"Hätte Lampedusa nur diese Parabel vom Glück und der Einsamkeit des Auserwählten geschrieben, er wäre damit schon ein großer Dichter gewesen". So urteilte die Presse über die Titelerzählung dieses Bands, in deren Mittelpunkt ein alter Mann steht, der in seiner Jugend die Liebe einer Sirene erfahren hat und deswegen für den Rest seiner Tage keine andere Frau mehr zu lieben imstande ist. Auch in jeder anderen der hier versammelten Erzählungen, ob sie nun unmittelbar an Lampedusas weltberühmten Roman "Der Leopard" anknüpfen, die Welt eines kleinen Angestellten in der Großstadt schildern oder das sizilianische Kindheitsparadies des Autors beschwören, erweist Lampedusa seine Meisterschaft und bestätigt, dass er zu Recht zu den bedeutendsten italienischen Autoren des 20. Jahrhunderts gezählt wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.06.2017Gleißend helle Küste
Mit seinem Roman „Der Leopard“ wurde Giuseppe Tomasi di Lampedusa posthum berühmt.
Nun sind Erzählungen und Kindheitserinnerungen in einer neuen Übersetzung erschienen – Beschwörungen des Glücks und der Einsamkeit
VON MAIKE ALBATH
Natürlich ist eine Meerjungfrau die einzig würdige Gefährtin für einen wahren Sizilianer. Nur ein mythisches Wesen, halb Mensch, halb Tier, ausgestattet mit einer animalischen Weiblichkeit, kann es mit einem Mann wie Rosario La Ciura aufnehmen, Hellenist und Kenner der Antike, aus Catania gebürtig, Lehrstuhlinhaber in Turin, Ehrendoktor aller großen Universitäten zwischen Salamanca und Uppsala, Hesiod-Übersetzer. La Ciura verfällt dieser verwirrenden Frauengestalt als junger Mann – von nun an ist er für alles Gewöhnliche verloren.
Das Liebesabenteuer mit einer Meerjungfrau bildet den heißen Kern der Erzählung „Die Sirene“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa; sie ist neben dem Roman „Der Leopard“ von 1958 seine schönste Prosaarbeit und gibt einem Band mit kürzeren Texten aus dem Nachlass seinen Titel. Von dem Adoptivsohn des Fürsten und entfernten Cousin Gioacchino Lanza Tomasi durch Einführungen und Erläuterungen zur Werkgeschichte, einer Genealogie der Familie und einem Anmerkungsapparat ergänzt, enthält das Buch außerdem zwei Erzählungen sowie Kindheitserinnerungen.
Nach dem Welterfolg des „Leoparden“, der posthum erschien, hatte der Piper Verlag diese Texte bereits 1961 herausgebracht. Die von Moshe Kahn glänzend bewerkstelligte Neuübersetzung war nicht nur wegen der in die Jahre gekommenen Übertragung von Charlotte Birnbaum notwendig geworden, sondern wegen einiger Korrekturen, die sich aus später aufgefundenen Urfassungen ableiten ließen.
Tomasi di Lampedusas Witwe, die baltische Baronesse und Psychoanalytikerin Licy Wolff Stomersee, hatte bis zu ihrem Tod 1982 über das Erbe ihres Gatten gewacht und aus Scheu vor Angehörigen vor allem in den Erinnerungen herumgestrichen. Bisher nicht auf Deutsch greifbar waren die Begleittexte Lanza Tomasis. Sein mehr als dreißigseitiger Anmerkungsapparat fächert die historischen Hintergründe auf und ist ein großer Gewinn.
1955 war der Fürst auf den Geschmack gekommen: Nach Jahrzehnten des Müßiggangs, nur kurzzeitig unterbrochen vom Vorsitz des sizilianischen Roten Kreuzes in der Nachkriegszeit, hatte der sehr belesene und gelehrsame Tomasi di Lampedusa mit 59 Jahren seine Berufung gefunden. Er steckte mitten in der Arbeit an seinem Roman über den Epochenbruch nach der italienischen Einigung von 1861 und bemerkte auf einmal, wie groß sein Vergnügen am Erzählen war. Der eher einschläfernde Alltag in Palermo, den er sich bis dahin mit ausgedehnten Kaffeehausbesuchen, Abstechern in die Buchhandlung und den ortsansässigen Klub, gelegentlichen Zusammenkünften mit Lanza, privaten Vorlesungen über Literatur und Opernbesuchen vertrieben hatte, bekam plötzlich eine neue Tiefenschärfe.
