Egoismus oder Nächstenliebe, Eigennutz oder Kooperation was liegt mehr in der Natur des Menschen? Als Einzelwesen sind wir egoistisch, als Gruppenwesen aber ziehen wir uneigennütziges Verhalten vor, sagt Edward O. Wilson, der berühmteste Biologe unserer Zeit. Zwischen den beiden Antriebskräften herrscht ein Dauerkonflikt, in der Gesellschaft wie in jedem Einzelnen von uns. Die Balance, die wir anstreben, ist stets zerbrechlich. Die soziale Eroberung der Erde ist die Summe lebenslanger innovativer Forschung, die Krönung des Lebenswerkes von Edward O. Wilson.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Das Thema findet Markus Wild nicht neu und den Grundgedanken des Buches von Edward O. Wilson, einem der bedeutendsten Biologen und Ameisenforscher, eher einfach. Demnach postuliert Wilson das Modell unserer Gesellschaft aus dem Geiste des Ameisenstaates. Wie nun der Autor menschliche Evolution anhand einer für Wild bemerkenswerten Bandbreite von Untersuchungen beschreibt, eröffnet dem Rezensenten die Schwächen des Buches. Eine liegt für ihn darin, dass der Autor dazu neigt, die Forschung zu seinen Gunsten auszulegen. Eine weitere darin, dass Wilson beim Brückenschlag zu den Geisteswissenschaften unterkomplex vorgeht. Für Wild jedoch kein Grund, den Autor nicht Ernst zu nehmen und seine Thesen zu diskutieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2013Nächstenliebe
aus Egoismus
Edward O. Wilson will die Grundstrukturen
menschlichen Verhaltens biologisch erklären
VON FELIX EKARDT
Seit Längerem treten Neurowissenschaften, Genforschung und Evolutionsforschung öffentlich immer stärker in Erscheinung. Transportiert wird dabei der Anspruch, bisher Unerkanntes oder Spekulatives in echtes Wissen zu verwandeln. Sei es anhand bildgebender Hirn-Analyseverfahren, sei es durch Genanalysen oder theoretische Ableitungen aus der Evolution. Diesen Anspruch evolutionsbezogen und genetisch auf dem aktuellsten Stand zu präsentieren, ist das Ziel des neuen Buches von Edward O. Wilson, der inzwischen über achtzigjährigen US-amerikanischen Galionsfigur der Soziobiologie. Sein Alterswerk „The Social Conquest of Earth“ wurde in Amerika viel beachtet (SZ vom 11. Juni 2012), jetzt liegt es in deutscher Übersetzung vor.
Die Soziobiologie leugnet die Relevanz des Faktors Kultur nicht. Sie versucht aber dennoch, menschliches Verhalten, Sitten, Emotionen oder Werthaltung großenteils oder wenigstens in den Grundstrukturen evolutionsbiologisch-genetisch zu erklären. Viele Forscher meinen, dass die Evolution neben der Konkurrenz zwischen Individuen vor allem durch die Konkurrenz zwischen Familien als Trägern ähnlicher Gene stattfand. Wilson dagegen vertritt seit Jahren die These, neben der Individualkonkurrenz sei vor allem die Gruppenkonkurrenz der treibende Faktor gewesen. So sei der partielle menschliche Altruismus letztlich ein Gruppenegoismus: Gruppen, in denen die Mitglieder wenigstens teilweise selbstlos kooperierten, seien in der Stammesgeschichte schlicht erfolgreicher gewesen.
Dies und vieles andere beschreibt Edward Wilson oft recht einleuchtend und farbig, ebenso wie den ständigen Konflikt zwischen Individualegoismus und begrenztem Altruismus in uns allen. Und doch überschätzt Wilson wie viele die Leistungsfähigkeit der Naturwissenschaften. Er unterschlägt, dass die Evolutionsbiologie letztlich mehr oder minder plausible Hypothesen liefert – und keineswegs zwingende Beweise. Auch wie aus einem Gen ein konkretes Verhalten wird, ist entgegen Wilson immer noch weitgehend unklar. Die Gleichsetzung von Wissenschaftlichkeit und Exaktheit allein und gerade mit den Naturwissenschaften erweist sich hier exemplarisch als doch etwas einseitige Vorstellung.
Seltsame Blüten treibt das als naturwissenschaftlich präsentierte Bemühen, alles in einfache und quantifizierbare Begriffe zu bringen, wenn Wilson meint, menschliche Charaktere anhand von fünf banalen Grundeigenschaften wie extrovertiert versus introvertiert beschreiben zu können. Dass ein solcher Ansatz in der Anwendung von relativ willkürlichen Einschätzungen abhängt und überdies grob unterkomplex ist, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen.
