Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2009Böse Bundesrepublik
Überblick über soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945
Unter "sozialen Bewegungen" versteht die Forschung Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die - gestützt auf kollektive Identitäten - den Anspruch auf aktive Veränderung einer Gesellschaft erheben. Sie sind, wie die Herausgeber Roth und Rucht in der Einleitung des Handbuchs sicher zu Recht feststellen, "wichtige Akteure moderner Gesellschaften", ja geradezu ein "Kennzeichen der ,Moderne', weil sie die Fähigkeit einer Gesellschaft ins Zentrum rücken, sich selbst zu produzieren und sozialen Wandel aktiv zu gestalten". Die Publikation soll Übersicht und Orientierung ermöglichen und dem bislang angeblich ungenutzten demokratischen Potential der sozialen Bewegungen mehr Aufmerksamkeit verschaffen.
Ein Handbuch verspricht einen systematischen Überblick über das gesamte Spektrum von ganz links bis ganz rechts. Und tatsächlich scheuen die Herausgeber sich erfreulicherweise nicht, auch linksradikale, rechtsextreme und rechtspopulistische Gruppierungen in den Überblick einzubeziehen. Dieser umfasst 21 nach einem einheitlichen Schema aufgebaute Beiträge zu sehr unterschiedlichen Bewegungen, Protest- und Themenfeldern. Dass dabei manchmal kaum vergleichbare Bewegungen nebeneinanderstehen, stört nicht, da der Wille zur Gestaltung des sozialen Wandels schließlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen wirksam wurde und die verschiedenen Bewegungen sich zum Teil auch mehrfach überschnitten und überlagerten. Die Arbeiterbewegung steht hier neben der Frauenbewegung, die städtische soziale Bewegung neben der Dritte-Welt-Bewegung, die Globalisierungskritiker neben den selbstverwalteten Betrieben, die Schwulenbewegung neben den Protesten von Arbeitslosen und den Kampagnen gegen Bio- und Gentechnik. Zwei Artikel über dissidente Gruppen und Bürgerbewegungen in der DDR sorgen für die gesamtdeutsche Vollständigkeit. Den Einzelartikeln vorangestellt ist in sechs Abschnitten eine Darstellung des historisch-politischen Kontextes. Den Band beschließt eine theoretische und empirische Bilanz der beiden Herausgeber. Als Autorinnen und Autoren konnten gute Kenner der jeweiligen Materien gewonnen werden; manche von ihnen bringen - selbst in verschiedenen Bereichen engagiert - gewissermaßen Insiderwissen mit ein. Im Ergebnis konnte eine facetten- und materialreiche Gesamtschau vorgelegt werden.
Von einem Handbuch erwartet wird neben systematischer Gründlichkeit auch eine gewisse aufgeklärte Distanz zum Gegenstand. Hier liegt eindeutig die methodische Schwäche des vorliegenden Handbuchs. Sine ira et studio ist vielfach nicht die erkenntnisleitende Grundhaltung. Vielmehr machen weder die Herausgeber noch die meisten Autoren einen Hehl daraus, dass sie - ausgenommen freilich die Artikel über die links- und rechtsextremistischen Gruppen - mit den von ihnen präsentierten Bewegungen in mal mehr, mal weniger starkem Maße sympathisieren. Da die verschiedenen sozialen Bewegungen notwendigerweise oppositionelle Positionen einnehmen, ist also nachvollziehbar, dass der "Staat" und das Regierungshandeln in der Regel kritisch bis negativ bewertet werden.
Persönliche Betroffenheit führt aber bisweilen zu merkwürdigen Bewertungen. Wolf-Dieter Narr verleiht der Frühphase der Bundesrepublik die "Signatur" des "CDU-Staats" und nimmt die Assoziation zu "NS-Staat" beziehungsweise zu "SS-Staat" zumindest billigend, wenn nicht sogar mit Absicht in Kauf. Seine Bilanz dieser "demo-autokratischen" Frühphase der bundesdeutschen Geschichte wie der sich anschließenden Perioden fällt entsprechend aus: "Die strukturellen und habituellen Erfolge, vor allem aber die Versäumnisse des Anfangs, haben aus der Bonner Republik, auch seitdem sie zur Berliner Republik geworden ist, ein Land werden lassen, das seine demokratisch menschenrechtliche Lektion 1945 und danach nicht gelernt hat."
