Stockholm, November 1956, das Jahr, in dem Truppen des Warschauer Pakts den Aufstand in Ungarn niederschlagen und westliche Truppen den Suezkanal besetzen: Einen Tag lang folgt Peter Weiss in diesem Roman Schriftstellern, Schauspielern, Malern und Journalisten bei ihrem Bemühen, angesichts des Weltgeschehens Stellung zu beziehen, die allgemeine, die künstlerische und die private Situation zu bestimmen. Peter Weiss macht sich wie in kaum einem anderen seiner Prosawerke die Perspektive ganz unterschiedlicher Menschen zu eigen. Unverkennbar sind dem Roman Züge aus dem Leben des seit 1940 in Stockholm arbeitenden Autors eingeschrieben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2000Der Fürst der Raupen
Peter Weiss vor der Verpuppung · Von Thomas Steinfeld
Am Anfang war das Zuhören. Stundenlang soll Peter Weiss mit mürrischem, verschlossenen Gesicht aus dem Fenster geschaut haben, während sich seine Kollegen und Freunde in heiße Diskussionen verstrickten. Er muß ein erstaunliches Gedächtnis gehabt haben: Tage, Wochen, Monate später konnte er das wirre Gerede, vom ersten bis zum letzten Satz, wortgetreu wiedergeben. "Es gibt Maler, die Äpfel malen, es gibt Maler, die hinausgehen und die Schleuse malen, es gibt Maler, die nur die Farbflächen zusammenstellen, abstrakte Formen", heißt es bei Peter Weiss, "aber eines haben sie alle gemeinsam, sie wollen eine Synthese erzielen, sie wollen ein Erlebnis im Konzentrat ausdrücken." Man muß diesen Satz nur einem der Menschen vorlesen, die Peter Weiss in den fünfziger Jahren gut kannten. "So redete Carlo Derkert", lautet der prompte Kommentar. Der Stockholmer Kunsthistoriker und Museumsführer Carlo Derkert, ein stadtbekannter Schwerenöter und Redekünstler, war in den fünfziger Jahren der engste Freund von Peter Weiss.
In diesem Sommer ist "Die Situation" veröffentlicht worden, ein Roman, den Peter Weiss im Herbst 1956 geschrieben hatte. Das Buch war sein letzter Versuch, zu einem schwedischen Schriftsteller zu werden. Das Manuskript, sauber getippt und nur hin und wieder mit orthographischen Korrekturen versehen, wurde von den großen schwedischen Verlagen abgelehnt und verschwand unter den Papieren des Schriftstellers. Verloren war es nie, vergessen vielleicht. Aus dem Nachlaß hervorgeholt wurde es zum fünfzigjährigen Jubiläum des Suhrkamp Verlags, der es als Entdeckung in sein Festprogramm eingereiht hat. Und um es gleich zu sagen: Schon lange bevor man den Roman nach dem Lesen zuklappt, hat man den schwedischen Lektor verstanden, der das Manuskript mit der Begründung zurückgeschickt hatte, dies sei "eher ein Rohmaterial als ein endgültig bearbeitetes Buch".
Wer hingegen etwas über den frühen Peter Weiss erfahren möchte, wer wissen will, auf welchem weichen, glibbrigen Grund die 1961 erschienene Erzählung "Abschied von den Eltern", der ein Jahr später veröffentlichte Roman "Fluchtpunkt" und vor allem das Hauptwerk, die Wunschbiographie "Ästhetik des Widerstands" von 1975, ruhen - der sollte dieses Buch lesen. Und sich wappnen: Denn dieser Roman ist wie eine große, häßliche, stinkende Raupe, ja wie ein ganzer Haufen von diesen kleinen unangenehmen Tieren, und sie kriechen wild durcheinander. Noch ist nicht sicher, ob sie sich verpuppen werden, noch ahnt man nicht, was daraus eines späteren Tages entstehen wird, noch erkennt man keinen Schmetterling unter der grünen, haarigen Hülle. Der Roman "Die Situation" ist ein heilloses Buch, und erst im nachhinein erschließt sich, daß dieses Buch auch ein Wendepunkt war.
Eine Nacht, ein Tag und wieder eine Nacht werden in diesem Roman erzählt, eineinhalb Tage im Leben einer Clique von Künstlern und Künstlerpaaren. Ein Reigen zieht sich durch die Geschichte, aufgelöst in lauter kleine Novellen, bei denen der Leser selten erfährt, wo die eine anfängt und die andere aufhört, die mit wechselnden Stimmen ineinandergeschoben sind, so als solle auf zweihundertfünfzig Seiten der ganze formale Apparat der literarischen Moderne in Schwingung gebracht werden.
