Leyla ist die Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden... Das ergreifende Debüt der Gewinnerin des Publikumspreises des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (2019) über das Dasein zwischen zwei Welten
Das Dorf liegt in Nordsyrien, nahe zur Türkei. Jeden Sommer verbringt Leyla dort. Sie riecht und schmeckt es. Sie kennt seine Geschichten. Sie weiß, wo die Koffer versteckt sind, wenn die Bewohner wieder fliehen müssen. Leyla ist Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden. Sie sitzt in ihrem Gymnasium bei München, und in allen Sommerferien auf dem Erdboden im jesidischen Dorf ihrer Großeltern. Im Internet sieht sie das von Assad vernichtete Aleppo, die Ermordung der Jesiden durch den IS, und gleich daneben die unbekümmerten Fotos ihrer deutschen Freunde. Leyla wird eine Entscheidung treffen müssen. Ronya Othmanns Debütroman ist voller Zärtlichkeit und Wut über eine zerrissene Welt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Das Dorf liegt in Nordsyrien, nahe zur Türkei. Jeden Sommer verbringt Leyla dort. Sie riecht und schmeckt es. Sie kennt seine Geschichten. Sie weiß, wo die Koffer versteckt sind, wenn die Bewohner wieder fliehen müssen. Leyla ist Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden. Sie sitzt in ihrem Gymnasium bei München, und in allen Sommerferien auf dem Erdboden im jesidischen Dorf ihrer Großeltern. Im Internet sieht sie das von Assad vernichtete Aleppo, die Ermordung der Jesiden durch den IS, und gleich daneben die unbekümmerten Fotos ihrer deutschen Freunde. Leyla wird eine Entscheidung treffen müssen. Ronya Othmanns Debütroman ist voller Zärtlichkeit und Wut über eine zerrissene Welt.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Julia Encke hat der Debütroman von Ronya Othmann stark beeindruckt: Souverän und mit einer kunstvollen Sprache tastet sich die Autorin laut Kritikerin mit der Geschichte von Leyla, deren Vater als Jeside aus Syrien fliehen musste, zum Kern der Zerrissenheit vor, die die Kinder von Migranten empfinden, die in Deutschland nicht sofort zugeordnet werden können. Zusammen mit Leyla ist Encke bewusst geworden, wie wenig sich die Deutschen für die komplizierten Verhältnisse in Syrien interessieren. Othmann aber zieht sie mit hinein in das syrische Elternhaus, in dem ununterbrochen arabisches Fernsehen läuft, als der IS im Jahr 2014 die jesidischen Dörfer im Norirak überfällt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2020Zwei, drei Vaterländer
Ronya Othmann erzählt in ihrem Debüt „Die Sommer“ von einer Familie
kurdischer Jesiden und dem Aufwachsen zu Nachrichten vom Genozid
VON KRISTINA MAIDT––ZINKE
Mit einem bestürzenden Text über das IS-Massaker an kurdischen Jesiden in Syrien im August 2014 gewann Ronya Othmann im vorigen Jahr den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. Vorausgegangen war eine Jurydiskussion über Zeugenschaft und Sagbarkeit, Authentizität und Fiktionalität und über die Frage nach der Zuständigkeit der Literaturkritik für den Versuch, aus Berichten und Dokumenten ein Protokoll des Schreckens zu destillieren. Jetzt legt die Autorin, als Tochter einer Deutschen und eines Kurden mit jesidischem Hintergrund 1993 in München geboren, unter dem Titel „Die Sommer“ ihren ersten Roman vor, der die damaligen Debattenthemen in Erinnerung ruft und sich zugleich entschieden über sie erhebt.
Ronya Othmann, die am Literaturinstitut Leipzig studiert und auch als Journalistin arbeitet, hat den Sprung von der literarischen Reportage zum Erzählen bewältigt: Die Form, die sie gefunden hat, um eine Biografie zwischen zwei Kulturen in ihren bereichernden wie erschütternden Aspekten zu schildern, spricht nun ganz einfach für sich. Sie ist geeignet, einen Abgrund zu überbrücken, den auch politische Information und menschliches Engagement oft nur schwer überwinden können, weil es an lebendiger, sinnlicher Einfühlung in die Erfahrungswelt der Betroffenen fehlt.
„Jeden Sommer“, so beginnt die Erzählung, „flogen sie in das Land, in dem der Vater aufgewachsen war. Das Land hatte zwei Namen. Der eine stand auf Landkarten, Globen und offiziellen Papieren. Den anderen Namen benutzten sie in der Familie.“ Beiden Namen, heißt es weiter, könne man jeweils eine Fläche zuordnen, und zwischen den beiden gebe es Überschneidungen. „Das eine Land war Syrien, die Syrische Arabische Republik. Das andere war Kurdistan, ihr Land. Kurdistan lag in der Syrischen Arabischen Republik, reichte aber darüber hinaus. Es hatte keine offiziell anerkannten Grenzen. Der Vater sagte, dass sie die rechtmäßigen Besitzer des Landes waren, dass sie aber trotzdem nur geduldet waren und oft nicht einmal das.“
Der schlichte, fast schulbuchartige Einstieg klärt Verhältnisse, die sich im Trommelfeuer der Nachrichten aus jener Konfliktzone den wenigsten Menschen wirklich eingeprägt haben dürften. Die wenigen Sätze wecken das Bedürfnis, sich das historische Siedlungsgebiet der Kurden nochmals (oder auch erstmals) auf der Landkarte anzusehen. So unaufdringlich wie unwiderstehlich wird man dann hineingezogen in die Geschichte des Mädchens Leyla, das viele wiedererkennbare Züge der Autorin trägt, in Deutschland lebt, von Kindheit an jeden Sommer die lange Reise in das Land der Großeltern unternimmt und versucht, ihre Eindrücke hier und dort zu sortieren und festzuhalten.
