Nur als Junge verkleidet kann Parvana die Herrschaft der Taliban überleben!
Als ihr Vater verhaftet wird, nimmt die elfjährige Parvana seinen Platz auf dem Markt in Kabul ein. Hier hatte er den vielen Analphabeten ihre Post vorgelesen. Wegen der restriktiven Gesetze der Taliban kann sie sich jedoch nur als Junge verkleidet in der öffentlichkeit zeigen. Und begibt sich so in große Gefahr ...
Top-Thematik: Frauen unter dem Taliban-Regime
Als ihr Vater verhaftet wird, nimmt die elfjährige Parvana seinen Platz auf dem Markt in Kabul ein. Hier hatte er den vielen Analphabeten ihre Post vorgelesen. Wegen der restriktiven Gesetze der Taliban kann sie sich jedoch nur als Junge verkleidet in der öffentlichkeit zeigen. Und begibt sich so in große Gefahr ...
Top-Thematik: Frauen unter dem Taliban-Regime
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001Der Junge, der ein Mädchen war
Deborah Ellis' spannende Afghanistan-Erzählung
Parvana sieht viel, wenn sie den ganzen Tag auf ihrer Decke am Marktstand ihres Vaters sitzt. Zwar muß sie sich unauffällig verhalten - die Taliban werden schnell böse, wenn sie ein Mädchen in der Öffentlichkeit sehen -, und bequem ist es nicht, stundenlang dort zu kauern. Aber es ist besser als den ganzen Tag im dunklen Zimmer zu hocken wie ihre Mutter und die Geschwister. Mit ihren elf Jahren darf Parvana sich noch halbwegs frei draußen bewegen. Wenn sie nicht gebraucht würde, müßte sie trotzdem zu Hause bleiben. Aber der Vater hat im Krieg ein Bein verloren und die Prothese längst verkauft; er braucht Parvanas Hilfe, um zum Markt zu kommen, wo er Briefe vorliest. In letzter Zeit tauchen auf dem Markt von Kabul immer mehr Prothesen auf. Die Männer nehmen sie ihren Frauen weg - wer nicht ausgehen kann, braucht auch kein falsches Bein, sagen sie. Viel nötiger ist das Geld, das eine Prothese einbringt. So liegen sie auf den Marktständen von Kabul und offenbaren auf makabre Weise das Maß, in dem die Frauen Afghanistans ihre Bewegungsfreiheit verlieren.
Es sind die Alltagsbilder, die Deborah Ellis' Jugendbuch über ein afghanisches Mädchen so eindrucksvoll und glaubwürdig machen. Geschrieben wurde die Geschichte natürlich vor den aktuellen Ereignissen. Die Kanadierin Deborah Ellis hat in pakistanischen Flüchtlingslagern gearbeitet und dort viele Kinder interviewt. Aus den Einzelschicksalen hat sie Parvanas Geschichte herausdestilliert. Die Aufmerksamkeit, die das Buch nun aufgrund der Weltlage erfährt, hat es voll und ganz verdient, sieht man einmal von der etwas ungelenken Übersetzung ab. Man wird kaum einen anderen Text finden, der so aufschlußreich und lebendig vom Leben der afghanischen Kinder unter dem Taliban-Regime erzählt.
Schon die Alltagserlebnisse des Mädchens aus Kabul gäben Stoff genug für ein interessantes Buch. Aber eine dramatische, temporeiche Geschichte wird daraus, als Parvanas Vater von den Taliban verhaftet wird. Plötzlich ist Parvana der Mann im Haus - ganz wörtlich, denn sie verkleidet sich als Junge, um den Vater auf dem Markt zu ersetzen. Ihre Haare werden kurz geschnitten, und zum ersten Mal geht sie ohne Kopfbedeckung auf die Straße, kann das Gesicht in die Sonne halten. Mehr und mehr erobert sie sich eine Umwelt, die sie bisher kaum kannte. Als dann noch eine frühere Klassenkameradin auftaucht, die ebenfalls als Junge Geld verdient, macht den beiden Mädchen das ungewohnt freie Leben manchmal richtig Spaß. Aber sie sehen auch grauenhafte Dinge mit an.
Eine Zeitlang, vor den siebziger Jahren, waren Geschichten bei uns beliebt, in denen Mädchen in Jungenrollen schlüpften. Es war ein reizvolles Spiel, das in der Regel mit der Entlarvung und gnädigen Aufnahme des Mädchens als guter Kumpel in die Jungenclique endete. Auch in Parvanas Geschichte genießt man das heimliche Wissen, die Ahnungslosigkeit der anderen, den Zuwachs an Freiheit. Zugleich wird auf beklemmende Weise klar, was dieses "Spiel" für ein Kind bedeutet, das damit seine Leute ernährt und sein Leben in Gefahr bringt. Man ahnt, es wird viele Mädchen geben, die so etwas getan haben.