Da ist Leo, der Maler mit den schütteren roten Haaren und den gelben Fingern, die Hauptfigur des Buches. Da ist seine faltige, ausgemergelte Frau Agate mit der Tochter Christin. Fanny, eine scheiternde Schriftstellerin, kreuzt sein Sofa. Ihr Vater Victor hütet die Erinnerung an Hermann Hesse, Montagnola und die vergebliche Erinnerung an die Welt vor dem Krieg. Ein "Ossian", hinter dem man bald Öyvind Fahlström vermutet, bastelt seit fünfzehn Jahren an einem enzyklopädischen Kunstwerk. Der Regisseur und Tagebuchautor Paul wandert mit einem schlechten Gewissen durch die Stadt, seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Thel, überlegt, ob sie ihn mit dem Publizisten und Weltreisenden Jean betrügen möchte, der seinerseits die versammelte Teegesellschaft für ein neues, lebensnahes Theater begeistern will.
Es geht zu wie bei Simone de Beauvoir und den Mandarinen von Paris - nur daß diese schäbigen Fürsten keinen Hofstaat haben, keine Resonanz und kein Geld, daß sie in einer abgelegenen Ecke der Welt herumwirtschaften und ihnen nichts einfällt, was sich nicht mit ihnen selbst beschäftigen würde. Peter Weiss suggeriert die Mitgliedschaft seiner Figuren in der ästhetischen Internationale der fünfziger Jahre, mit einer direkten Zugverbindung nach Paris und gelegentlichen Besuchen aus New York. Bald aber geschieht, was geschehen muß: Das Spiel mit der Selbstbespiegelung, das ständige Fragen nach der Bedeutung der Kunst für das einzelne Leben, beginnt, jedes festen Inhalts beraubt, sich in sich selbst zu drehen, erst langsam und dann immer schneller.
Am Ende rast der Reigen. Eine ganze Reihe von neue Figuren tritt hinzu, Gestalten wie "Ka", "Be", "Karin", Maud", "Mirjam" und "Sun". Nun kreiselt das Buch mit hoher Geschwindigkeit zu Boden, und der Sturz kann auch vom Erzähler nicht mehr aufgehalten werden, der auf den letzten Seiten seinem Werk erläuternd beispringt, vermutlich längst wissend, daß diese Sache verloren ist: "Ich habe versucht, die Bewegung einiger Menschen zu registrieren, habe versucht, ein Bild ihrer Lage zu geben. Ich habe keine Perspektive gefunden, die zu einer Lösung führen kann, ich habe nicht einmal einen Überblick erreicht." Und dann endet das Buch, mit einem sonderbaren Einfall, der seine Herkunft aus dem Geiste Arthur Schnitzlers nicht verbirgt: Die letzten drei Seiten sind dem parallelen, wieder in geordneten Bahnen verlaufenden Beischlaf der in diesem Buch auftretenden Paare gewidmet.
"Ich bin vierzig Jahre. Ich habe noch nicht begonnen", läßt Peter Weiss einen Mann names Knut sagen, einen Ingenieur, den es plötzlich auf die Straße und unter die Landstreicher treibt. "Überall Gehirne, Herzen in Betriebsamkeit", erläutert eine andere Gestalt. Dies ist ein Buch der großen Fragen und der noch größeren Antworten, und am Ende verpuffen, wie stets in solchen Fällen, die gewaltigen Schwierigkeiten mit dem Sinn und lassen nichts zurück als einen kleinen Kater und die vage Reue, wieder einmal viel zu viel geredet zu haben. "Eins ums andere Mal fliehe ich in das Metaphysische. Ich sollte mich disziplinieren", meint Paul der Regisseur, und damit spricht er auch für die anderen Figuren dieses Reigens. Seltsam, wie pubertär, wie in sich versponnen und unfertig einem heute dieser Kreis von Vierzigjährigen vorkommt, deren Welt nur aus Kunst besteht - oder besser: aus der Reflexion auf sich als Künstler, als Mittelpunkt eines Universums, in dem es eigentlich nur um den persönlichen Ausdruck geht.