Hier wie auch sonst öfter merkt man, dass Wilson letztlich Experte für die biologische Evolution von Insekten ist. Der umfassende Beitrag diverser Geisteswissenschaften dazu, was Individuen sowie den kollektiven sozialen Wandel antreibt, ist ihm offenbar weitgehend unbekannt. All dies müsste aber bekannt sein, um den Anteil evolutionärer Prägungen nicht zu überschätzen.
Ebenso versteht Wilson wie viele die Sein-Sollen-Scheidung nicht. Er realisiert also nicht, dass Erklärungen zum Zustandekommen von Wertvorstellungen nichts darüber aussagen, ob diese ethisch gerechtfertigt sind oder nicht. Erklären kann man im Leben vieles, vielleicht sogar fast alles. Doch selbst wenn Kriege und Gewalt – so Wilson – evolutionsbiologisch mitbedingt wären, würde das rein gar nichts darüber besagen, ob sie zu begrüßen oder zu verurteilen sind. Deshalb ist auch Wilsons Anspruch abwegig, die Ethik zu revolutionieren. Selbst wenn es zuträfe, dass Altruismus evolutionsbiologisch als Gruppenegoismus entstanden ist, dann beweist das nicht, dass eine universale Ethik falsch ist. Es würde lediglich zeigen, dass es der Universalismus in der praktischen Durchsetzung nicht leicht hat. Das allerdings trifft in der Tat zu.
Kein Wort verliert Wilson über die Missbrauchsgefahren von Evolutions-, Gen- oder auch Hirnforschung. Hierbei geht es nicht nur um den vermeintlich genetisch vorherbestimmten Straftäter. Vielmehr können Thesen über menschliche Prägungen durch Evolution und Gene auch den massenhaften Absatz neuer Psychopharmaka scheinlegitimieren. Denn wenn alles am Menschen auf naturalistische Phänomene zusammenschrumpft, dann helfen halt keine Gespräche mehr gegen Stimmungsschwankungen, sondern nur noch Tabletten.
Bemerkenswert ist zuletzt: Berühmt bis in die Klatschblätter hinein wurde die Soziobiologie ja eigentlich mit ihren mal originellen, mal verdächtig traditionell klingenden Thesen zum Geschlechterverhältnis. Dass Wilson diesen Bereich komplett ausspart, ist verblüffend. Trotz solcher taktischen Winkelzüge und der geäußerten Zweifel an zentralen Punkten ist Wilsons Buch eine lohnende Lektüre. Es ist bis auf einige Redundanzen gut geschrieben, es regt zum Nachdenken an, und es kombiniert Wissenschaftlichkeit mit populärer Verständlichkeit.
Edward O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke. Verlag C. H. Beck, München 2013. 384 Seiten, 22,95 Euro.
Gruppenkonkurrenz trieb
die Evolution voran
Edward O. Wilson,
Jahrgang 1929, begann als Ameisenforscher, bevor er den Begriff „Soziobiologie“ prägte.
FOTO: OH
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aus Egoismus
Edward O. Wilson will die Grundstrukturen
menschlichen Verhaltens biologisch erklären
VON FELIX EKARDT
Seit Längerem treten Neurowissenschaften, Genforschung und Evolutionsforschung öffentlich immer stärker in Erscheinung. Transportiert wird dabei der Anspruch, bisher Unerkanntes oder Spekulatives in echtes Wissen zu verwandeln. Sei es anhand bildgebender Hirn-Analyseverfahren, sei es durch Genanalysen oder theoretische Ableitungen aus der Evolution. Diesen Anspruch evolutionsbezogen und genetisch auf dem aktuellsten Stand zu präsentieren, ist das Ziel des neuen Buches von Edward O. Wilson, der inzwischen über achtzigjährigen US-amerikanischen Galionsfigur der Soziobiologie. Sein Alterswerk „The Social Conquest of Earth“ wurde in Amerika viel beachtet (SZ vom 11. Juni 2012), jetzt liegt es in deutscher Übersetzung vor.
Die Soziobiologie leugnet die Relevanz des Faktors Kultur nicht. Sie versucht aber dennoch, menschliches Verhalten, Sitten, Emotionen oder Werthaltung großenteils oder wenigstens in den Grundstrukturen evolutionsbiologisch-genetisch zu erklären. Viele Forscher meinen, dass die Evolution neben der Konkurrenz zwischen Individuen vor allem durch die Konkurrenz zwischen Familien als Trägern ähnlicher Gene stattfand. Wilson dagegen vertritt seit Jahren die These, neben der Individualkonkurrenz sei vor allem die Gruppenkonkurrenz der treibende Faktor gewesen. So sei der partielle menschliche Altruismus letztlich ein Gruppenegoismus: Gruppen, in denen die Mitglieder wenigstens teilweise selbstlos kooperierten, seien in der Stammesgeschichte schlicht erfolgreicher gewesen.