Es ist die Geschichte einer Identitätssuche, doch vor allem ist es ein kulturelles Archiv, das hier mit sparsamen literarischen Mitteln, aber hellwacher Aufmerksamkeit für Details und atmosphärische Unterströmungen angelegt wird. Das Leben im syrisch-kurdischen Dorf mit seinen Traditionen und archaischen Gewohnheiten, in dem Leylas Großmutter als Kraftzentrum der Geborgenheit schaltet und waltet, prägt sich ein. Die alte Frau, im Glauben fest verankert, vermittelt dem Mädchen und zugleich dem Leser eine Vorstellung von den Grundlagen der jesidischen Religion, und zwar wiederum so, dass man sich zu eigenen Nachforschungen angeregt fühlt, um die Geschichte dieser Gemeinschaft zu ergründen, die selbst alle anderen Religionen respektiert, und seit Jahrhunderten durch Muslime verfolgt wird. Für Leylas Vater dagegen ist jede Religion ein Zeichen fehlender Bildung und ein Fortschrittshindernis, und beide Anschauungen bleiben im Erzählraum stehen, ohne dass eine die andere widerlegen könnte.
Der Großvater erzählt von den Armeniern, die früher im Dorf, in den Nachbardörfern und nahegelegenen Städten gelebt hatten und dann grausam ausgerottet wurden. Die Erinnerung an diesen Völkermord weist voraus auf die bevorstehende Eskalation des Genozids an den Jesiden. Aber auch sonst, inmitten des oft noch unbeschwerten Alltags mit Kinderspielen und kleineren Verwandtenquerelen, Stadtbesuchen in Qamishlo und Aleppo und dem ländlichen Rhythmus der Jahreszeiten, spürt Leyla eine Ahnung von Bedrohung und kommendem Unheil. Nach und nach erfährt sie die Familienhistorie, sie hört von der Unterdrückung der Kurden und von der Odyssee des Vaters, der in Syrien nicht studieren durfte und wegen seiner Weigerung, für Assads Geheimdienst zu arbeiten, unter lebensgefährlichen Umständen nach Deutschland flüchten musste. Wo sein Asylantrag dann viele Jahre blockiert wurde, weil Syrien offiziell als „Demokratie“ galt. Später wird auch der Rest der Familie, doppelt bedroht als Kurden und als Jesiden, aus der Heimat fliehen, aber die Großmutter, die anrührendste der Figuren, wird die Veränderung nicht lange überleben und sich verabschieden.
Es gelingt Ronya Othmann, nicht nur diese alte Frau, sondern alle Beteiligten mit wenigen Strichen so klar zu zeichnen und eine solche Nähe zu ihnen herzustellen, dass nie der Eindruck entsteht, über das Thema Flucht und Migration belehrt zu werden: Der Reichtum der Erzählung an Schlüsselszenen und Wahrnehmungsfacetten bewirkt vielmehr, dass sich ganz unvermittelt neue Einsichten, tiefere Einblicke eröffnen. Parallel wird von Leylas Heranwachsen in Deutschland berichtet, von Pubertätserfahrungen, Freundschaften, Elternkonflikten und Liebeserlebnissen, von der Affinität zu Büchern und vom Erwachen des politischen Bewusstseins, während die Schreckensnachrichten aus Syrien zunehmen und sich nach scheinbaren Lichtblicken alles immer mehr verdunkelt – bis zu jenem Ereignis im Sommer 2014, das Leylas Vater mit den Worten kommentiert: „Es ist seltsam, aber zum ersten Mal wissen die Deutschen, wer wir sind.“ Die Studentin Leyla trifft danach eine wagemutige Entscheidung. Ronya Othmann aber hat einen Roman geschrieben, der viel dazu beitragen dürfte, dass dieses Wissen nicht mehr verloren geht.
Ronya Othmann: Die Sommer. Roman. Hanser, München 2020. 288 Seiten, 22 Euro.
Die Anschauungen bleiben im
Erzählraum stehen, ohne dass die
eine die andere widerlegt
„Es ist seltsam, aber
zum ersten Mal wissen die
Deutschen, wer wir sind.“
Ronya Othmann, 1993 geboren, in Bayern aufgewachsen, lebt jetzt in Leipzig.
Foto: Cihan Cakmak
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ronya Othmann erzählt in ihrem Debüt „Die Sommer“ von einer Familie
kurdischer Jesiden und dem Aufwachsen zu Nachrichten vom Genozid
VON KRISTINA MAIDT––ZINKE
Mit einem bestürzenden Text über das IS-Massaker an kurdischen Jesiden in Syrien im August 2014 gewann Ronya Othmann im vorigen Jahr den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. Vorausgegangen war eine Jurydiskussion über Zeugenschaft und Sagbarkeit, Authentizität und Fiktionalität und über die Frage nach der Zuständigkeit der Literaturkritik für den Versuch, aus Berichten und Dokumenten ein Protokoll des Schreckens zu destillieren. Jetzt legt die Autorin, als Tochter einer Deutschen und eines Kurden mit jesidischem Hintergrund 1993 in München geboren, unter dem Titel „Die Sommer“ ihren ersten Roman vor, der die damaligen Debattenthemen in Erinnerung ruft und sich zugleich entschieden über sie erhebt.
Ronya Othmann, die am Literaturinstitut Leipzig studiert und auch als Journalistin arbeitet, hat den Sprung von der literarischen Reportage zum Erzählen bewältigt: Die Form, die sie gefunden hat, um eine Biografie zwischen zwei Kulturen in ihren bereichernden wie erschütternden Aspekten zu schildern, spricht nun ganz einfach für sich. Sie ist geeignet, einen Abgrund zu überbrücken, den auch politische Information und menschliches Engagement oft nur schwer überwinden können, weil es an lebendiger, sinnlicher Einfühlung in die Erfahrungswelt der Betroffenen fehlt.