Peter Weiss hatte zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buches siebzehn Jahre in Schweden gelebt. Das ist eine lange Zeit, und dennoch ist es erstaunlich, mit welchem lexikalischen Reichtum und welcher Exaktheit er in der fremden Sprache formuliert. Gewiß, hin und wieder unterlaufen ihm Formulierungen, die nicht mehr idiomatisch ist - im Schwedischen kann man noch weniger als im Deutschen von "querulatorischen Zügen" eines Menschen reden, und man kann auch nicht sagen, man strecke seine Arme wie "Tentakel in einen Ameisenhaufen" sprechen. Und doch ist von der ersten bis zur letzten Zeile zu bemerken, daß hier jemand mit allem Ernst und aller Konsequenz die Sprache wechseln will. Wenn die Sprache gelegentlich verunglückt, dann liegt das nicht an der Übersetzung, sondern am Willen zur Überwältigung des Lesers. Der furchtbare Satz: "Seine vielfachen Augen bedrängten sie mit desparaten Forderungen" ist von Wiebke Andersen völlig richtig übertragen worden. Und wenn von Leos Frau Agate die Rede ist, von "ihren hohlen Wangen, ihren tiefliegenden gequälten Augen, ihren hervorstechenden Rippen, leeren hängenden Brüsten und scharfen Hüftkanten", dann steht das auch auf schwedisch genauso da. Die vielen Raupen verdanken sich dem Bedürfnis des Schriftstellers, seinem Leser die Luft zur Gegenwehr zu nehmen.
Die "Situation" ist ein Roman der fünfziger Jahre. Zu dieser Zeit gehört auch die Leidenschaft für den Ekel. Peter Weiss schwelgt in verklebten Hautfalten, in entzündeten Poren und schleimbedeckten Körperteilen, in der Beschreibung von menschlichen Ausscheidungen und ihren Organen. Dieser Ekel ist Teil eines großangelegten Versuches, das Anliegen dieses Buches, eben den Genuß des Affektes, tief in Gefühlen zu verwurzeln. Der Ekel gewinnt eine unmittelbare Gewalt über die physische Existenz. Und seinetwillen hat der Autor in diesem Buch so viele Geschlechtsakte beschrieben - und weil er noch zu glauben scheint, in der Sexualität sei Erlösung zu finden.
Und so ist dieses Buch ist ein Teil des Problems, das es beschreibt. Peter Weiss tritt in all seinen Figuren auf, sie sprechen alle von ihm, und eine jede greift vor auf das, was erst einige Jahre später entstehen sollte. Die Haltlosigkeit des einzelnen Menschen, die Ästhetik des Widerstands, die Hilflosigkeit des Theaters, das Dilemma des bürgerlichen Kindes, das Versinken des Malers im eigenen Wer, der Traum von einer vollkommenen, nicht subjektiven Kunst, die Verehrung von Kunst auf der einen Seite, das Ideal der Kunstlosigkeit auf der anderen - die Themen aus den großen Werken von Peter Weiss sind hier schon versammelt. Aber an der Stelle, an der sich später die Politik befinden wird, steht hier noch die Sexualität, und wo der Autor später in seinen Erzählungen diffundiert, wird hier noch eigensinnig und unerbittlich die hilflose Forderung gestellt: Sag mir, wer ich bin. Erst später gelingt Peter Weiss das Kunststück, "ich" zu sagen und doch nicht "ich" zu sein. In diesem Roman besitzt Peter Weiss noch keine Freiheit gegenüber seinem Gegenstand. Es steckt etwas von Jean-Jacques Rousseaus rücksichtlosen "Bekenntnissen" darin.
Die Übersetzerin und der Verlag erklären dieses Buch zu einer Antwort auf die politischen Umbrüche des Jahres 1956, auf die Suez-Krise und die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn. Aber diese Auskunft führt in die Irre. "Die Situation" ist ein Roman, der nicht über die Zeit hinauskommt, sondern um so tiefer in die Zeit seiner Entstehung zurücksinkt, je sorgfältiger man es liest. Und dazu gehört, daß sich niemand in diesem Buch um die Rettung der Welt verdient machen will.
