Hjalmar Söderbergs wunderbaren, grausamen, leicht hingetuschten, lakonischen Erzählungen und sein berühmter Roman Doktor Glas haben das Publikum skandalisiert, dann wurden sie vergessen. Unsittlichkeit, Decadence, Zynismus, hat man ihm vorgeworfen - natürlich ganz zu Unrecht. Aber merkwürdig genug - ein Jahrhundert später kommen uns seine Figuren ziemlich bekannt vor. Nur Kostüm und Milieu haben sich verändert. Seine Charaktere aber scheinen eine gespenstische Wiederkehr zu feiern. Es sind Spieler, Bankrotteure, Spekulanten und Selbstmörder. Der rücksichtslose Individualismus, der sie in die Isolation treibt, ihre labilen Beziehungen, ihre desillusionierte Attitüde - das alles erinnert nur allzusehr an unsere verzweifelte Spaßgesellschaft. "Ich zapple, wie ich will", sagt einer von Söderbergs Helden. "Es gibt nichts Lustigeres als zu zappeln."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Die Einsamkeit des Droschkenkutschers
Abtauchen in die Grüfte: Hjalmar Söderbergs Erzählungen / Von Heinrich Detering
Welch eine Zeit! In den Gassen der Stockholmer Altstadt liegt eine schwüle Abenddämmerung; gedämpfte Musik klingt "von weit her, gleichsam wie von unten, von unten herauf"; und in wenigen Schritten führt der Erzähler seine Leser hinauf in die Beletage, vorbei am grünen Kabinett und dem Rauchzimmer hinein in einen "Salon, der von elektrischem Licht sprüht". Hier tragen die jüngeren Herren weiße Blumen im Knopfloch, die älteren Orden (unter denen sich freilich hier und da ein "ausländischer Schwindlerorden" findet); die Damen trinken aus Kristallgläsern und zünden sich eine "Henry Clay" an, abseits sitzt, höhnisch und müde, ein Dichter. Zwischen Marmor und Stuck, Boudoir und Brokat dreht sich das Gespräch um die großen Fragen des eben verebbten Naturalismus - um Ehebruch und die Existenz der Seele, um Materialismus, Utilitarismus und Wagner-Opern.
Welch eine Zeit! Noch scheint die soziale Frage ein einfacher Fall, aber zugleich bedenkt man gerührt die Einsamkeit der "Prinzessinnen und Droschkenkutscher". Noch ist der Anblick einer Welt aus Machtwille, Geilheit und Gier grell und schockierend, ebendeshalb aber weckt er schon wollüstiges Schaudern. Noch wird die Existenz der menschlichen Seele überlegen geleugnet, und doch beginnt eine verfeinerte Stimmungskunst deren zarteste Bewegungen mit analytischer Präzision aufzuzeichnen. Das neunzehnte Jahrhundert zerfällt, und über seinen Trümmern erheben sich die Traumwelten der Neuromantik.
Es ist die Großstadtwelt Stockholms, in der Hjalmar Söderbergs mondäne Desillusionsgeschichten spielen. Wenn es dennoch einmal hinausgeht in die schwedische Sommerlandschaft, dann steht die Luft still, und auf dem Fluß treibt träge ein Kahn, in dem ein träumendes Mädchen liegt, "mit nackten Armen". Drinnen wie draußen aber herrscht dieselbe Welt des Ennui, über der ein fahler Abendhimmel leuchtet, "bleich und grün wie eine gewaschene Leiche". Eine vornehme Traurigkeit umgibt die müden Lebens- und Sterbenskünstler, von denen diese Welt bevölkert wird. Einer von ihnen ist der arme Doktor Henck, ein noch junger Arzt mit bescheidenen Einkünften und Ehemann einer eleganten Frau. Der leiht sich am Weihnachtsabend den Pelzmantel seines bessergestellten Freundes aus. Angetan mit dem luxuriösen Kleidungsstück, spürt er unversehens vergessene Jugendkraft in sich aufsteigen. Erfüllt von neuer Lebenslust, fiebert er dem Empfang durch seine Frau entgegen, der tatsächlich ungleich liebevoller ausfällt als gewöhnlich: Im dunklen Hausflur schmiegt sie sich an den Pelzkragen und flüstert zärtlich, ihr Mann sei noch nicht daheim. Was bis hierher nur eine sarkastische Anekdote wäre, gewinnt durch den Schlußabschnitt novellistische Größe. Da sehen wir den Doktor tags darauf bei Whisky und Zigarren, unterm Weihnachtsbaum, im Gespräch mit jenem Freund. Scheinbar arglos bedankt er sich für "all die Freundlichkeit, die du in der letzten Zeit mir und meiner Frau erwiesen hast". Als der andere verlegen beiseite blickt, fügt der Doktor einen besonderen Dank für den Pelz hinzu: "Er hat mir die letzten Sekunden Glück geschenkt, die ich im Leben empfinden durfte." Das sind die letzten Worte der Erzählung; zwischen der flüchtigen Illusion eines unmöglichen Glücks und einem stillen Sterben, das nicht mehr ausgesprochen werden muß, öffnet sich eine ganze Welt des Fin de siècle.