„Jeden Sommer“, so beginnt die Erzählung, „flogen sie in das Land, in dem der Vater aufgewachsen war. Das Land hatte zwei Namen. Der eine stand auf Landkarten, Globen und offiziellen Papieren. Den anderen Namen benutzten sie in der Familie.“ Beiden Namen, heißt es weiter, könne man jeweils eine Fläche zuordnen, und zwischen den beiden gebe es Überschneidungen. „Das eine Land war Syrien, die Syrische Arabische Republik. Das andere war Kurdistan, ihr Land. Kurdistan lag in der Syrischen Arabischen Republik, reichte aber darüber hinaus. Es hatte keine offiziell anerkannten Grenzen. Der Vater sagte, dass sie die rechtmäßigen Besitzer des Landes waren, dass sie aber trotzdem nur geduldet waren und oft nicht einmal das.“
Der schlichte, fast schulbuchartige Einstieg klärt Verhältnisse, die sich im Trommelfeuer der Nachrichten aus jener Konfliktzone den wenigsten Menschen wirklich eingeprägt haben dürften. Die wenigen Sätze wecken das Bedürfnis, sich das historische Siedlungsgebiet der Kurden nochmals (oder auch erstmals) auf der Landkarte anzusehen. So unaufdringlich wie unwiderstehlich wird man dann hineingezogen in die Geschichte des Mädchens Leyla, das viele wiedererkennbare Züge der Autorin trägt, in Deutschland lebt, von Kindheit an jeden Sommer die lange Reise in das Land der Großeltern unternimmt und versucht, ihre Eindrücke hier und dort zu sortieren und festzuhalten.
Es ist die Geschichte einer Identitätssuche, doch vor allem ist es ein kulturelles Archiv, das hier mit sparsamen literarischen Mitteln, aber hellwacher Aufmerksamkeit für Details und atmosphärische Unterströmungen angelegt wird. Das Leben im syrisch-kurdischen Dorf mit seinen Traditionen und archaischen Gewohnheiten, in dem Leylas Großmutter als Kraftzentrum der Geborgenheit schaltet und waltet, prägt sich ein. Die alte Frau, im Glauben fest verankert, vermittelt dem Mädchen und zugleich dem Leser eine Vorstellung von den Grundlagen der jesidischen Religion, und zwar wiederum so, dass man sich zu eigenen Nachforschungen angeregt fühlt, um die Geschichte dieser Gemeinschaft zu ergründen, die selbst alle anderen Religionen respektiert, und seit Jahrhunderten durch Muslime verfolgt wird. Für Leylas Vater dagegen ist jede Religion ein Zeichen fehlender Bildung und ein Fortschrittshindernis, und beide Anschauungen bleiben im Erzählraum stehen, ohne dass eine die andere widerlegen könnte.
Der Großvater erzählt von den Armeniern, die früher im Dorf, in den Nachbardörfern und nahegelegenen Städten gelebt hatten und dann grausam ausgerottet wurden. Die Erinnerung an diesen Völkermord weist voraus auf die bevorstehende Eskalation des Genozids an den Jesiden. Aber auch sonst, inmitten des oft noch unbeschwerten Alltags mit Kinderspielen und kleineren Verwandtenquerelen, Stadtbesuchen in Qamishlo und Aleppo und dem ländlichen Rhythmus der Jahreszeiten, spürt Leyla eine Ahnung von Bedrohung und kommendem Unheil. Nach und nach erfährt sie die Familienhistorie, sie hört von der Unterdrückung der Kurden und von der Odyssee des Vaters, der in Syrien nicht studieren durfte und wegen seiner Weigerung, für Assads Geheimdienst zu arbeiten, unter lebensgefährlichen Umständen nach Deutschland flüchten musste. Wo sein Asylantrag dann viele Jahre blockiert wurde, weil Syrien offiziell als „Demokratie“ galt. Später wird auch der Rest der Familie, doppelt bedroht als Kurden und als Jesiden, aus der Heimat fliehen, aber die Großmutter, die anrührendste der Figuren, wird die Veränderung nicht lange überleben und sich verabschieden.
Es gelingt Ronya Othmann, nicht nur diese alte Frau, sondern alle Beteiligten mit wenigen Strichen so klar zu zeichnen und eine solche Nähe zu ihnen herzustellen, dass nie der Eindruck entsteht, über das Thema Flucht und Migration belehrt zu werden: Der Reichtum der Erzählung an Schlüsselszenen und Wahrnehmungsfacetten bewirkt vielmehr, dass sich ganz unvermittelt neue Einsichten, tiefere Einblicke eröffnen. Parallel wird von Leylas Heranwachsen in Deutschland berichtet, von Pubertätserfahrungen, Freundschaften, Elternkonflikten und Liebeserlebnissen, von der Affinität zu Büchern und vom Erwachen des politischen Bewusstseins, während die Schreckensnachrichten aus Syrien zunehmen und sich nach scheinbaren Lichtblicken alles immer mehr verdunkelt – bis zu jenem Ereignis im Sommer 2014, das Leylas Vater mit den Worten kommentiert: „Es ist seltsam, aber zum ersten Mal wissen die Deutschen, wer wir sind.“ Die Studentin Leyla trifft danach eine wagemutige Entscheidung. Ronya Othmann aber hat einen Roman geschrieben, der viel dazu beitragen dürfte, dass dieses Wissen nicht mehr verloren geht.
Ronya Othmann: Die Sommer. Roman. Hanser, München 2020. 288 Seiten, 22 Euro.
Die Anschauungen bleiben im
Erzählraum stehen, ohne dass die
eine die andere widerlegt
„Es ist seltsam, aber
zum ersten Mal wissen die
Deutschen, wer wir sind.“
Ronya Othmann, 1993 geboren, in Bayern aufgewachsen, lebt jetzt in Leipzig.
