Nach seiner Autobiographie 'Das Magische Auge' legt Dieter Kühn den zweiten Teil seines Lebensbuchs vor - ein "Logbuch" aus Werkstattberichten, dokumentierten Gesprächen und Erinnerungen als Selbstporträt eines Schriftstellers. Dabei steht jedoch nicht das Entstehen der eigenen Bücher im Vordergrund, sondern lebensbegleitende Schreibprojekte, die bisher noch nicht in Buchform realisiert wurden: "Projekte, bei deren Entwicklung ich spezifische Erfahrungen machte, dies zuweilen grenzwertig." Sieben solcher Projekte sind es - darunter die literarische Übertragung von einer Sprache in die andere und der Versuch einer Verschmelzung von Literatur und Naturwissenschaft -, die wie riesenhafte Wogen den Autor unter sich zu begraben drohen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Pünktlich zu Dieter Kühns achtzigstem Geburtstag ist mit "Die siebte Woge" ein neues Buch des Autors erschienen, den Rezensent Tilman Spreckelsen als ebenso produktiv wie brillant würdigt. Einmal mehr lässt sich der Kritiker hier auf Kühns geniales Spiel der Möglichkeiten im Wirklichen ein, in diesem Fall ein "Werkstattbuch" zu Büchern und Texten, die zwar geschrieben hätten werden können, aber nie zur Verwirklichung kamen: Spreckelsen liest etwa Texte über eine Biografie des Hitler-Gegners Armin T. Wegner, eine Biografie des Schriftstellers Felix Hartlaub oder über den katholischen Buchdrucker Rudolf Rocker, der sich um die Armen Londons kümmerte. Fasziniert folgt der Rezensent den Materialsammlungen und Erläuterungen Kühns, die verdeutlichen, weshalb es häufig nur bei den Plänen blieb. Darüber hinaus entdeckt der Kritiker in diesem hinreißenden Buch auch selbstreflexive Texte des Autors - etwa über den Prozess des Schreibens oder die wirtschaftliche Situation freier Schriftsteller.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2015Logbuch der Möglichkeiten
Blick zurück mit achtzig: Dieter Kühns Werkstattbericht "Die siebte Woge"
Manchmal ist es ein Haus. Ein großer Hof in einem Eifeldorf zum Beispiel, größtenteils aus dem achtzehnten Jahrhundert stammend und stark renovierungsbedürftig - aber mit viel Platz und einmaliger Aussicht. Der Schriftsteller Dieter Kühn jedenfalls, der das zum Verkauf stehende Gebäude in den achtziger Jahren besichtigte, war begeistert, die Familie sah dagegen Sanierungskosten und ein Leben in großer Abgeschiedenheit voraus, die Sache zerschlug sich.
"Doch einige Wochen oder Monate zuvor", schreibt Dieter Kühn in seinem Buch "Die siebte Woge", das dieser Tage erschienen ist, "da lag sie nah: Die Chance zum Sprung in eine andere Lebensform. Wahrscheinlich hätte sie auch eingewirkt auf meine Texte." Den Hauskauf, der nicht zustande kam, nennt Kühn rückblickend "eine Alternative, die mich begleitete".
Im Werk dieses Schriftstellers sind Begriffe wie "Chance", "andere Lebensform" und vor allem "Alternative" Signalwörter: nicht einfach dahergesagt oder -geschrieben, sondern kalkuliert gesetzt als Teil einer Poetik, die in der Wirklichkeit immer auch die Möglichkeiten sieht. Kühn, der seine Dissertation nicht zufällig über Musils "Mann ohne Eigenschaften" schrieb, hat in einem gewaltigen Kosmos an literarischen Werken immer wieder die Möglichkeitsform gebraucht, am auffälligsten sicherlich in seinem 1970 erschienenen Romandebüt "N." - keine Napoleon-Biographie, sondern auf schmalem Raum ein Panorama verschiedenster Existenzen eines 1769 geborenen Korsen, der ja auch Priester oder Gelehrter hätte werden können statt Frankreichs Kaiser. Und hätte er überhaupt geboren werden müssen? In einer der lustigsten Stellen des Romans malt sich Kühn aus, wie sich das junge korsische Paar, aus dem in der Realität Napoleons Eltern werden sollten, im entscheidenden Moment zu müde fühlt, um das Kind zu zeugen.
