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Der zweisprachige Band stellt anhand von vier in sich geschlossenen Zyklen das lyrische Spätwerk von Miron Bialoszewski (1922-1983) vor. In den Gedichten der 70er und 80er Jahre wandelt sich der grammatikaffine Manierist, von der Kritik zum Wortführer einer polnischsprachigen Avantgarde erkoren, zum abgeklärten, bisweilen spröden Realisten. Verkörpert in Frauengestalten, wendet sich die Stimme von Miron Bialoszewski als "Tante Angela" und die "Alte aus der Platte" alltäglichen Ereignissen zu, wie sie sich den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Plattenbaus in "Rüpelsheim" präsentieren, und…mehr

Produktbeschreibung
Der zweisprachige Band stellt anhand von vier in sich geschlossenen Zyklen das lyrische Spätwerk von Miron Bialoszewski (1922-1983) vor. In den Gedichten der 70er und 80er Jahre wandelt sich der grammatikaffine Manierist, von der Kritik zum Wortführer einer polnischsprachigen Avantgarde erkoren, zum abgeklärten, bisweilen spröden Realisten. Verkörpert in Frauengestalten, wendet sich die Stimme von Miron Bialoszewski als "Tante Angela" und die "Alte aus der Platte" alltäglichen Ereignissen zu, wie sie sich den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Plattenbaus in "Rüpelsheim" präsentieren, und stellt diese als Popanze mal intimer, mal sozialistischer, immer aber grotesker Banalität voller Komik aus.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2024

Verse aus der Platte
Miron Bialoszewskis "Die Sonne und ich"

"Ein Hauch von Aufstandsgedenken", notiert Miron Bialoszewski am 1. August 1975, "Die Sonne treibt Trichter/ und Tromben. / Warschau verknöchert. / Wir sind verschlafen vor Verschüttung aufgestanden. / - Sind alle da?!?"

Am 1. August 1944 war der Warschauer Aufstand ausgebrochen. Als Bialoszewski einunddreißig Jahre später dieses kleine Gedicht schreibt, sind längst nicht mehr alle da, die den Aufstand erlebt und überlebt haben.

Bialoszewskis "Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand" waren in zensierter Form 1970 erschienen: ein atemloser Bericht über jene Tage und Wochen, in denen die polnische Hauptstadt von der deutschen Wehrmacht ausradiert und die meisten ihrer Einwohner vertrieben und getötet wurden. Dieser Prosatext steht als literarisches Zeugnis gleichauf mit den großen Werken der Holocaustliteratur, mit Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen" oder Primo Levis "Ist das ein Mensch?". Esther Kinsky hat ihn gleich zweimal ins Deutsche übersetzt.

Eigentlich aber war Bialoszewski Dichter und Dramatiker, kein Prosa- und schon gar kein Romanautor, wie überhaupt die polnische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts in erstaunlichem Maß eine des Gedichts, des Essays, der Erzählung ist, nicht des Romans.

Der 1922 geborene und 1983 gestorbene Bialoszewski spielt in der polnischen Nachkriegsliteratur eine ganz besondere Rolle: als Autor kleiner Dramen, für die er in seinem Wohnungstheater auch in die Rolle des Schauspielers schlüpfte, und als Dichter, der die polnische Sprache als Material betrachtete und der Lyrik mit seinen Sprachspielen ganz neue Wege eröffnete.

Die aus Polen stammende deutsche Dichterin Dagmara Kraus hat es zu ihrer Aufgabe gemacht, Miron Bialoszewski auch dem deutschen Leser nahezubringen. Vor knapp zehn Jahren erschienen in der Edition Reinecke & Voß zwei schmale Auswahlbände aus dem Gesamtwerk, 2021 dann bei Roughbooks eine größere Auswahl aus seiner sprachexperimentellen Phase.

Viele dieser Texte sind so schwer zu übersetzen, dass man die Ergebnisse als eigenständige Kunstwerke eigentlich der deutschen Literatur zurechnen müsste. Jetzt legt Kraus mit "Die Sonne und ich" einen schmalen Band mit vier späten Zyklen Bialoszewskis vor, darin auch das zitierte Gedenken an den Warschauer Aufstand. In ihnen steht nicht mehr das Sprachspiel, die Arbeit an der Form im Vordergrund.

Es sind scheinbar schnell hingeworfene Skizzen aus dem Warschauer Alltag der Siebzigerjahre, dem Plattenbaualltag am Rand der Stadt, Schnappschüsse aus einer ganz und gar unglamourösen Welt. "Rüpelsheim" heißt dieses Viertel in der Übersetzung von Kraus. Hier steht Bialoszewski im 9. Stock am Fenster und schaut, wie sie unten vorbeilaufen, fährt mit dem Fahrstuhl hinunter und begibt sich "in die Straßen von Rüpelsheim / zwischen Wohnsilos, / Hochhäuser / hohes Kraut".

Bald schlüpft er in die Rolle von Tante Angela, auch eine Überlebende des Kriegs, die eine "Sehnsucht / nach Blumenkohl- / Suppe" in sich trägt, die sich an Momente im Bunker erinnert und daran, wie eine bestimmte Kekssorte hieß: "Auf Jiddisch aber / Erinnere ich mich / Von vor dem Krieg. Ich dachte nur/ Ach . . . / Aber jetzt weiß ich's, / Sie hießen Deli-Plätzchen."

Auch der Zyklus "Verse der Alten aus der Platte" nimmt fast haikuhaft das Leben im trüben Nachkriegspolen in den Blick, die Konflikte zwischen Nachbarn, das Gefühl, belauscht zu werden, die Sorge um die Rente. Zuweilen sind es nur mehr Sprachfetzen, auf den Wegen zwischen den Häusern abgelauschte Sprachpartikel, die das Verläppern des Lebens einer alten Frau widerspiegeln: "Ich wollte gehen / Na . . . zu diesem . . . äh / Ist mir entfallen . . . / Lass liegen . . . / Ich latsch noch drüber . . ."

So reduziert diese Verse sind, so banal ihre Gegenstände erscheinen - in Bialoszewskis allzu menschlichen Momentaufnahmen aus der Platte blitzt eine Welt auf und ein ganzes Jahrhundert. Und manchmal scheint sogar die Sonne auf die grauen Wege: "Man geht / man kriecht / Licht und Halblicht. / Und Schatten. / Und ich." TOBIAS LEHMKUHL

Miron Bialoszewski: "Die Sonne und ich".

Aus dem Polnischen von Dagmara Kraus und Henk Proeme.

Engeler Verlag, Schupfart 2024.

110 S., br., 12,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Tobias Lehmkuhl freut sich, dass nun ein weiterer Gedichtband des in Deutschland vor allem für seinen Prosatext "Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand" bekannten Autors Miron Bialoszewski in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Gedichte, die der Band versammelt, stammen, erläutert Lehmkuhl, aus einer späten Werkphase des Dichters, und sie sind weniger als frühere Arbeiten von der Form her gedacht. Stattdessen wirken sie wie schnell notiert. Alltagsimpressionen aus den 1970er Jahren prägen die Texte, beschreibt der Rezensent, wobei gelegentlich auch Erinnerungen an den Krieg mitschwingen und im scheinbar Banalen eine ganze Welt aufscheint.

© Perlentaucher Medien GmbH