Leonie Kuyper führt ein bescheidenes Leben als Übersetzerin - bis ihre beste Freundin Roos, die Laborantin mit den knallroten, superlangen Fingernägeln, an einem Sonnenstich stirbt. Roos hat sie zur Alleinerbin bestimmt, allerdings unter einer Bedingung: Daß sie für die drei geliebten Katzen sorgt und in ihr Appartment zieht! Als Leonie sich auf diesen Deal einläßt, entdeckt sie nach und nach verwirrende Geheimnisse im Leben ihrer Freundin.
Marten 't Hart - der große Erzähler und Meister witziger Dialoge - hat einen komischen und höchst spannenden Roman geschrieben.
Marten 't Hart - der große Erzähler und Meister witziger Dialoge - hat einen komischen und höchst spannenden Roman geschrieben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2003Männerblicke auf dem Friedhof
Diagnose Sonnenstich: Maarten 't Harts mörderischer Ferienroman
Der Schauplatz ist Holland, die Todesursache ein Sonnenstich: Einen Roman, der so beginnt, kann man nicht ganz ernst nehmen. Erst recht, wenn er auch noch nach einer Sonnenuhr benannt ist, der im Geschehen nur eine ephemere Bedeutung zukommt. Das ist auch dem aufmerksamen Lektorat der deutschen Übersetzung von Maarten 't Harts Roman offensichtlich nicht entgangen. Es hat in Abstimmung mit dem niederländischen Schriftsteller die Geschichte "leicht überarbeitet" und ihr einen gewiß informativeren, aber nicht unbedingt eleganteren Titel verpaßt: "Die Sonnenuhr oder Das geheime Leben meiner Freundin Roos".
Der Tod durch Sonnenstich ist natürlich ein gut getarnter Mord. Mit der Aufklärung des fast perfekten Verbrechens - das sich, nun erfolglos, wiederholt - geht der Roman zu Ende. Die Täterin wiederum ist nur eine Randfigur der Handlung und deren Hauptperson, wie wir aus dem Titel wissen, das Opfer, das am Anfang gerade beerdigt wird. Dreiundvierzig Jahre alt war Roos, die Tochter ungarischer Emigranten, geworden. Alleinstehend, kinderlos, tierliebend. Sie arbeitete in einem Chemielabor. Ihr besonderes Merkmal waren überlange künstliche Fingernägel.
Im zweiten Kapitel bekommt Roos' beste Freundin Leonie Kuyper - sie ist treuen Lesern Maarten 't Harts aus dem Band "Die schwarzen Vögel" bekannt - einen Anruf vom Notar. Der Mann stottert, was in jedem Satz, den er spricht, den Lesefluß hemmt und als "running gag" bis zum Ende der Geschichte ohne Erbarmen mit dem Leser durchgezogen wird. Roos hat Leonie als Erbin eingesetzt. Sie muß sich in erster Linie um die hinterbliebenen Katzen kümmern. Leonie bekommt die Wohnung, das Auto - das vorübergehend gestohlen wird - und ein Aktienportfolio. Sie verkauft die Papiere, die ihr nicht geheuer sind; kurz darauf setzt der Börsencrash ein. Seit ihrem ersten Auftritt im Universum des Schriftstellers hat sie sich scheiden lassen - Voraussetzung für ihre neue Rolle. Sie ist nun als Übersetzerin tätig und könnte sich dank der Erbschaft unbesorgt ihrem neuen Lebensziel (der Kinderwunsch blieb unerfüllt) widmen: den Romanzyklus "Les Thibault" von Roger Martin du Gard vollständig ins Niederländische zu übertragen, der erst in einzelnen Teilen vorliegt.
Doch statt in die Haut fremder Dichter und ihrer Figuren schlüpft Leonie Kuyper buchstäblich in die gut geschnittenen Kleider ihrer verstorbenen Freundin. Diese scheint sie im übrigen schon anläßlich der Beerdigung, an der das graue Mauerblümchen aufzublühen beginnt, getragen zu haben: "Ich stellte fest, daß mein Kostüm aufreizend wirkte. Oder reagieren Männer sowieso lüsterner auf einem Friedhof oder in einem Krematorium?" In einem Kleid findet sie massenhaft Hundert-Gulden-Scheine - der Roman spielt einige Monate vor der Einführung des Euro.
