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Produktdetails
  • Rowohlts Enzyklopädie
  • Verlag: Rowohlt TB.
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 242g
  • ISBN-13: 9783499555794
  • Artikelnr.: 24441246
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1997

Kunst als Nullmedium
Lambert Wiesing jongliert mit glitschigen Kategorien

Nach einem Wort Maurice Merleau-Pontys "zelebriert" die Malerei "seit Lascaux bis zum heutigen Tage" das Rätsel der Sichtbarkeit. Angesichts der Revolutionen in der modernen Kunst fordert dies Geheimnis die Ästhetik heraus. Da der Werkbegriff in diesem Jahrhundert so vehement attackiert worden ist und da obendrein die neuen Medien ins Bild getreten sind, erscheint eine übergreifende Ästhetik als kühnes Unternehmen. Lambert Wiesing blickt nun auf die Geschichte der formalen Ästhetik zurück und sucht dort Perspektiven für eine Konzeption des modernen Bildes, die sowohl der Malerei als auch der technischen Bildproduktion gerecht werden soll.

Er findet sie in der "Sichtbarkeit des Bildes". Wiesing unterscheidet vier Formen "reiner Sichtbarkeit": das Tafelbild, den Film, das digitale Bild und die Simulation. Die Sichtbarkeit des Bildes als Signum der Gegenwart: dies macht zunächst stutzig. Denn sichtbar zu sein ist keineswegs ein Vorzug heutiger Bilder vor denen aus früheren Epochen.

Wiesing hat indes einen besonderen Begriff von der "reinen", "bloßen" Sichtbarkeit. Darunter versteht er nämlich "sinnentleerte" Phänomene wie die flüchtigen Eindrücke beim Zappen vor dem Fernseher oder die "schnellen Bildsequenzen" im Videoclip, welche die oberflächliche Wahrnehmung gleichsam erzwingen. Wo eine Bildgattung "nur um der Sichtbarkeit willen genutzt" werde, so Wiesings These in Anlehnung an Enzensberger, müsse sie "zu einem ,Nullmedium' werden". Sonderlich originell mutet dieses Resultat nicht an. Geradezu abwegig ist aber die Auffassung, auch die "abstrakte Kunst" stelle ein "Nullmedium" dar, in dem es nicht mehr um die "Interpretation einer sichtbaren Wirklichkeit" gehen könne.

Von einer zeitgenössischen Theorie des Bildes hätte man erwarten können, daß sie den Unterschied zumindest erwähnt, den der Maler Theo van Doesburg schon in den zwanziger Jahren machte: daß "abstrakte" Kunst von der Gegenstandswelt ausgehe und die Dinge abstrahiere, während sich die "konkrete Malerei" Linie, Farbe und Fläche zuwende, die schlechterdings nicht an einen Gegenstand gebunden sind. Statt dessen schlägt Wiesing die "Abstraktion" aus fast hundert Jahren über einen Leisten. Die "monochrome Malerei" komme über den "Status eines intellektuellen Experiments nicht hinaus", was aber, wie ihr gönnerhaft bescheinigt wird, "keineswegs wenig" sei.

Bei so groben Pauschalurteilen werden die Fundamente der "reinen Sachlichkeit" brüchig, die Wiesing aus philosophischen Ansätzen seit dem vorigen Jahrhundert begründen will. Dabei weist er zunächst durchaus überzeugend nach, wie sich die Ästhetik bei Robert Zimmermann (1824 bis 1898), einem Schüler Herbarts, zwar noch nicht gänzlich von der Idealität von Form und Schönheit gelöst hat, das Bild aber bereits als anschauliches Faktum begreift, das sich im Gefüge der Formen bewähre.

Wiesing skizziert die ästhetischen Kategorien bei Alois Riegls und Heinrich Wölfflin, welche die Ordnung des Bildes mit Formen der Anschauung in Einklang bringen. In dieser Absicht hatte Wölfflin polare Begriffspaare entwickelt wie das "Lineare" und das "Malerische", "Einheit und Vielheit" oder "geschlossene Form und offene Form", um damit sowohl das Bild als auch die künstlerische Sichtweise zu bestimmen.

Fragwürdig wird die Argumentation dort, wo Wiesing diese Positionen für seine Theorie der Sichtbarkeit beansprucht - besonders im Falle Konrad Fiedlers, den Wiesing als Kronzeugen wählt. Fiedler beschwor 1887 in seiner Abhandlung vom "Ursprung der künstlerischen Tätigkeit" eine "Welt der Kunst", in der sich die "Sichtbarkeit der Dinge in der Gestalt reiner Formengebilde verwirklicht". Er reklamierte damit ausdrücklich den Anspruch der Kunst auf schöpferische Wahrheit und dachte keinesfalls an ein sinnentleertes "Nullmedium". In seiner Apologie der Kunst sprach er denn auch von einem Sehen, das "durch den ganzen handelnden Menschen vollzogen" werde.

Doch diese eindringliche Anschauung im Sinne Fiedlers blendet Wiesing weitgehend aus. Er sieht die interaktive, reine Sichtbarkeit in der "computergesteuerten Simulation verwirklicht". Diese führe vor, was Fiedler "vorgedacht" habe. Wiesing weist aber selber darauf hin, daß mit der fortschreitenden "Emanzipation der reinen Sichtbarkeit" die künstlerischen Wahrheitsansprüche "überwunden" seien. Spätestens an dieser Stelle gerät der Versuch, Fiedler zum Urahnen der neuen Bildmedien zu machen, an seine Grenzen, auch wenn sich manche Äußerungen Fiedlers vordergründig mit den digitalen Medien vernetzen lassen.

So bleibt die in diesem Buch vorgeschlagene "Sichtbarkeit" zum Glück nicht die einzig denkbare. Sonst müßte man die Gemälde von Kandinsky und Mondrian, Pollock, Rothko, Albers und Yves Klein, um nur einige zu nennen, tatsächlich als "mathematische Formeln" auffassen und hätte mit Wiesing das Rätsel der Sichtbarkeit so gründlich entzaubert, daß davon kaum noch etwas übrigbleibt. GEORG IMDAHL

Lambert Wiesing: "Die Sichtbarkeit des Bildes". Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Rowohlts Enzyklopädie, Hamburg 1997. 319 S., br., 26,90 DM.

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