Nicht das Glück suchten manche Menschen, räsoniert einer dieser Enttäuschten, sondern nur "etwas Form und Stil für ihr Unglück". Das könnte eine Formel für Söderbergs Erzählkunst abgeben. In der kühlen Eleganz und manchmal beißenden Schärfe seiner Gesellschaftsporträts und Seelenlandschaften artikuliert sich das Unglück einer Epoche. Aus Abscheu vor den enttäuschten Gefühlen treten dem Erzähler die Tränen in die Augen. Aus Verachtung für "den Schwindel des ganzen modernen Gesellschaftslebens" gewinnt er Pointen, mit denen er dieses Gesellschaftsleben einige Abende lang bezaubert. Eben wegen dieser heimlichen Leidensgemeinschaft freilich erliegt der Beobachter gelegentlich der Gefahr, die Balance von sentimentalem Zynismus und Lakonie zu verlieren; dann gerät selbst dem stilsicheren Söderberg die Pointe zur Pose.
Vor allem "Doktor Glas", sein oft als Hauptwerk gerühmter kleiner Großstadtroman, erweist sich beim Wiederlesen als zwar respektables, aber doch ein wenig angestaubtes Kunststück. Denn daß der freigeistige und unglücklich liebende Tagebuchschreiber, der hier über Moral und Unmoral nach dem "Tode Gottes" philosophiert und schließlich die Apologie eines Mordes konstruiert, den er infolgedessen auch begeht - daß dieser Schreiber von ganz anderen Mächten angetrieben wird als einem vorurteilsfreien Intellekt, daß er aus tief protestantischer Gewissensnot und enttäuschtem Begehren handelt und daß er darum am Ende nicht als befreiter Übermensch triumphieren, sondern im Elend verdämmern wird: das zu bemerken fällt uns nach einem Jahrhundert freudianischen Trainings leichter als den vor Staunen und Erregung bebenden Zeitgenossen.
So gescheit Söderberg hier Tiefenpsychologie und Gesellschaftsanalyse arrangiert, so wenig überrascht uns noch diese Melange aus Kierkegaard und Maupassant, aus Baudelaire, Dostojewski und sehr viel Nietzsche. Während es also mit dem Roman hinabgeht in die Grüfte der frühen Moderne, haben die kürzeren Erzählungen mit der Zeit an Lebendigkeit eher noch gewonnen. Das gilt für die frühe Kurzprosa, noch mehr aber für deren späte Reprisen. Im Jahr 1929, als sein Stil schon nicht mehr gefragt ist und er sich politischer Publizistik zugewandt hat, läßt Söderberg ein letztes Mal "jene Zeit der späten neunziger Jahre" erwachen. Beinahe wie im Selbstgespräch zaubert er in "Aprilveilchen" noch einmal einen erotischen Reigen aus Sehnsucht, Zufall und Verrat - eine perfekt inszenierte Choreographie der Irrungen, über deren Schärfe schon der müde humoristische Glanz eines Spätwerks liegt.
Welch eine Zeit! Ein Hauch von Hofmannsthal weht durch diese Stockholmer Interieurs; zuweilen liegt ein schweres Parfüm von Bang in der Luft, und es mischt sich sonderbar mit dem scharfen, leicht ätzenden des jungen Thomas Mann. Daß neben diesen Namen derjenige Hjalmar Söderbergs beinahe in Vergessenheit geraten ist, scheint den Pessimismus des Doktor Glas zu bestätigen: "Das Gedächtnis der Menschheit ist lückenhaft und ungerecht." Dem der Deutschen hilft die "Andere Bibliothek" auf, für die Hans Magnus Enzensberger einen Zyklus aus zwölf Erzählungen und dem kleinen Roman zusammengestellt hat. Der früheste Text stammt von 1898, der letzte von 1929. In Wahrheit freilich kennt Söderbergs Welt keine Chronologie. Deshalb beginnt die erste Erzählung genau dort, wo die letzte endet: im falschen Frühling, im April. Söderbergs Zeit ist immer der grausamste Monat.