Die Spuren des Geldes führen in einen Sexclub für die feinere Gesellschaft, in dem Roos als Domina gearbeitet hatte. Auch ein Labor kommt vor, in dem Wissenschaftsbetrug betrieben und Drogen produziert werden. Liebevoll pflegt Leonie die drei Katzen ihrer verstorbenen Freundin und dringt immer tiefer in deren "geheimes Leben" ein: Leonie wird Roos immer ähnlicher. Manchmal kommt es zu Verwechslungen. Die Mimesis bleibt indes auf Äußerlichkeiten beschränkt; die existentiellen Abgründe, die sich in diesem Roman auftun, werden kaum ausgelotet. Die moralischen Skrupel Leonies handelt der Autor auf der Ebene der Trivialphilosophie ab. Über die Psychologie des Sadomasochismus erfährt man rein gar nichts, er erscheint eher als billige Konzession an den Zeitgeist. Immerhin erspart uns der Autor die Lust der Schmerzen. Um uns seinen kulturellen Tiefgang zu erschließen, wurden nach dem letzten Kapitel ein paar Fußnoten angehängt.
Diese Einwände sind kein Grund, den Roman zu verschmähen, der durchaus über Witz und Ironie verfügt. Man liest ihn trotz gewisser Schwächen mit Vergnügen und langweilt sich nur selten. Perfekter als die Dramaturgie scheint die Mordmethode zu sein, die Maarten 't Hart inszeniert - und die nun tatsächlich plausibel macht, daß selbst ein Arzt Roos' Tod durch Sonnenstich auf den Leim gehen konnte. Aus dem Klappentext erfährt man, daß der Schriftsteller, der sich vor allem mit seinen Novellen einen Namen gemacht hat, ursprünglich einmal Biologe war.
Die Wiederholung der Tat - natürlich an Leonie - läßt er scheitern: sie dient zur Aufklärung, zeigt aber auch die Grenzen der Identifizierung. Im übrigen wird Leonie tatsächlich noch gebraucht. Denn die holländische Literatur, die Maarten 't Hart mit einem idealen Ferienroman als Begleitlektüre zum Sonnenbaden bereichert hat, wartet noch immer auf eine komplette Übersetzung der elf Bände "Les Thibault".
JÜRG ALTWEGG.
Maarten 't Hart: "Die Sonnenuhr oder Das geheime Leben meiner Freundin Roos". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marianne Holberg. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2003. 333 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diagnose Sonnenstich: Maarten 't Harts mörderischer Ferienroman
Der Schauplatz ist Holland, die Todesursache ein Sonnenstich: Einen Roman, der so beginnt, kann man nicht ganz ernst nehmen. Erst recht, wenn er auch noch nach einer Sonnenuhr benannt ist, der im Geschehen nur eine ephemere Bedeutung zukommt. Das ist auch dem aufmerksamen Lektorat der deutschen Übersetzung von Maarten 't Harts Roman offensichtlich nicht entgangen. Es hat in Abstimmung mit dem niederländischen Schriftsteller die Geschichte "leicht überarbeitet" und ihr einen gewiß informativeren, aber nicht unbedingt eleganteren Titel verpaßt: "Die Sonnenuhr oder Das geheime Leben meiner Freundin Roos".
Der Tod durch Sonnenstich ist natürlich ein gut getarnter Mord. Mit der Aufklärung des fast perfekten Verbrechens - das sich, nun erfolglos, wiederholt - geht der Roman zu Ende. Die Täterin wiederum ist nur eine Randfigur der Handlung und deren Hauptperson, wie wir aus dem Titel wissen, das Opfer, das am Anfang gerade beerdigt wird. Dreiundvierzig Jahre alt war Roos, die Tochter ungarischer Emigranten, geworden. Alleinstehend, kinderlos, tierliebend. Sie arbeitete in einem Chemielabor. Ihr besonderes Merkmal waren überlange künstliche Fingernägel.