Ohne die Probleme und Fehlentwicklungen der Nachkriegszeit bagatellisieren zu wollen - aber derartige Verdikte gehen an der historischen Realität genauso weit vorbei wie die verklärenden Rückblicke auf das gemütliche "Wirtschaftswunderland" der fünfziger und sechziger Jahre. Verschärft wird das negative Bild der Bundesrepublik als Staat durch die eher zurückhaltende Bewertung der DDR. "Regime" und "bürokratisch-autoritäre Herrschaftspraxis der SED-Führung" sind schon die schärfsten Formulierungen, Begriffe wie "SED-Diktatur" oder nur "SED-Staat" sucht man vergeblich. Bemerkenswert auch, dass in den Überblickskapiteln die Stasi als Terrorinstrument - hier sei es nun deutlich gesagt - der SED-Diktatur nicht erwähnt wird, obwohl ihr "Wirken" doch von größter Bedeutung für das Entstehen und die Entwicklung sozialer Bewegungen in der DDR war und mit Sicherheit zu den dominanten "Parametern des internen Kontextes" zu zählen war.
Bei allem Informationsreichtum wird der Anspruch eines Handbuchs nicht durchgehend eingelöst. Dennoch erweitert der Sammelband die bisherigen, stärker an der staatlichen Politik orientierten Gesamtdarstellungen der Nachkriegsgeschichte um wichtige Aspekte und um eine bislang in der historischen Forschung weniger präsente Perspektive. Wenn der Band auch als Handbuch wahrscheinlich keinen Bestand haben wird - eine anregende, bisweilen sogar provozierende Zwischenbilanz ist er in jedem Fall.
MICHAEL HOLLMANN
Roland Roth/Dieter Rucht (Herausgeber): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2008. 770 S., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Überblick über soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945
Unter "sozialen Bewegungen" versteht die Forschung Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die - gestützt auf kollektive Identitäten - den Anspruch auf aktive Veränderung einer Gesellschaft erheben. Sie sind, wie die Herausgeber Roth und Rucht in der Einleitung des Handbuchs sicher zu Recht feststellen, "wichtige Akteure moderner Gesellschaften", ja geradezu ein "Kennzeichen der ,Moderne', weil sie die Fähigkeit einer Gesellschaft ins Zentrum rücken, sich selbst zu produzieren und sozialen Wandel aktiv zu gestalten". Die Publikation soll Übersicht und Orientierung ermöglichen und dem bislang angeblich ungenutzten demokratischen Potential der sozialen Bewegungen mehr Aufmerksamkeit verschaffen.
Ein Handbuch verspricht einen systematischen Überblick über das gesamte Spektrum von ganz links bis ganz rechts. Und tatsächlich scheuen die Herausgeber sich erfreulicherweise nicht, auch linksradikale, rechtsextreme und rechtspopulistische Gruppierungen in den Überblick einzubeziehen. Dieser umfasst 21 nach einem einheitlichen Schema aufgebaute Beiträge zu sehr unterschiedlichen Bewegungen, Protest- und Themenfeldern. Dass dabei manchmal kaum vergleichbare Bewegungen nebeneinanderstehen, stört nicht, da der Wille zur Gestaltung des sozialen Wandels schließlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen wirksam wurde und die verschiedenen Bewegungen sich zum Teil auch mehrfach überschnitten und überlagerten. Die Arbeiterbewegung steht hier neben der Frauenbewegung, die städtische soziale Bewegung neben der Dritte-Welt-Bewegung, die Globalisierungskritiker neben den selbstverwalteten Betrieben, die Schwulenbewegung neben den Protesten von Arbeitslosen und den Kampagnen gegen Bio- und Gentechnik. Zwei Artikel über dissidente Gruppen und Bürgerbewegungen in der DDR sorgen für die gesamtdeutsche Vollständigkeit. Den Einzelartikeln vorangestellt ist in sechs Abschnitten eine Darstellung des historisch-politischen Kontextes. Den Band beschließt eine theoretische und empirische Bilanz der beiden Herausgeber. Als Autorinnen und Autoren konnten gute Kenner der jeweiligen Materien gewonnen werden; manche von ihnen bringen - selbst in verschiedenen Bereichen engagiert - gewissermaßen Insiderwissen mit ein. Im Ergebnis konnte eine facetten- und materialreiche Gesamtschau vorgelegt werden.
Von einem Handbuch erwartet wird neben systematischer Gründlichkeit auch eine gewisse aufgeklärte Distanz zum Gegenstand. Hier liegt eindeutig die methodische Schwäche des vorliegenden Handbuchs. Sine ira et studio ist vielfach nicht die erkenntnisleitende Grundhaltung. Vielmehr machen weder die Herausgeber noch die meisten Autoren einen Hehl daraus, dass sie - ausgenommen freilich die Artikel über die links- und rechtsextremistischen Gruppen - mit den von ihnen präsentierten Bewegungen in mal mehr, mal weniger starkem Maße sympathisieren. Da die verschiedenen sozialen Bewegungen notwendigerweise oppositionelle Positionen einnehmen, ist also nachvollziehbar, dass der "Staat" und das Regierungshandeln in der Regel kritisch bis negativ bewertet werden.
