'Agon', 'alea', 'mimicry', 'ilinx' - keiner, der sich heute mit dem Thema Spiel auseinandersetzt, kommt an Caillois' Klassifikation des Spiels vorbei. Die von ihm in diesem Buch geprägten und entwickelten Begriffe sind ein unversales Schema, mit dem sich alle Arten des Spiels (also des Menschlichen schlechthin) erfassen lassen : von den Spielen archaischer Kulturen bis hin zu den heutigen Computerspielen. So verwundert es nicht, dass Die Spiele und die Menschen die folgenreichste kultursoziologische Arbeit Roger Caillois' ist. Viele Jahre vergriffen, erscheint sie nun in einer vollständig durchgesehenen Übersetzung mit einem Nachwort von Peter Geble, in dem er diesen grundlegenden Text von Neuem fruchtbar macht und dabei die weithin übersehene »erweiterte Theorie der Spiele« ins Zentrum stellt, durch die es Caillois gelingt, eine Theorie für den Übergang von den primitiven zu den modernen Gesellschaften vorzulegen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2017Schwindelgefühle
Roger Caillois untersucht das Wesen der Spiele
Spiele gibt es viele: Kartenspiele, Geduldspiele, Kampfspiele, Glücksspiele, Versteckspiele und so fort. Und sollten sie nicht etwas gemeinsam haben, wenn sie doch alle "Spiele" heißen? Etwa, dass sie immer nach klaren Regeln gespielt werden, wodurch die Sphäre des Spiels von jener des wirklichen Lebens gesondert ist? Aber wenn ein Kind einfach einen Ball an die Wand wirft und wieder auffängt oder sich zu seinem Vergnügen im Kreis herumwirbeln lässt, wo sind dann die klaren Regeln?
Das Ball spielende Kind haben wir kurzerhand Ludwig Wittgenstein entlehnt, der einmal auf diese Frage kommt, ob denn allen Spielen etwas gemeinsam sei. Seine berühmt gewordene Antwort lautet, dass es dieses eine gemeinsame Element nicht gibt, sondern nur ein Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen.
Das ist im Grunde auch das Resümé, das Roger Caillois in den einleitenden Betrachtungen seines zuerst 1958 erschienenen und nun in einer neuen deutschen Ausgabe wieder aufgelegten Buchs über "Die Spiele und die Menschen" zieht. Obwohl es zuerst anders scheint, wenn Caillois eine Definition des Spiels versucht: als freie, in festgelegten Grenzen stattfindende, im Ergebnis offene, von Regeln geleitete Betätigung; und auch als fiktive Betätigung, die gegenüber dem gewöhnlichen Leben vom "Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer offenkundigen Unwirklichkeit begleitet wird".
Doch diese Reihung eröffnet ein Feld, das über die strikt geregelten Spiele - Caillois nennt sie die institutionalisierten Spiele - hinausreicht. Genauso wie Vergnügungen, die mit körperlichem Schwindel spielen oder anderen Weisen, die Sinne unter Stress zu setzen. Von solchen Formen des Spiels will Caillois nicht lassen. Dahinter steckt auch ein Einspruch gegen Johan Huizinga. Ihm wird als Theoretiker des Spiels zwar Reverenz erwiesen, aber Caillois interessiert sich dann nachdrücklich für Spiele, die bei Huizinga nicht zu finden sind.
Wie etwa die Formen des Taumels und Rauschs, die gleich mit dem Untertitel aufgerufen sind; und auch den Lotterien, Spielhallen und Rennplätzen widmet sich Caillois, weil ihm die von Huizinga ausgeklammerten "materiellen Interessen" - nicht unbedingt der Spieler, aber jedenfalls derer, die an Spielangeboten verdienen - durchaus der Betrachtung wert sind.
Ursprünglich von der Ethnologie und Religionswissenschaft herkommend, war Caillois nicht nur ein ungemein breit interessierter und belesener Autor, sondern auch ein guter Beobachter, ob von Kinderspielen, des Publikums in Vergnügungsparks oder außereuropäischen Spielformen. Sein Buch verbindet Sinn für Klassifizierungen mit lebendigen Beschreibungen.
Vier großen Kategorien ordnet er die Spiele zu, bestimmt durch die Motive des Wettkampfs (idealtypisch in Sportwettbewerben), des Zufalls (wie etwa Roulette oder Würfelwurf), der Nachahmung und Verstellung (wo Maskierung und Vermummung nicht fehlen) und des rauschhaften Taumels (von Kindervergnügen bis zu den mexikanischen Voladores). Über dieser Grundkartierung liegt dann noch ein Vektor, der von der freien Improvisation zur streng regelkonformen Bewältigung von im Spiel künstlich hergestellten Schwierigkeiten weist. Dieses Tableau verwendet Caillois, um mit leichter Hand ein weit geöffnetes Feld von Spielformen zu erschließen: an Übergängen und Kontrasten entlang, dabei Überlegungen zur anthropologischen Aufschlusskraft der Spiele und ihrer gesellschaftlichen Funktion im Blick.