Peter Weiss: "Die Situation". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wiebke Andersen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 260 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Weiss vor der Verpuppung · Von Thomas Steinfeld
Am Anfang war das Zuhören. Stundenlang soll Peter Weiss mit mürrischem, verschlossenen Gesicht aus dem Fenster geschaut haben, während sich seine Kollegen und Freunde in heiße Diskussionen verstrickten. Er muß ein erstaunliches Gedächtnis gehabt haben: Tage, Wochen, Monate später konnte er das wirre Gerede, vom ersten bis zum letzten Satz, wortgetreu wiedergeben. "Es gibt Maler, die Äpfel malen, es gibt Maler, die hinausgehen und die Schleuse malen, es gibt Maler, die nur die Farbflächen zusammenstellen, abstrakte Formen", heißt es bei Peter Weiss, "aber eines haben sie alle gemeinsam, sie wollen eine Synthese erzielen, sie wollen ein Erlebnis im Konzentrat ausdrücken." Man muß diesen Satz nur einem der Menschen vorlesen, die Peter Weiss in den fünfziger Jahren gut kannten. "So redete Carlo Derkert", lautet der prompte Kommentar. Der Stockholmer Kunsthistoriker und Museumsführer Carlo Derkert, ein stadtbekannter Schwerenöter und Redekünstler, war in den fünfziger Jahren der engste Freund von Peter Weiss.
In diesem Sommer ist "Die Situation" veröffentlicht worden, ein Roman, den Peter Weiss im Herbst 1956 geschrieben hatte. Das Buch war sein letzter Versuch, zu einem schwedischen Schriftsteller zu werden. Das Manuskript, sauber getippt und nur hin und wieder mit orthographischen Korrekturen versehen, wurde von den großen schwedischen Verlagen abgelehnt und verschwand unter den Papieren des Schriftstellers. Verloren war es nie, vergessen vielleicht. Aus dem Nachlaß hervorgeholt wurde es zum fünfzigjährigen Jubiläum des Suhrkamp Verlags, der es als Entdeckung in sein Festprogramm eingereiht hat. Und um es gleich zu sagen: Schon lange bevor man den Roman nach dem Lesen zuklappt, hat man den schwedischen Lektor verstanden, der das Manuskript mit der Begründung zurückgeschickt hatte, dies sei "eher ein Rohmaterial als ein endgültig bearbeitetes Buch".
Wer hingegen etwas über den frühen Peter Weiss erfahren möchte, wer wissen will, auf welchem weichen, glibbrigen Grund die 1961 erschienene Erzählung "Abschied von den Eltern", der ein Jahr später veröffentlichte Roman "Fluchtpunkt" und vor allem das Hauptwerk, die Wunschbiographie "Ästhetik des Widerstands" von 1975, ruhen - der sollte dieses Buch lesen. Und sich wappnen: Denn dieser Roman ist wie eine große, häßliche, stinkende Raupe, ja wie ein ganzer Haufen von diesen kleinen unangenehmen Tieren, und sie kriechen wild durcheinander. Noch ist nicht sicher, ob sie sich verpuppen werden, noch ahnt man nicht, was daraus eines späteren Tages entstehen wird, noch erkennt man keinen Schmetterling unter der grünen, haarigen Hülle. Der Roman "Die Situation" ist ein heilloses Buch, und erst im nachhinein erschließt sich, daß dieses Buch auch ein Wendepunkt war.
Eine Nacht, ein Tag und wieder eine Nacht werden in diesem Roman erzählt, eineinhalb Tage im Leben einer Clique von Künstlern und Künstlerpaaren. Ein Reigen zieht sich durch die Geschichte, aufgelöst in lauter kleine Novellen, bei denen der Leser selten erfährt, wo die eine anfängt und die andere aufhört, die mit wechselnden Stimmen ineinandergeschoben sind, so als solle auf zweihundertfünfzig Seiten der ganze formale Apparat der literarischen Moderne in Schwingung gebracht werden.
Da ist Leo, der Maler mit den schütteren roten Haaren und den gelben Fingern, die Hauptfigur des Buches. Da ist seine faltige, ausgemergelte Frau Agate mit der Tochter Christin. Fanny, eine scheiternde Schriftstellerin, kreuzt sein Sofa. Ihr Vater Victor hütet die Erinnerung an Hermann Hesse, Montagnola und die vergebliche Erinnerung an die Welt vor dem Krieg. Ein "Ossian", hinter dem man bald Öyvind Fahlström vermutet, bastelt seit fünfzehn Jahren an einem enzyklopädischen Kunstwerk. Der Regisseur und Tagebuchautor Paul wandert mit einem schlechten Gewissen durch die Stadt, seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Thel, überlegt, ob sie ihn mit dem Publizisten und Weltreisenden Jean betrügen möchte, der seinerseits die versammelte Teegesellschaft für ein neues, lebensnahes Theater begeistern will.