Die Entdeckung seiner Kreativität muss etwas Berauschendes gehabt haben – es gab so vieles, das es wert war, aufgeschrieben zu werden. Schließlich war er der letzte Nachkomme einer langen Ahnenreihe. Wem, wenn nicht ihm, stand es zu, sich zu erinnern? Aus diesem Impuls heraus entstanden parallel zum „Leoparden“ die Kindheitserinnerungen. Die Detailgenauigkeit des Erzählers ist ehrfurchterregend und umfasst die Stuckaturen, die Frisierkommode der Mutter, den gelben Damast der Armstühle und die Intarsien in den Vertäfelungen aus Nussbaumholz im Salon ebenso wie die blätterteigartige Kruste eines Maccaroni-Auflaufs. Mehr als Erinnerungen sind es Beschwörungen, inspiriert von Stendhals „Leben des Henry Brulard“. Dass Tomasi die Orte seiner Kindheit so emphatisch zelebriert, hängt aber auch mit ihrem Verlust zusammen: Der Palazzo Lampedusa war von einer Bombe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt, der Palazzo von Santa Margherita, Familiensitz seiner Tante und alljährliche Sommerfrische, verkauft worden. Die Beschreibungen, die auch die mühselige Reise nach Santa Margherita umfassen, sind vor allem für Kenner des „Leoparden“ eine Fundgrube. Es ist so, als besuche man den Fundus eines Opernhauses und wanderte in Kulissen umher: Man trifft auf die Schauplätze des Romans und kann sich erklären, aus welchen Quellen sich die Schilderungen speisten.
Die Realien waren verloren, aber Tomasi di Lampedusa entdeckte die Imagination als adäquaten Ausgleich. In der kurzen Zeit, die ihm blieb, verfolgte er ein regelrechtes Erinnerungsprojekt. Dabei spiegelte er sich in Don Fabrizio aus dem „Leoparden“: „Der letzte Salina war er, der zerzauste Riese, der jetzt auf dem Balkon eines Hotels mit dem Tode rang“, ließ er dort den Fürsten sagen. „Denn die Bedeutung eines Adelsgeschlechts beruht voll und ganz auf der Tradition, auf den lebenswichtigen Erinnerungen, er war der letzte, der ungewöhnliche Erinnerungen besaß.“ Ungewöhnlich, das hieß: keine bürgerlichen. Obwohl Tomasi di Lampedusa 1956 die Ablehnung seines Manuskripts durch den Verlag Mondadori hinnehmen musste, arbeitete er weiter, ausgerechnet er, dem es trotz großer Armut nie in den Sinn gekommen war, einem Brotberuf nachzugehen. „Die Freude und das Gesetz“ ist eine Geschichte über die sizilianische Auffassung von Ehre und Anstand, die einen kleinen Angestellten in tiefe Nöte stürzt. Diese zarte, aber konventionelle Geschichte steht der Erzählung „Die blinden Kätzchen“ über die neuen Emporkömmlinge zur Seite. Hier geht es schon mehr zur Sache, denn Ibba ist ähnlich wie Don Calogero, der Gutsverwalter im „Leoparden“, ein Prototyp des Mafioso. Der sizilianische Adel veräußert schicksalsergeben seine Besitztümer und verstärkt die Macht dieser Männer durch märchenhafte Übertreibungen auch noch. Aber am originellsten ist tatsächlich die Titelgeschichte, weil hier das archaische Erbe der Insel und die Moderne in eine eigentümliche Spannung geraten. Allein der Kontrast zwischen den Schauplätzen – das düstere Turin im Winter 1938 mit seinen Arkaden und die gleißend helle, sommerliche Küste Siziliens um 1880 – erzeugt ein Flirren. Der Erzähler Paolo Corbera di Salina, Journalist und wie sein Name verrät, ein Nachkomme des Fürsten von Salina aus dem „Leoparden“, ist von einer ähnlichen Hybris den Normalsterblichen gegenüber durchdrungen. In einem Café auf der Turiner Via Po schließt er Freundschaft mit dem berühmten sizilianischen Gelehrten La Ciura, der sich über Corberas lächerliche Liebschaften mokiert. Eines Nachts vertraut ihm der ruppige alte Herr sein Geheimnis an. Als junger Mann war er mehrere Wochen lang der Geliebte einer Sirene. Wie in seinen antiken Quellen erlebte er das Meer als einen Hort göttlicher Vitalität. Eine Spur davon findet er Jahrzehnte später, wenn er Seeigel verspeist, eine Spezialität, die er auch seinem Gast serviert. Er habe in jenem Sommer Jahrhunderte gelebt. „Dieses laszive Mädchen, diese kleine Bestie“ habe mit blutigen Fingern sämtliche Metaphysik zerstört und aus ihm einen Asketen des Lebens gemacht.