Foto: Cihan Cakmak
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2020Alles an ihr irritiert immer alle
Ronya Othmann, bekannt durch scharfsinnige politische Kolumnen, hat ihren ersten Roman geschrieben: "Die Sommer"
Woher kommt dein Name? Das ist ein arabischer Name, oder?", fragt in Ronya Othmanns Roman "Die Sommer" eine Deutschlehrerin in München ihre Schülerin Leyla. Leyla schüttelt den Kopf. "Zum Islam kann uns sicher unsere Leyla etwas erzählen", sagt die Sozialkundelehrerin und schaut sie erwartungsvoll an. Und als die Mutter ihrer Schulfreundin sie von einer Geburtstagsfeier nach Hause fährt, fragt sie: "Fastet ihr am Ramadan? Ist es nicht schwierig, so zwischen den Kulturen aufzuwachsen? Dein Vater ist sicher streng? Trägt deine Mutter Kopftuch?" Und wenn Leyla antwortet, nein, wir sind keine Muslime, nein, wir sind keine Araber, nein, wir beten zu Hause nicht und fasten auch nicht an Ramadan, aber ja, meine Oma und meine Tanten tragen Kopftücher, wirft das nur noch mehr Fragen auf. Sagt Leyla, wir sind Jesiden, dann wissen die anderen gar nicht mehr, wovon sie spricht. "Alles an Leyla irritierte immer alle", heißt es im Roman. "Die Bäckerin im Ort, den Zahnarzt, die Apothekerin, die Lehrerinnen in der Schule." Sagt Leyla: "Mein Vater kommt aus Kurdistan", antworten die Leute: "Kurdistan gibt es nicht." Sagt sie: "Mein Vater kommt aus Syrien", denkt Leyla an ihren Vater und schämt sich.
Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren, wuchs dort auf und teilt mit Leyla die Irritation, die sie bei anderen auslöst. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater floh als staatenloser jesidischer Kurde 1980 aus Nordostsyrien über die Türkei nach Deutschland. Die Irritation aber ist zugleich ihr Kapital. Aus ihr speisen sich ihr politischer Elan, ihre Produktivität und ihre Wut über die Weigerung vieler, genau hinzusehen. "In Deutschland", sagt sie, als wir uns diese Woche in Berlin treffen, "bringt man mit Jesiden höchstens Ehrenmorde in Verbindung. Anderes blendet man einfach aus, dabei ist doch alles so nah."
In der "taz" hat sie zusammen mit der Künstlerin und Schriftstellerin Cemile Sahin eine Kolumne geschrieben, "Orient Express", in der sie in einer der letzten Folgen Mitte August an den Völkermord erinnert hat, den Kämpfer des sogenannten "Islamischen Staats" vor sechs Jahren verübten, als sie in Shingal einfielen, der inoffiziellen Hauptstadt der jesidischen Minderheit im Irak. "Die Männer und alten Frauen erschossen sie, die Frauen und Kinder nahmen sie mit als Sklavinnen für die Kämpfer des IS. Die Jungen dienten ihnen alle als Kindersoldaten, die Frauen und Mädchen vergewaltigten sie." Und das habe auch etwas mit uns in Deutschland zu tun: In Frankfurt steht gerade Taha Al-J. vor Gericht, der angeklagt ist, ein fünf Jahre altes Mädchen und dessen Mutter gekauft und in seinem Haushalt in Falludscha mit seiner Ehefrau, der deutschen IS-Anhängerin Jennifer W., ausgebeutet zu haben. Um sie zu bestrafen, soll er das Mädchen in sengender Hitze ans Fenster gekettet haben, bis es verdurstete. Jennifer W. wird der Prozess am Oberlandesgericht München gemacht.
Ronya Othmanns journalistische Texte sind von beeindruckender Schärfe, und ihre Perspektive ist deshalb so interessant, weil sie im Kampf gegen Ideologisierungen sowohl nach rechts als auch nach links austeilt. Sie ist da, wo "Islamkritik" als Vorwand für Fremdenfeindlichkeit instrumentalisiert wird, genauso zur Stelle wie dort, wo man Islamismus als "Teil des antikolonialen Widerstands" relativiert und verharmlost. Wenn unter dem Banner "gemeinsam gegen rechts" Querfronten gebildet werden, etwa bei dem #Unteilbar-Bündnis, bei welchem der Zentralrat der Muslime (ZMD) Erstunterzeichner war, gehört sie zu denen, die darauf hinweisen, dass zum ZMD unter anderem der Verband der türkischen Kulturvereine in Europa gehört, der den rechtsextremen Grauen Wölfen zugerechnet wird, und das Islamische Zentrum Hamburg, welches dem obersten Geistlichen Irans untersteht.
2014, als der IS die Menschen in den jesidischen Dörfern im Nordirak überfiel, erzählt sie, hatte sie schon mit der Arbeit an ihrem Roman begonnen und alles Mögliche zusammengetragen, was sie über das Herkunftsdorf ihres Vaters in Syrien in Erinnerung hatte. Jesiden, monotheistisch, aber nicht christlich, gibt es als ethnisch-religiöse Minderheit im Irak, in der Türkei und im Norden Syriens. Und genau dorthin, nach Syrien, war Ronya Othmann - wie im Roman ihre Figur Leyla - jedes Jahr geflogen, um bei ihren Großeltern den Sommer zu verbringen. Nur hatte sie sich lange nicht an diese Sommer erinnert. "Das Erinnern", so beschreibt sie es in "Die Sommer", "hatte erst 2011 angefangen. Obwohl, nein, eher bald danach. 2011 war noch das Jahr der Revolution gewesen, voller Nachrichten und Erwartungen, eine goldene Zukunft steht uns bevor, die Freiheit, die Demokratie, die Menschenrechte." Das Erinnern begann nach dem Arabischen Frühling "mit den Massakern, den Bombardierungen, der Zerstörung, begleitete die Zerstörung, folgte auf sie. Nach jedem Schock kam Trauer, um gleich darauf vom nächsten Schock wieder fortgespült zu werden. Alles nahm kein Ende. Und die Erinnerungen breiteten sich immer weiter aus, nahmen überhand, waren nicht mehr aufzuhalten. Wie eine Wunde, dachte Leyla, aus der Blut sickert."
