie Braese schreibt, war seine Familie in der Elterngeneration bereits säkularisiert. Die Hildesheimers wanderten 1933 mit ihrem Sohn Wolfgang und dessen Schwester Eva nach Palästina aus. Die Jahreszahl suggeriert eine unmittelbare Reaktion auf Hitlers Machteroberung; in der Realität hatten Hildesheimers Eltern diesen Schritt schon wesentlich länger erwogen. Weder orthodox noch religiös, waren sie dennoch zionistisch. Der Vater, Chemiker, wurde in Palästina als leitender Angestellter für Unilever tätig, sein Sohn, der bis dahin in Deutschland die Odenwaldschule und danach ganz kurz eine Public School in England besucht hatte, machte in Jerusalem eine Tischlerlehre.
Von 1937 an setzte Wolfgang Hildesheimer seine handwerklich-künstlerische Ausbildung in London an der Central School of Arts and Crafts fort. Hier beginnt dann auch der umfangreiche Briefwechsel mit den Eltern, dem wir die 507 Briefe verdanken, die jetzt bei Suhrkamp erschienen sind, vom Hildesheimer-Experten Volker Jehle mustergültig ediert. Der erste dieser Briefe, die immer mit der Anrede "Liebe Leute" beginnen, wurde noch während der Schiffspassage geschrieben und registriert unter anderem: "Sonst ist es ziemlich langweilig. Die Arier treiben ihr Unwesen. Die frommen Juden nicht minder."
In London führte Hildesheimer alters- und milieugemäß ein Bohemeleben. Das Porträt des Künstlers als junger Mann, das aus seinen Briefen durchscheint, zeigt zugleich, wie ihn dieses Leben formte und zum Kosmopoliten machte, so dass ihm später die Kollegen von der Gruppe 47, die von der Welt nicht sehr viel mehr gesehen hatten als die Länder, die sie als Wehrmachtssoldaten zu verwüsten oder zu okkupieren geholfen hatten, "Weltläufigkeit" bescheinigten. Dieser Kosmopolitismus wurde nach der Rückkehr nach Palästina verfeinert und ausgebildet. Von 1941 bis 1946 arbeitete Hildesheimer, dessen Englisch inzwischen muttersprachliche Qualität hatte, in Jerusalem als Informationsoffizier für das britische Public Information Office (PIO), eine Art Informations- und Propagandaministerium, und traf im Kontext dieser Arbeit auf viele Briten, die derzeit zwar Offiziere waren, im Zivilberuf aber Wissenschaftler und Künstler.
Dieser Hintergründe muss man sich bewusst sein, wenn man verstehen will, dass Hildesheimers Rückkehr nach Deutschland keine Heimkehr war, auch nicht die eines Exilanten. Vielmehr verstand er sich als Angehöriger der Besatzungsmacht. "Unter Deutsche mischen wir uns nicht", schreibt er am 12. März 1947 an seine Eltern, und am 26. April: "Die Deutschen dagegen sind ein trauriges Kapitel. Obwohl sie sehr ausgehungert sind nach moderner Kultur, Musik und Kunst . . . ist gesellschaftlicher Verkehr mit ihnen dadurch beschwert, dass sie sich so entsetzlich leid tun."
Der Angehörige der Besatzungsmacht arbeitete von 1947 an als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen. Solche Arbeit verlangt bekanntlich höchste Konzentration bei sofortiger Umsetzung des Gehörten in die andere Sprache, wobei eventuell die Inhalte, die man gerade hört, zunächst der Amnesie verfallen, um so eher, je grauenhafter sie sind. Braeses Ausführungen zum "Hörsinn nach Nürnberg" und den Auswirkungen auf die spätere Hörspielarbeit Hildesheimers sowie auf seine Prosaarbeiten von den frühen sechziger Jahren an gehören zu den Glanzstücken dieser Biographie.
Erstaunlicherweise wurde dann die vorwiegend aus ehemaligen Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der "inneren Emigration" bestehende Gruppe 47 für den jüdischen Besatzer Hildesheimer zum Sprungbrett für seine Karriere als Schriftsteller und auch ausschlaggebend dafür, dass er sich entschloss, zunächst in Deutschland zu bleiben. "Mit dieser Erfolgsgeschichte", schreibt Jennifer Bigelow in ihrem aufschlussreichen Beitrag über Hildesheimers Verhältnis zur Gruppe fürs Jahrbuch, "gelang der Gruppe 47 auf geradezu vorbildliche Weise die Integration eines jüdischen Emigranten in ihren Kreis." Erstaunlich ist das insofern, als das problematische Verhältnis der Gruppe zu jüdischen Autorinnen und Autoren inzwischen hinlänglich bekannt ist. Hildesheimers "Integration" blieb denn auch die Ausnahme.
Sein Erfolg bei der Gruppe und beim Publikum mag damit zusammenhängen, dass seine "Lieblosen Legenden" mit ihrem satirischen Charakter nach der Schwere der Kahlschlagphase als Entlastung empfunden wurden. Dabei wurde die Tatsache übersehen und (bei den Hörspielen) überhört, dass Wolfgang Hildesheimers Werk von Beginn an von einem tiefschwarzen Pessimismus Schopenhauerscher Qualität grundiert ist. Darüber ließ man sich wegen des satirischen Ansatzes und der extrem unteutonischen Eleganz seiner Schreibweise offenbar hinwegtäuschen.