Es geht zu wie bei Simone de Beauvoir und den Mandarinen von Paris - nur daß diese schäbigen Fürsten keinen Hofstaat haben, keine Resonanz und kein Geld, daß sie in einer abgelegenen Ecke der Welt herumwirtschaften und ihnen nichts einfällt, was sich nicht mit ihnen selbst beschäftigen würde. Peter Weiss suggeriert die Mitgliedschaft seiner Figuren in der ästhetischen Internationale der fünfziger Jahre, mit einer direkten Zugverbindung nach Paris und gelegentlichen Besuchen aus New York. Bald aber geschieht, was geschehen muß: Das Spiel mit der Selbstbespiegelung, das ständige Fragen nach der Bedeutung der Kunst für das einzelne Leben, beginnt, jedes festen Inhalts beraubt, sich in sich selbst zu drehen, erst langsam und dann immer schneller.
Am Ende rast der Reigen. Eine ganze Reihe von neue Figuren tritt hinzu, Gestalten wie "Ka", "Be", "Karin", Maud", "Mirjam" und "Sun". Nun kreiselt das Buch mit hoher Geschwindigkeit zu Boden, und der Sturz kann auch vom Erzähler nicht mehr aufgehalten werden, der auf den letzten Seiten seinem Werk erläuternd beispringt, vermutlich längst wissend, daß diese Sache verloren ist: "Ich habe versucht, die Bewegung einiger Menschen zu registrieren, habe versucht, ein Bild ihrer Lage zu geben. Ich habe keine Perspektive gefunden, die zu einer Lösung führen kann, ich habe nicht einmal einen Überblick erreicht." Und dann endet das Buch, mit einem sonderbaren Einfall, der seine Herkunft aus dem Geiste Arthur Schnitzlers nicht verbirgt: Die letzten drei Seiten sind dem parallelen, wieder in geordneten Bahnen verlaufenden Beischlaf der in diesem Buch auftretenden Paare gewidmet.
"Ich bin vierzig Jahre. Ich habe noch nicht begonnen", läßt Peter Weiss einen Mann names Knut sagen, einen Ingenieur, den es plötzlich auf die Straße und unter die Landstreicher treibt. "Überall Gehirne, Herzen in Betriebsamkeit", erläutert eine andere Gestalt. Dies ist ein Buch der großen Fragen und der noch größeren Antworten, und am Ende verpuffen, wie stets in solchen Fällen, die gewaltigen Schwierigkeiten mit dem Sinn und lassen nichts zurück als einen kleinen Kater und die vage Reue, wieder einmal viel zu viel geredet zu haben. "Eins ums andere Mal fliehe ich in das Metaphysische. Ich sollte mich disziplinieren", meint Paul der Regisseur, und damit spricht er auch für die anderen Figuren dieses Reigens. Seltsam, wie pubertär, wie in sich versponnen und unfertig einem heute dieser Kreis von Vierzigjährigen vorkommt, deren Welt nur aus Kunst besteht - oder besser: aus der Reflexion auf sich als Künstler, als Mittelpunkt eines Universums, in dem es eigentlich nur um den persönlichen Ausdruck geht.
Peter Weiss hatte zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buches siebzehn Jahre in Schweden gelebt. Das ist eine lange Zeit, und dennoch ist es erstaunlich, mit welchem lexikalischen Reichtum und welcher Exaktheit er in der fremden Sprache formuliert. Gewiß, hin und wieder unterlaufen ihm Formulierungen, die nicht mehr idiomatisch ist - im Schwedischen kann man noch weniger als im Deutschen von "querulatorischen Zügen" eines Menschen reden, und man kann auch nicht sagen, man strecke seine Arme wie "Tentakel in einen Ameisenhaufen" sprechen. Und doch ist von der ersten bis zur letzten Zeile zu bemerken, daß hier jemand mit allem Ernst und aller Konsequenz die Sprache wechseln will. Wenn die Sprache gelegentlich verunglückt, dann liegt das nicht an der Übersetzung, sondern am Willen zur Überwältigung des Lesers. Der furchtbare Satz: "Seine vielfachen Augen bedrängten sie mit desparaten Forderungen" ist von Wiebke Andersen völlig richtig übertragen worden. Und wenn von Leos Frau Agate die Rede ist, von "ihren hohlen Wangen, ihren tiefliegenden gequälten Augen, ihren hervorstechenden Rippen, leeren hängenden Brüsten und scharfen Hüftkanten", dann steht das auch auf schwedisch genauso da. Die vielen Raupen verdanken sich dem Bedürfnis des Schriftstellers, seinem Leser die Luft zur Gegenwehr zu nehmen.