Dies und vieles andere beschreibt Edward Wilson oft recht einleuchtend und farbig, ebenso wie den ständigen Konflikt zwischen Individualegoismus und begrenztem Altruismus in uns allen. Und doch überschätzt Wilson wie viele die Leistungsfähigkeit der Naturwissenschaften. Er unterschlägt, dass die Evolutionsbiologie letztlich mehr oder minder plausible Hypothesen liefert – und keineswegs zwingende Beweise. Auch wie aus einem Gen ein konkretes Verhalten wird, ist entgegen Wilson immer noch weitgehend unklar. Die Gleichsetzung von Wissenschaftlichkeit und Exaktheit allein und gerade mit den Naturwissenschaften erweist sich hier exemplarisch als doch etwas einseitige Vorstellung.
Seltsame Blüten treibt das als naturwissenschaftlich präsentierte Bemühen, alles in einfache und quantifizierbare Begriffe zu bringen, wenn Wilson meint, menschliche Charaktere anhand von fünf banalen Grundeigenschaften wie extrovertiert versus introvertiert beschreiben zu können. Dass ein solcher Ansatz in der Anwendung von relativ willkürlichen Einschätzungen abhängt und überdies grob unterkomplex ist, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen.
Hier wie auch sonst öfter merkt man, dass Wilson letztlich Experte für die biologische Evolution von Insekten ist. Der umfassende Beitrag diverser Geisteswissenschaften dazu, was Individuen sowie den kollektiven sozialen Wandel antreibt, ist ihm offenbar weitgehend unbekannt. All dies müsste aber bekannt sein, um den Anteil evolutionärer Prägungen nicht zu überschätzen.
Ebenso versteht Wilson wie viele die Sein-Sollen-Scheidung nicht. Er realisiert also nicht, dass Erklärungen zum Zustandekommen von Wertvorstellungen nichts darüber aussagen, ob diese ethisch gerechtfertigt sind oder nicht. Erklären kann man im Leben vieles, vielleicht sogar fast alles. Doch selbst wenn Kriege und Gewalt – so Wilson – evolutionsbiologisch mitbedingt wären, würde das rein gar nichts darüber besagen, ob sie zu begrüßen oder zu verurteilen sind. Deshalb ist auch Wilsons Anspruch abwegig, die Ethik zu revolutionieren. Selbst wenn es zuträfe, dass Altruismus evolutionsbiologisch als Gruppenegoismus entstanden ist, dann beweist das nicht, dass eine universale Ethik falsch ist. Es würde lediglich zeigen, dass es der Universalismus in der praktischen Durchsetzung nicht leicht hat. Das allerdings trifft in der Tat zu.
Kein Wort verliert Wilson über die Missbrauchsgefahren von Evolutions-, Gen- oder auch Hirnforschung. Hierbei geht es nicht nur um den vermeintlich genetisch vorherbestimmten Straftäter. Vielmehr können Thesen über menschliche Prägungen durch Evolution und Gene auch den massenhaften Absatz neuer Psychopharmaka scheinlegitimieren. Denn wenn alles am Menschen auf naturalistische Phänomene zusammenschrumpft, dann helfen halt keine Gespräche mehr gegen Stimmungsschwankungen, sondern nur noch Tabletten.
Bemerkenswert ist zuletzt: Berühmt bis in die Klatschblätter hinein wurde die Soziobiologie ja eigentlich mit ihren mal originellen, mal verdächtig traditionell klingenden Thesen zum Geschlechterverhältnis. Dass Wilson diesen Bereich komplett ausspart, ist verblüffend. Trotz solcher taktischen Winkelzüge und der geäußerten Zweifel an zentralen Punkten ist Wilsons Buch eine lohnende Lektüre. Es ist bis auf einige Redundanzen gut geschrieben, es regt zum Nachdenken an, und es kombiniert Wissenschaftlichkeit mit populärer Verständlichkeit.
Edward O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke. Verlag C. H. Beck, München 2013. 384 Seiten, 22,95 Euro.
Gruppenkonkurrenz trieb
die Evolution voran
Edward O. Wilson,
Jahrgang 1929, begann als Ameisenforscher, bevor er den Begriff „Soziobiologie“ prägte.
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