Auch in anderen Büchern des ungemein produktiven Autors, der morgen seinen achtzigsten Geburtstag feiert, geht es um Alternativen zu historischen Momenten. Was wäre, beispielsweise, wenn Hitler früh einem der Attentate auf ihn erlegen wäre? Dass Kühn dabei das eigene Leben nicht ausnimmt, wird in der voluminösen, 2013 erschienenen Autobiographie "Das magische Auge" deutlich.
So ist auch nun "Die siebte Woge", von Kühn im Untertitel als "Logbuch" bezeichnet, ein Werkstattbericht zu Büchern und Texten, die zum Teil nie geschrieben worden sind, die es aber hätte geben können: etwa eine Biographie des Hitler-Gegners Armin T. Wegner, eine Biographie des Schriftstellers Felix Hartlaub oder ein Auswahlband mit Texten Rudolf Rockers, eines katholischen Buchdruckers aus Mainz, der sich um die Armen Londons kümmerte. Kühn öffnet Mappen mit Materialsammlungen, er überträgt seine eigene Begeisterung für den Stoff spielend auf uns Leser, und das auch dort, wo die Grundidee auf den ersten Blick nicht zwingend erscheint. Schließlich erläutert er, warum es bei den teilweise weit ausgearbeiteten Plänen geblieben ist, und das ist immer gut begründet: Rudolf Rockers Texte halten eben, bei näherer Durchsicht, in ästhetischer Hinsicht nicht das, was der Lebenslauf des Autors versprochen hätte, und dann lässt man es tatsächlich besser bleiben.
Ein Schwerpunkt liegt auf Plänen, Naturwissenschaft und Literatur zueinanderzubringen. So sollte ein naturhistorisches Lehrgedicht aus den Beobachtungen erwachsen, die Adelbert von Chamisso auf seiner Reise um die Welt machte, oder der mit Einstein und Planck bekannten Hedwig Born sollte eine poetische Darstellung der Relativitätstheorie in den Mund gelegt werden.
Aber Kühn erinnert auch an Ausgeführtes: etwa - als Seitenstück zu seinen bahnbrechenden Übertragungen mittelalterlicher Literatur - seine Nachdichtung von Liedern des Lyrikers Tanhuser, der später als "Tannhäuser" Richard Wagner inspirierte. Er spricht von seinen Kinderbüchern aus den siebziger Jahren, die dem heutigen Blick des Autors nicht mehr standhalten können, weil der in seinen eigenen Werken viel zu viel Pädagogik findet. Er beleuchtet die wirtschaftliche Situation des freien Schriftstellers (Bücherschreiben ist in Ordnung, Rundfunkarbeiten sind lukrativ, aber Finger weg von Theaterstücken!) und kommt immer wieder zurück auf das Verhältnis zwischen dem Material, das die Realität dem Schriftsteller liefert, und dem Prozess des Schreibens.
Bei Kühn ist das oft genug eine Liebesbeziehung, jedenfalls was bestimmte Themenkreise angeht: "Sie begleiten mich, sie entgleiten mir, wir kommen wieder zusammen." Vielleicht lesen wir ja noch etwas mehr von seiner Dante-Übertragung. Die Proben in "Die siebte Woge" lassen darauf hoffen.
TILMAN SPRECKELSEN
Dieter Kühn: "Die siebte Woge. Mein Logbuch". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 520 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Blick zurück mit achtzig: Dieter Kühns Werkstattbericht "Die siebte Woge"
Manchmal ist es ein Haus. Ein großer Hof in einem Eifeldorf zum Beispiel, größtenteils aus dem achtzehnten Jahrhundert stammend und stark renovierungsbedürftig - aber mit viel Platz und einmaliger Aussicht. Der Schriftsteller Dieter Kühn jedenfalls, der das zum Verkauf stehende Gebäude in den achtziger Jahren besichtigte, war begeistert, die Familie sah dagegen Sanierungskosten und ein Leben in großer Abgeschiedenheit voraus, die Sache zerschlug sich.
"Doch einige Wochen oder Monate zuvor", schreibt Dieter Kühn in seinem Buch "Die siebte Woge", das dieser Tage erschienen ist, "da lag sie nah: Die Chance zum Sprung in eine andere Lebensform. Wahrscheinlich hätte sie auch eingewirkt auf meine Texte." Den Hauskauf, der nicht zustande kam, nennt Kühn rückblickend "eine Alternative, die mich begleitete".