Dieser Einwand muss leider auch gegen Stefan Braeses ansonsten sehr tiefgehende Biographie erhoben werden. Auch er sieht unausgesprochen einen Hildesheimer I, der das Werk bis etwa 1960 umfasst, und einen Hildesheimer II, der etwa mit den "Vergeblichen Aufzeichnungen" beginnt und dann in Büchern wie "Tynset" und "Masante" kulminiert. Deshalb wird etwa der Roman "Paradies der falschen Vögel" aus dem Jahr 1953 keiner weiteren Würdigung unterzogen, obwohl in ihm bereits alle Motive des Hildesheimerschen Werks entfaltet werden: die Auflösung des Begriffs Identität, die Ununterscheidbarkeit von Original und Fälschung und von Schein und Sein (in postfaktischen Zeiten hochaktuell), die Ablehnung jeglichen Nationalismus, bis hin zu einem Weltekel, der in der Feststellung Philipp Roskols gipfelt, am besten seien die dran, die niemals geboren seien, ergänzt durch den bedauernden Nachsatz: "Aber das kommt in tausend Fällen höchstens zwei- bis dreimal vor."
1957 schon hatte Hildesheimer mit seiner Frau Deutschland wieder verlassen und sich im graubündischen Poschiavo angesiedelt. Anfänglich hatte er dafür ausschließlich klimatische Gründe geltend gemacht. Klima ist ein polyvalenter Begriff. Es kann kein Zweifel bestehen, dass bei dieser Entscheidung die langsame Wiederkehr des Verdrängten, sprich die Erinnerung an die Inhalte der Nürnberger Prozesse, eine Rolle gespielt hat, die sich dann in "Tynset" niedergeschlagen hat. Obwohl das Erscheinen des Buchs - Hildesheimer hat es explizit nicht Roman genannt, weil er an die Romanform nicht mehr glaubte - ins selbe Jahr fiel wie die Uraufführung von Peter Weiss' "Die Ermittlung", hat ein Großteil der Kritik damals (mehrheitlich wohlwollend) darin nur den Monolog eines schweren Melancholikers erkannt, den Holocaust aber, der unmissverständlich, wenn auch nicht plakativ thematisiert wird, nicht wahrnehmen wollen.
Als Hildesheimer in den siebziger und achtziger Jahren in Interviews zunehmend seinen Fokus auf die ökologische Katastrophe richtete und daraus unter anderem die Obsoletheit fiktionaler Literatur ableitete, sah man in ihm immer stärker einen Propheten des Unheils, über den man sich mokierte. Volker Jehle hat in seiner Werkgeschichte die Reaktionen von Kollegen auf die Ankündigung des Autors aufgeführt, mit dem Schreiben aufzuhören. Sie waren mehrheitlich pikiert, ja wütend. Offenbar sah man die eigene Arbeit in Frage gestellt. Zudem reihte ihn die "Titanic" an vierter Stelle unter den "sieben peinlichsten Persönlichkeiten" ein, was sie wenigstens in diesem Fall selbst zu einer peinlichen Zeitschrift machte. Dem Betrieb, so lernt man daraus, kann man sich offenbar nicht aus freien Stücken ungestraft entziehen; nur der Betrieb selbst kann einen Autor aussortieren. Das hat er bei Hildesheimer in der Folge dann nach und nach getan.
Ob Hildesheimer das persönlich sehr berührt hat, steht dahin. Wohl eher nicht, denn im Interview mit Tilman Jens sagte er 1984: "Ich glaube, dass in wenigen Generationen der Mensch die Erde verlassen wird, das heißt, auch der Hildesheimer-Leser." Das ist eine Einschätzung, die heute an Wahrscheinlichkeit keineswegs eingebüßt hat. Bis dahin sollte es allerdings, schon allein wegen der beinahe solitären sprachlichen Eleganz dieses Autors in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, doch möglichst neue Hildesheimer-Leser geben. Viele werden es vielleicht nicht sein, eher die happy few, zu denen sich 1984 auch Günter Kunert zählte, als er an Hildesheimer schrieb: "Ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr ich mich Ihnen verbunden fühle. Ich glaube, es ist überhaupt noch das einzige, was wir haben, dass wir uns anderen nahe wissen und spüren." Wenn Literatur das schafft, hat sie das Maximum erreicht.
JOCHEN SCHIMMANG
Wolfgang Hildesheimer: "Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts". Die Briefe an die Eltern.
Hrsg. von Volker Jehle.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 2 Bde. im Schuber. Zusammen 1556 S., geb., 78,- [Euro].
Günter Häntzschel, Sven Hanuschek, Ulrike Leuschner (Hrsg.): "Treibhaus". Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Bd.12: Wolfgang Hildesheimer. Edition text + kritik, München 2016. 327 S., br., 38,- [Euro].
Stephan Braese: "Jenseits der Pässe". Wolfgang Hildesheimer - Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 588 S., Abb., geb., 44,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Hildesheimers Briefe an seine Eltern sind mehr als eine Ergänzung zur Lebensbeschreibung. Sie bilden ein eigenständiges biographisches Panorama, zumal Volker Jehle die 507 Briefe mit einem aufschlussreichen Apparat versehen hat ... Jehles Anmerkungen kann man als Parallelerzählung zu den Briefen lesen.« Hilmar Klute Süddeutsche Zeitung 20161209