So beginnt sie den Roman, der ihr erster ist und der mit so großer Souveränität daherkommt, dass er wie ein Debüt beim Lesen gar nicht anmutet, mit diesen Sommern "im Land des Vaters", im Dorf, wo das Mädchen der Großmutter den ganzen Tag auf den Fersen ist, neben ihren wie aneinandergereihten Cousinen und Cousins auf dem Hochbett schläft, bei der Tabakernte hilft - all das in einer sich vortastenden Sprache, die der angriffslustigen Schärfe ihrer journalistischen Texte beinahe entgegengesetzt ist. Beim literarischen Schreiben, sagt sie, seien ihr sinnliche Details wichtig: "Aus welchem Material die Matratzen waren, auf denen man im Sommer geschlafen hat. Wie es dort riecht. Man kann eine Welt auferstehen lassen. Im Jesidentum ist ja alles mündlich überliefert, es gibt kein Buch, in der Großelterngeneration sind fast alle Analphabeten, die Geschichten sterben, wenn die Leute sterben. Und Literatur kann diese Geschichten transportieren, damit sie nicht verlorengehen. Auch wenn im Roman einer als Spitzel für Assad tätig ist, kann ich literarisch die Verstrickungen viel besser erzählen als in einem journalistischen Text. Ich kann erzählen, was es bedeutet, wenn Leylas Onkel, den sie eigentlich mag, vorgeworfen wird, ein Spitzel zu sein, und welche Schwierigkeiten sie hat, sich dazu zu verhalten."
Die mündliche Tradition lässt sie in "Die Sommer" auch einfließen, indem sie die Erinnerungen des Mädchens an ihre Kindheitsferien in Syrien mit dem verbindet, was ihr Vater Leyla über seine Vergangenheit erzählt. Was auf diese Weise entsteht, ist, anhand des Dorfes Tel Khatoun, die politische Geschichte einer Grenzregion. Nachts, sagt der Vater, seien früher oft Leute in Richtung Türkei über die Grenze gegangen. Sie hatten Familie und Freunde auf der anderen Seite und trieben Handel. Doch lag zwischen ihnen ein Minenfeld aus Personenminen und Panzerminen. Explodierte eine Mine, hörte man es im Dorf; Tote, die in den Erzählungen des Vaters Kreuzchen auf einer Papierserviette sind. Nur die Truthähne des Nachbarn waren zu leicht für die Minen und verabschiedeten sich (eine sehr lustige Szene) vor den Augen ihres fassungslosen Besitzers für immer in die Türkei.
Leyla weiß von der Drohung, verstoßen zu werden, wenn man außerhalb der jesidischen Gemeinde heiratet, und hat Glück, dass sie nur im Sommer da ist. Ein Nachbar hat sie schon für seinen Sohn im Auge. Sie wird zur genauen Beobachterin der arrangierten Ehe ihrer Tante und weiß, dass noch ein ganz anderer Mann sie im Auge hat: Als sie mit den anderen Kindern ein einziges Mal mit in die Dorfschule geht, wo es keine Stühle und Tische gibt, wo die Kinder die Kohle für die Heizung von Zuhause mitbringen müssen - hängt in jedem dieser leeren Zimmer ein Bild des Präsidenten. "Der Präsident", heißt es im Roman, "hatte seine Augen überall, und Leyla fürchtete seinen Blick, wenn sie ihm begegnete. Die Augen des Präsidenten konnten sehen, was sie dachte und was man in der Familie über ihn erzählte, glaubte sie." Baschar al Assad, hatte ihr Vater ihr gesagt, habe seine Augen sogar dort, wo man sie nicht sehe. Seine Augen seien Leute, von denen man genau das nicht vermute. Niemandem im Land könne man trauen.
Dass der Vater von der Geheimpolizei vorgeladen wurde und dies mit den Aussagen des Onkels Hussein zu tun hatte, erzählt Leylas Vater ihr erst in Deutschland. Dort zeigt er ihr auch die Narben aus dem türkischen Gefängnis, wo er mit Stromkabeln geschlagen wurde und Zigaretten auf seinem Arm ausgedrückt wurden. Die Flucht des Vaters aus Syrien über die Türkei und die Spuren der Gewalt, die sie hinterlässt, gehört zu den eindrucksvollsten Passagen des Buchs. "Bist du Türkin?", fragt in München Emre aus ihrer Klasse Leyla. Und Leyla denkt an die Narben des Vaters und schüttelt den Kopf.
In München interessieren sich ihre Freundinnen und die Menschen in ihrer Umgebung nicht wirklich für den Krieg in Syrien, stellen niemals Fragen, auch nicht nach Leylas Verwandten, während zu Hause ununterbrochen arabisches Fernsehen läuft. Und genau das führt bei Leyla zu einer Entfremdung, die über die Erinnerungen und die Erzählungen des Vaters mit einer Aneignung der Geschichte derer, die dort im Krieg sind, einhergeht. Das ist der Kunstgriff von "Die Sommer". Denn nicht nur sie kommt dem syrischen Teil ihrer Familie so immer näher. Wir tun es auch.
Ronya Othmann studiert am Literaturinstitut in Leipzig, wo sie auch lebt. Sie wolle ihr Studium auf jeden Fall noch zu Ende machen, erzählt sie. Sie müsse nur noch ihre Masterarbeit schreiben. "Und was wird das für eine Masterarbeit?" Sie müsse einen Roman schreiben. Aber sie habe doch gerade einen Roman geschrieben! "Ja, aber es muss einer sein, der noch nicht veröffentlicht ist." Ronya Othmann kann sich jetzt also an die Arbeit an ihrem zweiten Roman machen. Wer diesen ersten liest, wird "Die Sommer" im Nordosten Syriens sicher nicht vergessen.
JULIA ENCKE.