Im zweiten Kapitel bekommt Roos' beste Freundin Leonie Kuyper - sie ist treuen Lesern Maarten 't Harts aus dem Band "Die schwarzen Vögel" bekannt - einen Anruf vom Notar. Der Mann stottert, was in jedem Satz, den er spricht, den Lesefluß hemmt und als "running gag" bis zum Ende der Geschichte ohne Erbarmen mit dem Leser durchgezogen wird. Roos hat Leonie als Erbin eingesetzt. Sie muß sich in erster Linie um die hinterbliebenen Katzen kümmern. Leonie bekommt die Wohnung, das Auto - das vorübergehend gestohlen wird - und ein Aktienportfolio. Sie verkauft die Papiere, die ihr nicht geheuer sind; kurz darauf setzt der Börsencrash ein. Seit ihrem ersten Auftritt im Universum des Schriftstellers hat sie sich scheiden lassen - Voraussetzung für ihre neue Rolle. Sie ist nun als Übersetzerin tätig und könnte sich dank der Erbschaft unbesorgt ihrem neuen Lebensziel (der Kinderwunsch blieb unerfüllt) widmen: den Romanzyklus "Les Thibault" von Roger Martin du Gard vollständig ins Niederländische zu übertragen, der erst in einzelnen Teilen vorliegt.
Doch statt in die Haut fremder Dichter und ihrer Figuren schlüpft Leonie Kuyper buchstäblich in die gut geschnittenen Kleider ihrer verstorbenen Freundin. Diese scheint sie im übrigen schon anläßlich der Beerdigung, an der das graue Mauerblümchen aufzublühen beginnt, getragen zu haben: "Ich stellte fest, daß mein Kostüm aufreizend wirkte. Oder reagieren Männer sowieso lüsterner auf einem Friedhof oder in einem Krematorium?" In einem Kleid findet sie massenhaft Hundert-Gulden-Scheine - der Roman spielt einige Monate vor der Einführung des Euro.
Die Spuren des Geldes führen in einen Sexclub für die feinere Gesellschaft, in dem Roos als Domina gearbeitet hatte. Auch ein Labor kommt vor, in dem Wissenschaftsbetrug betrieben und Drogen produziert werden. Liebevoll pflegt Leonie die drei Katzen ihrer verstorbenen Freundin und dringt immer tiefer in deren "geheimes Leben" ein: Leonie wird Roos immer ähnlicher. Manchmal kommt es zu Verwechslungen. Die Mimesis bleibt indes auf Äußerlichkeiten beschränkt; die existentiellen Abgründe, die sich in diesem Roman auftun, werden kaum ausgelotet. Die moralischen Skrupel Leonies handelt der Autor auf der Ebene der Trivialphilosophie ab. Über die Psychologie des Sadomasochismus erfährt man rein gar nichts, er erscheint eher als billige Konzession an den Zeitgeist. Immerhin erspart uns der Autor die Lust der Schmerzen. Um uns seinen kulturellen Tiefgang zu erschließen, wurden nach dem letzten Kapitel ein paar Fußnoten angehängt.
Diese Einwände sind kein Grund, den Roman zu verschmähen, der durchaus über Witz und Ironie verfügt. Man liest ihn trotz gewisser Schwächen mit Vergnügen und langweilt sich nur selten. Perfekter als die Dramaturgie scheint die Mordmethode zu sein, die Maarten 't Hart inszeniert - und die nun tatsächlich plausibel macht, daß selbst ein Arzt Roos' Tod durch Sonnenstich auf den Leim gehen konnte. Aus dem Klappentext erfährt man, daß der Schriftsteller, der sich vor allem mit seinen Novellen einen Namen gemacht hat, ursprünglich einmal Biologe war.
Die Wiederholung der Tat - natürlich an Leonie - läßt er scheitern: sie dient zur Aufklärung, zeigt aber auch die Grenzen der Identifizierung. Im übrigen wird Leonie tatsächlich noch gebraucht. Denn die holländische Literatur, die Maarten 't Hart mit einem idealen Ferienroman als Begleitlektüre zum Sonnenbaden bereichert hat, wartet noch immer auf eine komplette Übersetzung der elf Bände "Les Thibault".
JÜRG ALTWEGG.
Maarten 't Hart: "Die Sonnenuhr oder Das geheime Leben meiner Freundin Roos". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marianne Holberg. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2003. 333 S., geb., 19,90 [Euro].
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