Kurze Zeit nach dem Bekenntnis nimmt der Gelehrte von Genua aus eine Fähre nach Neapel. Er stürzt vom Deck ins Meer, sein Leichnam bleibt unauffindbar. Es ist kein Zufall, dass Tomasi die Bekanntschaft der beiden Exilsizilianer genau datiert: 1938 ist auch das Jahr, in dem der sizilianische Atomphysiker Ettore Majorana dieselbe Reise antrat und nie am Zielort eintraf. Der Schriftsteller war von der Überlagerung politischer, vermutlich geheimdienstlicher Interessen mit dem Mythos fasziniert. Es waren schließlich die Gewässer, auf denen auch Odysseus herumirrte. Das fischschwänzige Wesen mit den spitzen Zähnen ließe sich als Chiffre für die tiefe Sehnsucht nach dem versunkenen Fürstengeschlecht und einem vorbürgerlichen Zeitalter begreifen. Dass der Fürst Zeit seines Lebens mit seiner besitzergreifenden Mutter unter einem Dach lebte und seine psychoanalytisch bewanderte Ehefrau erst nach deren Tod beständig in Palermo Quartier nehmen durfte, mag seine Deutung von der Macht der Frauen zusätzlich befeuert haben. Giuseppe Tomasi di Lampedusa starb, bevor sein Roman veröffentlicht und zu einem internationalen literarischen Ereignis wurde. Vielleicht traf er auf dem Grund des Meeres eine Sirene.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Die Sirene. Erzählungen. Herausgegeben von Nicoletta Polo. Mit Einführungen und Erläuterungen von Gioacchino Lanza Tomasi. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Piper Verlag, München und Berlin 2017. 288 Seiten, 24 Euro.
Nach Jahrzehnten des
Müßiggangs begann der Fürst
mit 59 Jahren zu schreiben
Die Überlagerung von Mythos
und geheimdienstlichen
Interessen faszinierte den Autor
Schreibend erkundete der Autor die eigene Vergangenheit: rechts Giuseppe Tomasi di Lampedusa als junger Mann, links mit 54 Jahren. In der Mitte das Wappen des Familienanwesens Santa Margherita.
Foto: dpa/Mauritius/Imago
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Mit seinem Roman „Der Leopard“ wurde Giuseppe Tomasi di Lampedusa posthum berühmt.
Nun sind Erzählungen und Kindheitserinnerungen in einer neuen Übersetzung erschienen – Beschwörungen des Glücks und der Einsamkeit
VON MAIKE ALBATH
Natürlich ist eine Meerjungfrau die einzig würdige Gefährtin für einen wahren Sizilianer. Nur ein mythisches Wesen, halb Mensch, halb Tier, ausgestattet mit einer animalischen Weiblichkeit, kann es mit einem Mann wie Rosario La Ciura aufnehmen, Hellenist und Kenner der Antike, aus Catania gebürtig, Lehrstuhlinhaber in Turin, Ehrendoktor aller großen Universitäten zwischen Salamanca und Uppsala, Hesiod-Übersetzer. La Ciura verfällt dieser verwirrenden Frauengestalt als junger Mann – von nun an ist er für alles Gewöhnliche verloren.
Das Liebesabenteuer mit einer Meerjungfrau bildet den heißen Kern der Erzählung „Die Sirene“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa; sie ist neben dem Roman „Der Leopard“ von 1958 seine schönste Prosaarbeit und gibt einem Band mit kürzeren Texten aus dem Nachlass seinen Titel. Von dem Adoptivsohn des Fürsten und entfernten Cousin Gioacchino Lanza Tomasi durch Einführungen und Erläuterungen zur Werkgeschichte, einer Genealogie der Familie und einem Anmerkungsapparat ergänzt, enthält das Buch außerdem zwei Erzählungen sowie Kindheitserinnerungen.