Ronya Othmann: "Die Sommer". Hanser Verlag, 288 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ronya Othmann, bekannt durch scharfsinnige politische Kolumnen, hat ihren ersten Roman geschrieben: "Die Sommer"
Woher kommt dein Name? Das ist ein arabischer Name, oder?", fragt in Ronya Othmanns Roman "Die Sommer" eine Deutschlehrerin in München ihre Schülerin Leyla. Leyla schüttelt den Kopf. "Zum Islam kann uns sicher unsere Leyla etwas erzählen", sagt die Sozialkundelehrerin und schaut sie erwartungsvoll an. Und als die Mutter ihrer Schulfreundin sie von einer Geburtstagsfeier nach Hause fährt, fragt sie: "Fastet ihr am Ramadan? Ist es nicht schwierig, so zwischen den Kulturen aufzuwachsen? Dein Vater ist sicher streng? Trägt deine Mutter Kopftuch?" Und wenn Leyla antwortet, nein, wir sind keine Muslime, nein, wir sind keine Araber, nein, wir beten zu Hause nicht und fasten auch nicht an Ramadan, aber ja, meine Oma und meine Tanten tragen Kopftücher, wirft das nur noch mehr Fragen auf. Sagt Leyla, wir sind Jesiden, dann wissen die anderen gar nicht mehr, wovon sie spricht. "Alles an Leyla irritierte immer alle", heißt es im Roman. "Die Bäckerin im Ort, den Zahnarzt, die Apothekerin, die Lehrerinnen in der Schule." Sagt Leyla: "Mein Vater kommt aus Kurdistan", antworten die Leute: "Kurdistan gibt es nicht." Sagt sie: "Mein Vater kommt aus Syrien", denkt Leyla an ihren Vater und schämt sich.
Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren, wuchs dort auf und teilt mit Leyla die Irritation, die sie bei anderen auslöst. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater floh als staatenloser jesidischer Kurde 1980 aus Nordostsyrien über die Türkei nach Deutschland. Die Irritation aber ist zugleich ihr Kapital. Aus ihr speisen sich ihr politischer Elan, ihre Produktivität und ihre Wut über die Weigerung vieler, genau hinzusehen. "In Deutschland", sagt sie, als wir uns diese Woche in Berlin treffen, "bringt man mit Jesiden höchstens Ehrenmorde in Verbindung. Anderes blendet man einfach aus, dabei ist doch alles so nah."
In der "taz" hat sie zusammen mit der Künstlerin und Schriftstellerin Cemile Sahin eine Kolumne geschrieben, "Orient Express", in der sie in einer der letzten Folgen Mitte August an den Völkermord erinnert hat, den Kämpfer des sogenannten "Islamischen Staats" vor sechs Jahren verübten, als sie in Shingal einfielen, der inoffiziellen Hauptstadt der jesidischen Minderheit im Irak. "Die Männer und alten Frauen erschossen sie, die Frauen und Kinder nahmen sie mit als Sklavinnen für die Kämpfer des IS. Die Jungen dienten ihnen alle als Kindersoldaten, die Frauen und Mädchen vergewaltigten sie." Und das habe auch etwas mit uns in Deutschland zu tun: In Frankfurt steht gerade Taha Al-J. vor Gericht, der angeklagt ist, ein fünf Jahre altes Mädchen und dessen Mutter gekauft und in seinem Haushalt in Falludscha mit seiner Ehefrau, der deutschen IS-Anhängerin Jennifer W., ausgebeutet zu haben. Um sie zu bestrafen, soll er das Mädchen in sengender Hitze ans Fenster gekettet haben, bis es verdurstete. Jennifer W. wird der Prozess am Oberlandesgericht München gemacht.
Ronya Othmanns journalistische Texte sind von beeindruckender Schärfe, und ihre Perspektive ist deshalb so interessant, weil sie im Kampf gegen Ideologisierungen sowohl nach rechts als auch nach links austeilt. Sie ist da, wo "Islamkritik" als Vorwand für Fremdenfeindlichkeit instrumentalisiert wird, genauso zur Stelle wie dort, wo man Islamismus als "Teil des antikolonialen Widerstands" relativiert und verharmlost. Wenn unter dem Banner "gemeinsam gegen rechts" Querfronten gebildet werden, etwa bei dem #Unteilbar-Bündnis, bei welchem der Zentralrat der Muslime (ZMD) Erstunterzeichner war, gehört sie zu denen, die darauf hinweisen, dass zum ZMD unter anderem der Verband der türkischen Kulturvereine in Europa gehört, der den rechtsextremen Grauen Wölfen zugerechnet wird, und das Islamische Zentrum Hamburg, welches dem obersten Geistlichen Irans untersteht.
2014, als der IS die Menschen in den jesidischen Dörfern im Nordirak überfiel, erzählt sie, hatte sie schon mit der Arbeit an ihrem Roman begonnen und alles Mögliche zusammengetragen, was sie über das Herkunftsdorf ihres Vaters in Syrien in Erinnerung hatte. Jesiden, monotheistisch, aber nicht christlich, gibt es als ethnisch-religiöse Minderheit im Irak, in der Türkei und im Norden Syriens. Und genau dorthin, nach Syrien, war Ronya Othmann - wie im Roman ihre Figur Leyla - jedes Jahr geflogen, um bei ihren Großeltern den Sommer zu verbringen. Nur hatte sie sich lange nicht an diese Sommer erinnert. "Das Erinnern", so beschreibt sie es in "Die Sommer", "hatte erst 2011 angefangen. Obwohl, nein, eher bald danach. 2011 war noch das Jahr der Revolution gewesen, voller Nachrichten und Erwartungen, eine goldene Zukunft steht uns bevor, die Freiheit, die Demokratie, die Menschenrechte." Das Erinnern begann nach dem Arabischen Frühling "mit den Massakern, den Bombardierungen, der Zerstörung, begleitete die Zerstörung, folgte auf sie. Nach jedem Schock kam Trauer, um gleich darauf vom nächsten Schock wieder fortgespült zu werden. Alles nahm kein Ende. Und die Erinnerungen breiteten sich immer weiter aus, nahmen überhand, waren nicht mehr aufzuhalten. Wie eine Wunde, dachte Leyla, aus der Blut sickert."