Die "Situation" ist ein Roman der fünfziger Jahre. Zu dieser Zeit gehört auch die Leidenschaft für den Ekel. Peter Weiss schwelgt in verklebten Hautfalten, in entzündeten Poren und schleimbedeckten Körperteilen, in der Beschreibung von menschlichen Ausscheidungen und ihren Organen. Dieser Ekel ist Teil eines großangelegten Versuches, das Anliegen dieses Buches, eben den Genuß des Affektes, tief in Gefühlen zu verwurzeln. Der Ekel gewinnt eine unmittelbare Gewalt über die physische Existenz. Und seinetwillen hat der Autor in diesem Buch so viele Geschlechtsakte beschrieben - und weil er noch zu glauben scheint, in der Sexualität sei Erlösung zu finden.
Und so ist dieses Buch ist ein Teil des Problems, das es beschreibt. Peter Weiss tritt in all seinen Figuren auf, sie sprechen alle von ihm, und eine jede greift vor auf das, was erst einige Jahre später entstehen sollte. Die Haltlosigkeit des einzelnen Menschen, die Ästhetik des Widerstands, die Hilflosigkeit des Theaters, das Dilemma des bürgerlichen Kindes, das Versinken des Malers im eigenen Wer, der Traum von einer vollkommenen, nicht subjektiven Kunst, die Verehrung von Kunst auf der einen Seite, das Ideal der Kunstlosigkeit auf der anderen - die Themen aus den großen Werken von Peter Weiss sind hier schon versammelt. Aber an der Stelle, an der sich später die Politik befinden wird, steht hier noch die Sexualität, und wo der Autor später in seinen Erzählungen diffundiert, wird hier noch eigensinnig und unerbittlich die hilflose Forderung gestellt: Sag mir, wer ich bin. Erst später gelingt Peter Weiss das Kunststück, "ich" zu sagen und doch nicht "ich" zu sein. In diesem Roman besitzt Peter Weiss noch keine Freiheit gegenüber seinem Gegenstand. Es steckt etwas von Jean-Jacques Rousseaus rücksichtlosen "Bekenntnissen" darin.
Die Übersetzerin und der Verlag erklären dieses Buch zu einer Antwort auf die politischen Umbrüche des Jahres 1956, auf die Suez-Krise und die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn. Aber diese Auskunft führt in die Irre. "Die Situation" ist ein Roman, der nicht über die Zeit hinauskommt, sondern um so tiefer in die Zeit seiner Entstehung zurücksinkt, je sorgfältiger man es liest. Und dazu gehört, daß sich niemand in diesem Buch um die Rettung der Welt verdient machen will.
Peter Weiss: "Die Situation". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wiebke Andersen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 260 S., geb., 38,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sabine Peters vermutet, dass Bücher dieser Art heute "vielleicht gar nicht geschrieben werden können". Denn hier geht es, wie der Leser erfährt, nicht um Spielereien mit der Identität (dafür ist es viel zu ernst), sondern um das zähe, quälende Ringen darum. Immer wieder kämpfen die Protagonisten um die Bedeutung und den Sinn von Leben und Kunst. Dabei zeigt sich Weiss selbst, wie Peters anmerkt, bisweilen undistanziert, jedoch in keiner Weise spöttisch. Auch Unsicherheit diagnostiziert die Rezensentin bei Weiss - sei es in stilistischer Hinsicht, was er ihrer Ansicht nach dadurch kreativ in Bahnen lenkt, als dass er die verschiedenen Haltungen auf die Personen überträgt. Oder sei es dadurch, dass es selbst keine Antworten für die "aufgeworfenen Fragen" parat hat. In mancher Hinsicht hält sie das frühe Buch des Autors jedoch bereits für typisch für spätere Werke. So kann sie bereits zahlreiche Motive erkennen, die Weiss später wieder aufgreift. Und auch der Wechsel eines "mäandrierenden, dann wieder springenden Schreibflusses" zeigt sich ihrer Ansicht nach bereits in diesem Buch. Kritisieren würde sie lediglich den spürbaren "angstgeschüttelten Hass auf Frauen" und die Überladenheit des Romans.
© Perlentaucher Medien GmbH
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