Nach dem Welterfolg des „Leoparden“, der posthum erschien, hatte der Piper Verlag diese Texte bereits 1961 herausgebracht. Die von Moshe Kahn glänzend bewerkstelligte Neuübersetzung war nicht nur wegen der in die Jahre gekommenen Übertragung von Charlotte Birnbaum notwendig geworden, sondern wegen einiger Korrekturen, die sich aus später aufgefundenen Urfassungen ableiten ließen.
Tomasi di Lampedusas Witwe, die baltische Baronesse und Psychoanalytikerin Licy Wolff Stomersee, hatte bis zu ihrem Tod 1982 über das Erbe ihres Gatten gewacht und aus Scheu vor Angehörigen vor allem in den Erinnerungen herumgestrichen. Bisher nicht auf Deutsch greifbar waren die Begleittexte Lanza Tomasis. Sein mehr als dreißigseitiger Anmerkungsapparat fächert die historischen Hintergründe auf und ist ein großer Gewinn.
1955 war der Fürst auf den Geschmack gekommen: Nach Jahrzehnten des Müßiggangs, nur kurzzeitig unterbrochen vom Vorsitz des sizilianischen Roten Kreuzes in der Nachkriegszeit, hatte der sehr belesene und gelehrsame Tomasi di Lampedusa mit 59 Jahren seine Berufung gefunden. Er steckte mitten in der Arbeit an seinem Roman über den Epochenbruch nach der italienischen Einigung von 1861 und bemerkte auf einmal, wie groß sein Vergnügen am Erzählen war. Der eher einschläfernde Alltag in Palermo, den er sich bis dahin mit ausgedehnten Kaffeehausbesuchen, Abstechern in die Buchhandlung und den ortsansässigen Klub, gelegentlichen Zusammenkünften mit Lanza, privaten Vorlesungen über Literatur und Opernbesuchen vertrieben hatte, bekam plötzlich eine neue Tiefenschärfe.
Die Entdeckung seiner Kreativität muss etwas Berauschendes gehabt haben – es gab so vieles, das es wert war, aufgeschrieben zu werden. Schließlich war er der letzte Nachkomme einer langen Ahnenreihe. Wem, wenn nicht ihm, stand es zu, sich zu erinnern? Aus diesem Impuls heraus entstanden parallel zum „Leoparden“ die Kindheitserinnerungen. Die Detailgenauigkeit des Erzählers ist ehrfurchterregend und umfasst die Stuckaturen, die Frisierkommode der Mutter, den gelben Damast der Armstühle und die Intarsien in den Vertäfelungen aus Nussbaumholz im Salon ebenso wie die blätterteigartige Kruste eines Maccaroni-Auflaufs. Mehr als Erinnerungen sind es Beschwörungen, inspiriert von Stendhals „Leben des Henry Brulard“. Dass Tomasi die Orte seiner Kindheit so emphatisch zelebriert, hängt aber auch mit ihrem Verlust zusammen: Der Palazzo Lampedusa war von einer Bombe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt, der Palazzo von Santa Margherita, Familiensitz seiner Tante und alljährliche Sommerfrische, verkauft worden. Die Beschreibungen, die auch die mühselige Reise nach Santa Margherita umfassen, sind vor allem für Kenner des „Leoparden“ eine Fundgrube. Es ist so, als besuche man den Fundus eines Opernhauses und wanderte in Kulissen umher: Man trifft auf die Schauplätze des Romans und kann sich erklären, aus welchen Quellen sich die Schilderungen speisten.