Die neue Ausgabe legt im Unterschied zur vergriffenen Übersetzung die von Caillois später erweiterte Buchfassung zugrunde. Peter Geble, ausgewiesener Kenner und Übersetzer von Caillois, hat ihr zudem ein lesenswertes Nachwort angefügt. An der Wiederkehr dieses Autors, von dem zuletzt drei neue Übersetzungen erschienen - darunter die 1978 kurz vor seinem Tod publizierte intellektuelle Autobiographie "Der Fluss Alpheios" -, ist nicht mehr zu zweifeln.
HELMUT MAYER
Roger Caillois: "Die Spiele und die Menschen". Maske und Rausch.
Aus dem Französischen
und mit einem Nachwort
von Peter Geble.
Matthes & Seitz Verlag,
Berlin 2017.
294 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roger Caillois untersucht das Wesen der Spiele
Spiele gibt es viele: Kartenspiele, Geduldspiele, Kampfspiele, Glücksspiele, Versteckspiele und so fort. Und sollten sie nicht etwas gemeinsam haben, wenn sie doch alle "Spiele" heißen? Etwa, dass sie immer nach klaren Regeln gespielt werden, wodurch die Sphäre des Spiels von jener des wirklichen Lebens gesondert ist? Aber wenn ein Kind einfach einen Ball an die Wand wirft und wieder auffängt oder sich zu seinem Vergnügen im Kreis herumwirbeln lässt, wo sind dann die klaren Regeln?
Das Ball spielende Kind haben wir kurzerhand Ludwig Wittgenstein entlehnt, der einmal auf diese Frage kommt, ob denn allen Spielen etwas gemeinsam sei. Seine berühmt gewordene Antwort lautet, dass es dieses eine gemeinsame Element nicht gibt, sondern nur ein Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen.
Das ist im Grunde auch das Resümé, das Roger Caillois in den einleitenden Betrachtungen seines zuerst 1958 erschienenen und nun in einer neuen deutschen Ausgabe wieder aufgelegten Buchs über "Die Spiele und die Menschen" zieht. Obwohl es zuerst anders scheint, wenn Caillois eine Definition des Spiels versucht: als freie, in festgelegten Grenzen stattfindende, im Ergebnis offene, von Regeln geleitete Betätigung; und auch als fiktive Betätigung, die gegenüber dem gewöhnlichen Leben vom "Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer offenkundigen Unwirklichkeit begleitet wird".
Doch diese Reihung eröffnet ein Feld, das über die strikt geregelten Spiele - Caillois nennt sie die institutionalisierten Spiele - hinausreicht. Genauso wie Vergnügungen, die mit körperlichem Schwindel spielen oder anderen Weisen, die Sinne unter Stress zu setzen. Von solchen Formen des Spiels will Caillois nicht lassen. Dahinter steckt auch ein Einspruch gegen Johan Huizinga. Ihm wird als Theoretiker des Spiels zwar Reverenz erwiesen, aber Caillois interessiert sich dann nachdrücklich für Spiele, die bei Huizinga nicht zu finden sind.
Wie etwa die Formen des Taumels und Rauschs, die gleich mit dem Untertitel aufgerufen sind; und auch den Lotterien, Spielhallen und Rennplätzen widmet sich Caillois, weil ihm die von Huizinga ausgeklammerten "materiellen Interessen" - nicht unbedingt der Spieler, aber jedenfalls derer, die an Spielangeboten verdienen - durchaus der Betrachtung wert sind.
Ursprünglich von der Ethnologie und Religionswissenschaft herkommend, war Caillois nicht nur ein ungemein breit interessierter und belesener Autor, sondern auch ein guter Beobachter, ob von Kinderspielen, des Publikums in Vergnügungsparks oder außereuropäischen Spielformen. Sein Buch verbindet Sinn für Klassifizierungen mit lebendigen Beschreibungen.
Vier großen Kategorien ordnet er die Spiele zu, bestimmt durch die Motive des Wettkampfs (idealtypisch in Sportwettbewerben), des Zufalls (wie etwa Roulette oder Würfelwurf), der Nachahmung und Verstellung (wo Maskierung und Vermummung nicht fehlen) und des rauschhaften Taumels (von Kindervergnügen bis zu den mexikanischen Voladores). Über dieser Grundkartierung liegt dann noch ein Vektor, der von der freien Improvisation zur streng regelkonformen Bewältigung von im Spiel künstlich hergestellten Schwierigkeiten weist. Dieses Tableau verwendet Caillois, um mit leichter Hand ein weit geöffnetes Feld von Spielformen zu erschließen: an Übergängen und Kontrasten entlang, dabei Überlegungen zur anthropologischen Aufschlusskraft der Spiele und ihrer gesellschaftlichen Funktion im Blick.
Die neue Ausgabe legt im Unterschied zur vergriffenen Übersetzung die von Caillois später erweiterte Buchfassung zugrunde. Peter Geble, ausgewiesener Kenner und Übersetzer von Caillois, hat ihr zudem ein lesenswertes Nachwort angefügt. An der Wiederkehr dieses Autors, von dem zuletzt drei neue Übersetzungen erschienen - darunter die 1978 kurz vor seinem Tod publizierte intellektuelle Autobiographie "Der Fluss Alpheios" -, ist nicht mehr zu zweifeln.
HELMUT MAYER
Roger Caillois: "Die Spiele und die Menschen". Maske und Rausch.
Aus dem Französischen
und mit einem Nachwort
von Peter Geble.
Matthes & Seitz Verlag,
Berlin 2017.
294 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main