"Vielleicht sollte jemand eine riesige Bombe auf dieses Land werfen, dann können wir ganz von vorne anfangen", sagt Parvanas Freundin am Ende, als hätte sie geahnt, was passieren würde. Ob der Neuanfang aber auch wirklich einer für die Frauen und Mädchen sein wird? Die Kinder, die dieses Buch gelesen haben, werden danach die Nachrichten aus Afghanistan aufmerksamer verfolgen und auch darauf achten.
MONIKA OSBERGHAUS
Deborah Ellis: "Die Sonne im Gesicht". Aus dem kanadischen Englisch übersetzt von Anna Melach. Jungbrunnen Verlag, Wien 2001. 126 S., geb., 25,80 DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deborah Ellis' spannende Afghanistan-Erzählung
Parvana sieht viel, wenn sie den ganzen Tag auf ihrer Decke am Marktstand ihres Vaters sitzt. Zwar muß sie sich unauffällig verhalten - die Taliban werden schnell böse, wenn sie ein Mädchen in der Öffentlichkeit sehen -, und bequem ist es nicht, stundenlang dort zu kauern. Aber es ist besser als den ganzen Tag im dunklen Zimmer zu hocken wie ihre Mutter und die Geschwister. Mit ihren elf Jahren darf Parvana sich noch halbwegs frei draußen bewegen. Wenn sie nicht gebraucht würde, müßte sie trotzdem zu Hause bleiben. Aber der Vater hat im Krieg ein Bein verloren und die Prothese längst verkauft; er braucht Parvanas Hilfe, um zum Markt zu kommen, wo er Briefe vorliest. In letzter Zeit tauchen auf dem Markt von Kabul immer mehr Prothesen auf. Die Männer nehmen sie ihren Frauen weg - wer nicht ausgehen kann, braucht auch kein falsches Bein, sagen sie. Viel nötiger ist das Geld, das eine Prothese einbringt. So liegen sie auf den Marktständen von Kabul und offenbaren auf makabre Weise das Maß, in dem die Frauen Afghanistans ihre Bewegungsfreiheit verlieren.
Es sind die Alltagsbilder, die Deborah Ellis' Jugendbuch über ein afghanisches Mädchen so eindrucksvoll und glaubwürdig machen. Geschrieben wurde die Geschichte natürlich vor den aktuellen Ereignissen. Die Kanadierin Deborah Ellis hat in pakistanischen Flüchtlingslagern gearbeitet und dort viele Kinder interviewt. Aus den Einzelschicksalen hat sie Parvanas Geschichte herausdestilliert. Die Aufmerksamkeit, die das Buch nun aufgrund der Weltlage erfährt, hat es voll und ganz verdient, sieht man einmal von der etwas ungelenken Übersetzung ab. Man wird kaum einen anderen Text finden, der so aufschlußreich und lebendig vom Leben der afghanischen Kinder unter dem Taliban-Regime erzählt.
Schon die Alltagserlebnisse des Mädchens aus Kabul gäben Stoff genug für ein interessantes Buch. Aber eine dramatische, temporeiche Geschichte wird daraus, als Parvanas Vater von den Taliban verhaftet wird. Plötzlich ist Parvana der Mann im Haus - ganz wörtlich, denn sie verkleidet sich als Junge, um den Vater auf dem Markt zu ersetzen. Ihre Haare werden kurz geschnitten, und zum ersten Mal geht sie ohne Kopfbedeckung auf die Straße, kann das Gesicht in die Sonne halten. Mehr und mehr erobert sie sich eine Umwelt, die sie bisher kaum kannte. Als dann noch eine frühere Klassenkameradin auftaucht, die ebenfalls als Junge Geld verdient, macht den beiden Mädchen das ungewohnt freie Leben manchmal richtig Spaß. Aber sie sehen auch grauenhafte Dinge mit an.
Eine Zeitlang, vor den siebziger Jahren, waren Geschichten bei uns beliebt, in denen Mädchen in Jungenrollen schlüpften. Es war ein reizvolles Spiel, das in der Regel mit der Entlarvung und gnädigen Aufnahme des Mädchens als guter Kumpel in die Jungenclique endete. Auch in Parvanas Geschichte genießt man das heimliche Wissen, die Ahnungslosigkeit der anderen, den Zuwachs an Freiheit. Zugleich wird auf beklemmende Weise klar, was dieses "Spiel" für ein Kind bedeutet, das damit seine Leute ernährt und sein Leben in Gefahr bringt. Man ahnt, es wird viele Mädchen geben, die so etwas getan haben.
"Vielleicht sollte jemand eine riesige Bombe auf dieses Land werfen, dann können wir ganz von vorne anfangen", sagt Parvanas Freundin am Ende, als hätte sie geahnt, was passieren würde. Ob der Neuanfang aber auch wirklich einer für die Frauen und Mädchen sein wird? Die Kinder, die dieses Buch gelesen haben, werden danach die Nachrichten aus Afghanistan aufmerksamer verfolgen und auch darauf achten.
MONIKA OSBERGHAUS
Deborah Ellis: "Die Sonne im Gesicht". Aus dem kanadischen Englisch übersetzt von Anna Melach. Jungbrunnen Verlag, Wien 2001. 126 S., geb., 25,80 DM. Ab 12 J.
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