Persönliche Betroffenheit führt aber bisweilen zu merkwürdigen Bewertungen. Wolf-Dieter Narr verleiht der Frühphase der Bundesrepublik die "Signatur" des "CDU-Staats" und nimmt die Assoziation zu "NS-Staat" beziehungsweise zu "SS-Staat" zumindest billigend, wenn nicht sogar mit Absicht in Kauf. Seine Bilanz dieser "demo-autokratischen" Frühphase der bundesdeutschen Geschichte wie der sich anschließenden Perioden fällt entsprechend aus: "Die strukturellen und habituellen Erfolge, vor allem aber die Versäumnisse des Anfangs, haben aus der Bonner Republik, auch seitdem sie zur Berliner Republik geworden ist, ein Land werden lassen, das seine demokratisch menschenrechtliche Lektion 1945 und danach nicht gelernt hat."
Ohne die Probleme und Fehlentwicklungen der Nachkriegszeit bagatellisieren zu wollen - aber derartige Verdikte gehen an der historischen Realität genauso weit vorbei wie die verklärenden Rückblicke auf das gemütliche "Wirtschaftswunderland" der fünfziger und sechziger Jahre. Verschärft wird das negative Bild der Bundesrepublik als Staat durch die eher zurückhaltende Bewertung der DDR. "Regime" und "bürokratisch-autoritäre Herrschaftspraxis der SED-Führung" sind schon die schärfsten Formulierungen, Begriffe wie "SED-Diktatur" oder nur "SED-Staat" sucht man vergeblich. Bemerkenswert auch, dass in den Überblickskapiteln die Stasi als Terrorinstrument - hier sei es nun deutlich gesagt - der SED-Diktatur nicht erwähnt wird, obwohl ihr "Wirken" doch von größter Bedeutung für das Entstehen und die Entwicklung sozialer Bewegungen in der DDR war und mit Sicherheit zu den dominanten "Parametern des internen Kontextes" zu zählen war.
Bei allem Informationsreichtum wird der Anspruch eines Handbuchs nicht durchgehend eingelöst. Dennoch erweitert der Sammelband die bisherigen, stärker an der staatlichen Politik orientierten Gesamtdarstellungen der Nachkriegsgeschichte um wichtige Aspekte und um eine bislang in der historischen Forschung weniger präsente Perspektive. Wenn der Band auch als Handbuch wahrscheinlich keinen Bestand haben wird - eine anregende, bisweilen sogar provozierende Zwischenbilanz ist er in jedem Fall.
MICHAEL HOLLMANN
Roland Roth/Dieter Rucht (Herausgeber): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2008. 770 S., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Christian Rath begrüßt dieses Handbuch als breit angelegtes Nachschlagewerk zu den deutschen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit samt ihrer politisch-ökonomischen Bedingungen und auch, dass die Autoren ihnen fast durchweg mit Sympathie begegnen. Auch findet Rath die Differenzierung des Autorenduos zwischen sozialer Bewegung und Revolution wichtig und richtig. Zwar hat die grundsätzliche Sympathie für diesen ?Ausdruck lebendiger Demokratie?, kann man zwischen den Zeilen lesen, in seltenen Fällen leichte Mängel in Sachen analytischer Distanz zu einzelnen Bewegungen zur Folge. Dennoch handelt es sich aus Sicht des Rezensenten insgesamt um einen komplexen Überblick, der bis in die Gegenwart zu den globalisierungskritischen Bewegungen reiche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Demokratie ist mehr als Wählen
"Wer zuverlässige, kompakte und verständliche Informationen über Formen, Ziele und Bedeutung sozialer Bewegungen sucht, sollte zu diesem Standardwerk greifen." (Süddeutsche Zeitung, 02.08.2008)
Hier wurde ein nicht nur insgesamt gut ausgeführtes, sondern auch notwendiges Buch vorgelegt, das für wichtige Orientierungen sorgen wird. (Mitteilungsbl. d. Instituts f. soz. Bew., 21.07.2010)
"Wer zuverlässige, kompakte und verständliche Informationen über Formen, Ziele und Bedeutung sozialer Bewegungen sucht, sollte zu diesem Standardwerk greifen." (Süddeutsche Zeitung, 02.08.2008)
Hier wurde ein nicht nur insgesamt gut ausgeführtes, sondern auch notwendiges Buch vorgelegt, das für wichtige Orientierungen sorgen wird. (Mitteilungsbl. d. Instituts f. soz. Bew., 21.07.2010)