Im Werk dieses Schriftstellers sind Begriffe wie "Chance", "andere Lebensform" und vor allem "Alternative" Signalwörter: nicht einfach dahergesagt oder -geschrieben, sondern kalkuliert gesetzt als Teil einer Poetik, die in der Wirklichkeit immer auch die Möglichkeiten sieht. Kühn, der seine Dissertation nicht zufällig über Musils "Mann ohne Eigenschaften" schrieb, hat in einem gewaltigen Kosmos an literarischen Werken immer wieder die Möglichkeitsform gebraucht, am auffälligsten sicherlich in seinem 1970 erschienenen Romandebüt "N." - keine Napoleon-Biographie, sondern auf schmalem Raum ein Panorama verschiedenster Existenzen eines 1769 geborenen Korsen, der ja auch Priester oder Gelehrter hätte werden können statt Frankreichs Kaiser. Und hätte er überhaupt geboren werden müssen? In einer der lustigsten Stellen des Romans malt sich Kühn aus, wie sich das junge korsische Paar, aus dem in der Realität Napoleons Eltern werden sollten, im entscheidenden Moment zu müde fühlt, um das Kind zu zeugen.
Auch in anderen Büchern des ungemein produktiven Autors, der morgen seinen achtzigsten Geburtstag feiert, geht es um Alternativen zu historischen Momenten. Was wäre, beispielsweise, wenn Hitler früh einem der Attentate auf ihn erlegen wäre? Dass Kühn dabei das eigene Leben nicht ausnimmt, wird in der voluminösen, 2013 erschienenen Autobiographie "Das magische Auge" deutlich.
So ist auch nun "Die siebte Woge", von Kühn im Untertitel als "Logbuch" bezeichnet, ein Werkstattbericht zu Büchern und Texten, die zum Teil nie geschrieben worden sind, die es aber hätte geben können: etwa eine Biographie des Hitler-Gegners Armin T. Wegner, eine Biographie des Schriftstellers Felix Hartlaub oder ein Auswahlband mit Texten Rudolf Rockers, eines katholischen Buchdruckers aus Mainz, der sich um die Armen Londons kümmerte. Kühn öffnet Mappen mit Materialsammlungen, er überträgt seine eigene Begeisterung für den Stoff spielend auf uns Leser, und das auch dort, wo die Grundidee auf den ersten Blick nicht zwingend erscheint. Schließlich erläutert er, warum es bei den teilweise weit ausgearbeiteten Plänen geblieben ist, und das ist immer gut begründet: Rudolf Rockers Texte halten eben, bei näherer Durchsicht, in ästhetischer Hinsicht nicht das, was der Lebenslauf des Autors versprochen hätte, und dann lässt man es tatsächlich besser bleiben.
Ein Schwerpunkt liegt auf Plänen, Naturwissenschaft und Literatur zueinanderzubringen. So sollte ein naturhistorisches Lehrgedicht aus den Beobachtungen erwachsen, die Adelbert von Chamisso auf seiner Reise um die Welt machte, oder der mit Einstein und Planck bekannten Hedwig Born sollte eine poetische Darstellung der Relativitätstheorie in den Mund gelegt werden.
Aber Kühn erinnert auch an Ausgeführtes: etwa - als Seitenstück zu seinen bahnbrechenden Übertragungen mittelalterlicher Literatur - seine Nachdichtung von Liedern des Lyrikers Tanhuser, der später als "Tannhäuser" Richard Wagner inspirierte. Er spricht von seinen Kinderbüchern aus den siebziger Jahren, die dem heutigen Blick des Autors nicht mehr standhalten können, weil der in seinen eigenen Werken viel zu viel Pädagogik findet. Er beleuchtet die wirtschaftliche Situation des freien Schriftstellers (Bücherschreiben ist in Ordnung, Rundfunkarbeiten sind lukrativ, aber Finger weg von Theaterstücken!) und kommt immer wieder zurück auf das Verhältnis zwischen dem Material, das die Realität dem Schriftsteller liefert, und dem Prozess des Schreibens.
Bei Kühn ist das oft genug eine Liebesbeziehung, jedenfalls was bestimmte Themenkreise angeht: "Sie begleiten mich, sie entgleiten mir, wir kommen wieder zusammen." Vielleicht lesen wir ja noch etwas mehr von seiner Dante-Übertragung. Die Proben in "Die siebte Woge" lassen darauf hoffen.
TILMAN SPRECKELSEN
Dieter Kühn: "Die siebte Woge. Mein Logbuch". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 520 S., geb., 24,99 [Euro].
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In diesem gezielt verwirrenden wie verwirrend reichen Buch gerät man unweigerlich ins Blättern [...] eine Fundgrube. Dierk Wolters Frankfurter Neue Presse 20150228