So beginnt sie den Roman, der ihr erster ist und der mit so großer Souveränität daherkommt, dass er wie ein Debüt beim Lesen gar nicht anmutet, mit diesen Sommern "im Land des Vaters", im Dorf, wo das Mädchen der Großmutter den ganzen Tag auf den Fersen ist, neben ihren wie aneinandergereihten Cousinen und Cousins auf dem Hochbett schläft, bei der Tabakernte hilft - all das in einer sich vortastenden Sprache, die der angriffslustigen Schärfe ihrer journalistischen Texte beinahe entgegengesetzt ist. Beim literarischen Schreiben, sagt sie, seien ihr sinnliche Details wichtig: "Aus welchem Material die Matratzen waren, auf denen man im Sommer geschlafen hat. Wie es dort riecht. Man kann eine Welt auferstehen lassen. Im Jesidentum ist ja alles mündlich überliefert, es gibt kein Buch, in der Großelterngeneration sind fast alle Analphabeten, die Geschichten sterben, wenn die Leute sterben. Und Literatur kann diese Geschichten transportieren, damit sie nicht verlorengehen. Auch wenn im Roman einer als Spitzel für Assad tätig ist, kann ich literarisch die Verstrickungen viel besser erzählen als in einem journalistischen Text. Ich kann erzählen, was es bedeutet, wenn Leylas Onkel, den sie eigentlich mag, vorgeworfen wird, ein Spitzel zu sein, und welche Schwierigkeiten sie hat, sich dazu zu verhalten."
Die mündliche Tradition lässt sie in "Die Sommer" auch einfließen, indem sie die Erinnerungen des Mädchens an ihre Kindheitsferien in Syrien mit dem verbindet, was ihr Vater Leyla über seine Vergangenheit erzählt. Was auf diese Weise entsteht, ist, anhand des Dorfes Tel Khatoun, die politische Geschichte einer Grenzregion. Nachts, sagt der Vater, seien früher oft Leute in Richtung Türkei über die Grenze gegangen. Sie hatten Familie und Freunde auf der anderen Seite und trieben Handel. Doch lag zwischen ihnen ein Minenfeld aus Personenminen und Panzerminen. Explodierte eine Mine, hörte man es im Dorf; Tote, die in den Erzählungen des Vaters Kreuzchen auf einer Papierserviette sind. Nur die Truthähne des Nachbarn waren zu leicht für die Minen und verabschiedeten sich (eine sehr lustige Szene) vor den Augen ihres fassungslosen Besitzers für immer in die Türkei.
Leyla weiß von der Drohung, verstoßen zu werden, wenn man außerhalb der jesidischen Gemeinde heiratet, und hat Glück, dass sie nur im Sommer da ist. Ein Nachbar hat sie schon für seinen Sohn im Auge. Sie wird zur genauen Beobachterin der arrangierten Ehe ihrer Tante und weiß, dass noch ein ganz anderer Mann sie im Auge hat: Als sie mit den anderen Kindern ein einziges Mal mit in die Dorfschule geht, wo es keine Stühle und Tische gibt, wo die Kinder die Kohle für die Heizung von Zuhause mitbringen müssen - hängt in jedem dieser leeren Zimmer ein Bild des Präsidenten. "Der Präsident", heißt es im Roman, "hatte seine Augen überall, und Leyla fürchtete seinen Blick, wenn sie ihm begegnete. Die Augen des Präsidenten konnten sehen, was sie dachte und was man in der Familie über ihn erzählte, glaubte sie." Baschar al Assad, hatte ihr Vater ihr gesagt, habe seine Augen sogar dort, wo man sie nicht sehe. Seine Augen seien Leute, von denen man genau das nicht vermute. Niemandem im Land könne man trauen.
Dass der Vater von der Geheimpolizei vorgeladen wurde und dies mit den Aussagen des Onkels Hussein zu tun hatte, erzählt Leylas Vater ihr erst in Deutschland. Dort zeigt er ihr auch die Narben aus dem türkischen Gefängnis, wo er mit Stromkabeln geschlagen wurde und Zigaretten auf seinem Arm ausgedrückt wurden. Die Flucht des Vaters aus Syrien über die Türkei und die Spuren der Gewalt, die sie hinterlässt, gehört zu den eindrucksvollsten Passagen des Buchs. "Bist du Türkin?", fragt in München Emre aus ihrer Klasse Leyla. Und Leyla denkt an die Narben des Vaters und schüttelt den Kopf.
In München interessieren sich ihre Freundinnen und die Menschen in ihrer Umgebung nicht wirklich für den Krieg in Syrien, stellen niemals Fragen, auch nicht nach Leylas Verwandten, während zu Hause ununterbrochen arabisches Fernsehen läuft. Und genau das führt bei Leyla zu einer Entfremdung, die über die Erinnerungen und die Erzählungen des Vaters mit einer Aneignung der Geschichte derer, die dort im Krieg sind, einhergeht. Das ist der Kunstgriff von "Die Sommer". Denn nicht nur sie kommt dem syrischen Teil ihrer Familie so immer näher. Wir tun es auch.
Ronya Othmann studiert am Literaturinstitut in Leipzig, wo sie auch lebt. Sie wolle ihr Studium auf jeden Fall noch zu Ende machen, erzählt sie. Sie müsse nur noch ihre Masterarbeit schreiben. "Und was wird das für eine Masterarbeit?" Sie müsse einen Roman schreiben. Aber sie habe doch gerade einen Roman geschrieben! "Ja, aber es muss einer sein, der noch nicht veröffentlicht ist." Ronya Othmann kann sich jetzt also an die Arbeit an ihrem zweiten Roman machen. Wer diesen ersten liest, wird "Die Sommer" im Nordosten Syriens sicher nicht vergessen.
JULIA ENCKE.