Die Realien waren verloren, aber Tomasi di Lampedusa entdeckte die Imagination als adäquaten Ausgleich. In der kurzen Zeit, die ihm blieb, verfolgte er ein regelrechtes Erinnerungsprojekt. Dabei spiegelte er sich in Don Fabrizio aus dem „Leoparden“: „Der letzte Salina war er, der zerzauste Riese, der jetzt auf dem Balkon eines Hotels mit dem Tode rang“, ließ er dort den Fürsten sagen. „Denn die Bedeutung eines Adelsgeschlechts beruht voll und ganz auf der Tradition, auf den lebenswichtigen Erinnerungen, er war der letzte, der ungewöhnliche Erinnerungen besaß.“ Ungewöhnlich, das hieß: keine bürgerlichen. Obwohl Tomasi di Lampedusa 1956 die Ablehnung seines Manuskripts durch den Verlag Mondadori hinnehmen musste, arbeitete er weiter, ausgerechnet er, dem es trotz großer Armut nie in den Sinn gekommen war, einem Brotberuf nachzugehen. „Die Freude und das Gesetz“ ist eine Geschichte über die sizilianische Auffassung von Ehre und Anstand, die einen kleinen Angestellten in tiefe Nöte stürzt. Diese zarte, aber konventionelle Geschichte steht der Erzählung „Die blinden Kätzchen“ über die neuen Emporkömmlinge zur Seite. Hier geht es schon mehr zur Sache, denn Ibba ist ähnlich wie Don Calogero, der Gutsverwalter im „Leoparden“, ein Prototyp des Mafioso. Der sizilianische Adel veräußert schicksalsergeben seine Besitztümer und verstärkt die Macht dieser Männer durch märchenhafte Übertreibungen auch noch. Aber am originellsten ist tatsächlich die Titelgeschichte, weil hier das archaische Erbe der Insel und die Moderne in eine eigentümliche Spannung geraten. Allein der Kontrast zwischen den Schauplätzen – das düstere Turin im Winter 1938 mit seinen Arkaden und die gleißend helle, sommerliche Küste Siziliens um 1880 – erzeugt ein Flirren. Der Erzähler Paolo Corbera di Salina, Journalist und wie sein Name verrät, ein Nachkomme des Fürsten von Salina aus dem „Leoparden“, ist von einer ähnlichen Hybris den Normalsterblichen gegenüber durchdrungen. In einem Café auf der Turiner Via Po schließt er Freundschaft mit dem berühmten sizilianischen Gelehrten La Ciura, der sich über Corberas lächerliche Liebschaften mokiert. Eines Nachts vertraut ihm der ruppige alte Herr sein Geheimnis an. Als junger Mann war er mehrere Wochen lang der Geliebte einer Sirene. Wie in seinen antiken Quellen erlebte er das Meer als einen Hort göttlicher Vitalität. Eine Spur davon findet er Jahrzehnte später, wenn er Seeigel verspeist, eine Spezialität, die er auch seinem Gast serviert. Er habe in jenem Sommer Jahrhunderte gelebt. „Dieses laszive Mädchen, diese kleine Bestie“ habe mit blutigen Fingern sämtliche Metaphysik zerstört und aus ihm einen Asketen des Lebens gemacht.
Kurze Zeit nach dem Bekenntnis nimmt der Gelehrte von Genua aus eine Fähre nach Neapel. Er stürzt vom Deck ins Meer, sein Leichnam bleibt unauffindbar. Es ist kein Zufall, dass Tomasi die Bekanntschaft der beiden Exilsizilianer genau datiert: 1938 ist auch das Jahr, in dem der sizilianische Atomphysiker Ettore Majorana dieselbe Reise antrat und nie am Zielort eintraf. Der Schriftsteller war von der Überlagerung politischer, vermutlich geheimdienstlicher Interessen mit dem Mythos fasziniert. Es waren schließlich die Gewässer, auf denen auch Odysseus herumirrte. Das fischschwänzige Wesen mit den spitzen Zähnen ließe sich als Chiffre für die tiefe Sehnsucht nach dem versunkenen Fürstengeschlecht und einem vorbürgerlichen Zeitalter begreifen. Dass der Fürst Zeit seines Lebens mit seiner besitzergreifenden Mutter unter einem Dach lebte und seine psychoanalytisch bewanderte Ehefrau erst nach deren Tod beständig in Palermo Quartier nehmen durfte, mag seine Deutung von der Macht der Frauen zusätzlich befeuert haben. Giuseppe Tomasi di Lampedusa starb, bevor sein Roman veröffentlicht und zu einem internationalen literarischen Ereignis wurde. Vielleicht traf er auf dem Grund des Meeres eine Sirene.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Die Sirene. Erzählungen. Herausgegeben von Nicoletta Polo. Mit Einführungen und Erläuterungen von Gioacchino Lanza Tomasi. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Piper Verlag, München und Berlin 2017. 288 Seiten, 24 Euro.
Nach Jahrzehnten des
Müßiggangs begann der Fürst
mit 59 Jahren zu schreiben
Die Überlagerung von Mythos
und geheimdienstlichen
Interessen faszinierte den Autor
Schreibend erkundete der Autor die eigene Vergangenheit: rechts Giuseppe Tomasi di Lampedusa als junger Mann, links mit 54 Jahren. In der Mitte das Wappen des Familienanwesens Santa Margherita.
Foto: dpa/Mauritius/Imago
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»Lampedusa erweist sein Können und bestätigt, dass er zu Recht zu den bedeutendsten italienischen Autoren des 20. Jahrhunderts gezählt wird.«, Italien Magazin