Ronya Othmann: "Die Sommer". Hanser Verlag, 288 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein existenzieller, gleichsam politischer wie persönlicher Debütroman." Michael Luisier, SRF 2, 10.01.21
"Othmanns Roman macht etwas deutlich, was viel mehr ins allgemeine Bewusstsein gehört: Unter uns leben viele Menschen, die nicht nur durch ihre Flucht aus den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten traumatisiert sind, sondern auch durch die späteren Verwüstungen der Heimat. ... Er bietet eindringliche Sichten auf die fatalen subjektiven Wirkungen, die es auf hier lebende Verwandte hat." Sabine Kebir, Der Freitag, 26.10.20
"Othmann verschränkt überzeugend kulturelle und ethnische Thematiken zweier Kulturen. ... Ein sehr eindringliches Buch. ... Der Roman ist realistisch, mitreißend und regt zum Nachdenken an." Antonia Barboric, Die Presse, 09.10.20
"In der Entschiedenheit der politischen Haltung liegt das Aussergewöhnliche dieses Buches. ... Im Schreiben Othmanns über Krieg, Folter und erzwungene Selbstverleugnung wird auf erschütternde Weise deutlich, was für ein Privileg eine unversehrte Identität ist." Timo Posselt, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 27.09.20
"Othmann hat eine überzeugende, kluge Erzählweise für ihren Roman gefunden. ... Durch die stets markierte Distanz ... gewinnt die politische Ebene des Romans ihre Eindringlichkeit. Gefühlsverstärkung, literarisches Reenactment braucht es nicht." Wiebke Porombka, DIE ZEIT, 10.09.20
"Ein Roman, der mit so großer Souveranität daherkommt, dass er wie ein Debüt beim Lesen gar nicht anmutet." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.08.20
"Othmann schafft einen Einblick in eine Welt, die wir auf den ersten Blick zu kennen meinen. ... Der Roman verarbeitet das Thema Identität ohne den üblichen Kitsch, mit dem so oft über Herkunft geschrieben wird." Doris Akrap, Die Tageszeitung, 27.08.20
"Ein umwerfender Debütroman, der sehr konkret und anschaulich erzählt ist, mit starken Figuren und Dialogen, die so ins Romangeschehen integriert sind, dass sein Ton auch dann lebhaft wirkt, wenn er das von Figuren-Erfahrung geprägte Wissen transportiert." Meike Feßmann, Deutschlandfunk Kultur, 21.08.20
"Ihre politische Stimme ist klar und entschieden. Ihre literarische Stimme ist kontrolliert, ohne Abschweifung und schlicht." Elke Schmitter, Der Spiegel, 22.08.20
"Othmann fügt mit ihrem Debüt der Gegenwartsliteratur eine Perspektive hinzu: eine jesidisch-kurdisch-deutsche Geschichte. ... 'Die Sommer' ist ein Buch, das einfühlsam von Zerrissenheit erzählt, davon, zwischen den Stühlen zu sitzen." Pia Uffelmann, MDR Kultur, 11.08.20
"Es gelingt Ronya Othmann, nicht nur diese alte Frau, sondern alle Beteiligten mit wenigen Strichen so klar zu zeichnen und eine solche Nähe zu ihnen herzustellen, dass nie der Eindruck entsteht, über das Thema Flucht und Migration belehrt zu werden: Der Reichtum der Erzählung an Schlüsselszenen und Wahrnehmungsfacetten bewirkt vielmehr, dass sich ganz unvermittelt neue Einsichten, tiefere Einblicke eröffnen." Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 17.08.20
"Othmanns Roman macht etwas deutlich, was viel mehr ins allgemeine Bewusstsein gehört: Unter uns leben viele Menschen, die nicht nur durch ihre Flucht aus den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten traumatisiert sind, sondern auch durch die späteren Verwüstungen der Heimat. ... Er bietet eindringliche Sichten auf die fatalen subjektiven Wirkungen, die es auf hier lebende Verwandte hat." Sabine Kebir, Der Freitag, 26.10.20
"Othmann verschränkt überzeugend kulturelle und ethnische Thematiken zweier Kulturen. ... Ein sehr eindringliches Buch. ... Der Roman ist realistisch, mitreißend und regt zum Nachdenken an." Antonia Barboric, Die Presse, 09.10.20
"In der Entschiedenheit der politischen Haltung liegt das Aussergewöhnliche dieses Buches. ... Im Schreiben Othmanns über Krieg, Folter und erzwungene Selbstverleugnung wird auf erschütternde Weise deutlich, was für ein Privileg eine unversehrte Identität ist." Timo Posselt, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 27.09.20
"Othmann hat eine überzeugende, kluge Erzählweise für ihren Roman gefunden. ... Durch die stets markierte Distanz ... gewinnt die politische Ebene des Romans ihre Eindringlichkeit. Gefühlsverstärkung, literarisches Reenactment braucht es nicht." Wiebke Porombka, DIE ZEIT, 10.09.20
"Ein Roman, der mit so großer Souveranität daherkommt, dass er wie ein Debüt beim Lesen gar nicht anmutet." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.08.20
"Othmann schafft einen Einblick in eine Welt, die wir auf den ersten Blick zu kennen meinen. ... Der Roman verarbeitet das Thema Identität ohne den üblichen Kitsch, mit dem so oft über Herkunft geschrieben wird." Doris Akrap, Die Tageszeitung, 27.08.20
"Ein umwerfender Debütroman, der sehr konkret und anschaulich erzählt ist, mit starken Figuren und Dialogen, die so ins Romangeschehen integriert sind, dass sein Ton auch dann lebhaft wirkt, wenn er das von Figuren-Erfahrung geprägte Wissen transportiert." Meike Feßmann, Deutschlandfunk Kultur, 21.08.20
"Ihre politische Stimme ist klar und entschieden. Ihre literarische Stimme ist kontrolliert, ohne Abschweifung und schlicht." Elke Schmitter, Der Spiegel, 22.08.20
"Othmann fügt mit ihrem Debüt der Gegenwartsliteratur eine Perspektive hinzu: eine jesidisch-kurdisch-deutsche Geschichte. ... 'Die Sommer' ist ein Buch, das einfühlsam von Zerrissenheit erzählt, davon, zwischen den Stühlen zu sitzen." Pia Uffelmann, MDR Kultur, 11.08.20
"Es gelingt Ronya Othmann, nicht nur diese alte Frau, sondern alle Beteiligten mit wenigen Strichen so klar zu zeichnen und eine solche Nähe zu ihnen herzustellen, dass nie der Eindruck entsteht, über das Thema Flucht und Migration belehrt zu werden: Der Reichtum der Erzählung an Schlüsselszenen und Wahrnehmungsfacetten bewirkt vielmehr, dass sich ganz unvermittelt neue Einsichten, tiefere Einblicke eröffnen." Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 17.08.20