Hjalmar Söderberg: "Die Spieler". Zwölf Erzählungen und ein Roman. Aus dem Schwedischen von Güner Dallmann und Helen Opatka. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000. 367 S., geb., 49,50 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abtauchen in die Grüfte: Hjalmar Söderbergs Erzählungen / Von Heinrich Detering
Welch eine Zeit! In den Gassen der Stockholmer Altstadt liegt eine schwüle Abenddämmerung; gedämpfte Musik klingt "von weit her, gleichsam wie von unten, von unten herauf"; und in wenigen Schritten führt der Erzähler seine Leser hinauf in die Beletage, vorbei am grünen Kabinett und dem Rauchzimmer hinein in einen "Salon, der von elektrischem Licht sprüht". Hier tragen die jüngeren Herren weiße Blumen im Knopfloch, die älteren Orden (unter denen sich freilich hier und da ein "ausländischer Schwindlerorden" findet); die Damen trinken aus Kristallgläsern und zünden sich eine "Henry Clay" an, abseits sitzt, höhnisch und müde, ein Dichter. Zwischen Marmor und Stuck, Boudoir und Brokat dreht sich das Gespräch um die großen Fragen des eben verebbten Naturalismus - um Ehebruch und die Existenz der Seele, um Materialismus, Utilitarismus und Wagner-Opern.
Welch eine Zeit! Noch scheint die soziale Frage ein einfacher Fall, aber zugleich bedenkt man gerührt die Einsamkeit der "Prinzessinnen und Droschkenkutscher". Noch ist der Anblick einer Welt aus Machtwille, Geilheit und Gier grell und schockierend, ebendeshalb aber weckt er schon wollüstiges Schaudern. Noch wird die Existenz der menschlichen Seele überlegen geleugnet, und doch beginnt eine verfeinerte Stimmungskunst deren zarteste Bewegungen mit analytischer Präzision aufzuzeichnen. Das neunzehnte Jahrhundert zerfällt, und über seinen Trümmern erheben sich die Traumwelten der Neuromantik.
Es ist die Großstadtwelt Stockholms, in der Hjalmar Söderbergs mondäne Desillusionsgeschichten spielen. Wenn es dennoch einmal hinausgeht in die schwedische Sommerlandschaft, dann steht die Luft still, und auf dem Fluß treibt träge ein Kahn, in dem ein träumendes Mädchen liegt, "mit nackten Armen". Drinnen wie draußen aber herrscht dieselbe Welt des Ennui, über der ein fahler Abendhimmel leuchtet, "bleich und grün wie eine gewaschene Leiche". Eine vornehme Traurigkeit umgibt die müden Lebens- und Sterbenskünstler, von denen diese Welt bevölkert wird. Einer von ihnen ist der arme Doktor Henck, ein noch junger Arzt mit bescheidenen Einkünften und Ehemann einer eleganten Frau. Der leiht sich am Weihnachtsabend den Pelzmantel seines bessergestellten Freundes aus. Angetan mit dem luxuriösen Kleidungsstück, spürt er unversehens vergessene Jugendkraft in sich aufsteigen. Erfüllt von neuer Lebenslust, fiebert er dem Empfang durch seine Frau entgegen, der tatsächlich ungleich liebevoller ausfällt als gewöhnlich: Im dunklen Hausflur schmiegt sie sich an den Pelzkragen und flüstert zärtlich, ihr Mann sei noch nicht daheim. Was bis hierher nur eine sarkastische Anekdote wäre, gewinnt durch den Schlußabschnitt novellistische Größe. Da sehen wir den Doktor tags darauf bei Whisky und Zigarren, unterm Weihnachtsbaum, im Gespräch mit jenem Freund. Scheinbar arglos bedankt er sich für "all die Freundlichkeit, die du in der letzten Zeit mir und meiner Frau erwiesen hast". Als der andere verlegen beiseite blickt, fügt der Doktor einen besonderen Dank für den Pelz hinzu: "Er hat mir die letzten Sekunden Glück geschenkt, die ich im Leben empfinden durfte." Das sind die letzten Worte der Erzählung; zwischen der flüchtigen Illusion eines unmöglichen Glücks und einem stillen Sterben, das nicht mehr ausgesprochen werden muß, öffnet sich eine ganze Welt des Fin de siècle.
Nicht das Glück suchten manche Menschen, räsoniert einer dieser Enttäuschten, sondern nur "etwas Form und Stil für ihr Unglück". Das könnte eine Formel für Söderbergs Erzählkunst abgeben. In der kühlen Eleganz und manchmal beißenden Schärfe seiner Gesellschaftsporträts und Seelenlandschaften artikuliert sich das Unglück einer Epoche. Aus Abscheu vor den enttäuschten Gefühlen treten dem Erzähler die Tränen in die Augen. Aus Verachtung für "den Schwindel des ganzen modernen Gesellschaftslebens" gewinnt er Pointen, mit denen er dieses Gesellschaftsleben einige Abende lang bezaubert. Eben wegen dieser heimlichen Leidensgemeinschaft freilich erliegt der Beobachter gelegentlich der Gefahr, die Balance von sentimentalem Zynismus und Lakonie zu verlieren; dann gerät selbst dem stilsicheren Söderberg die Pointe zur Pose.
Vor allem "Doktor Glas", sein oft als Hauptwerk gerühmter kleiner Großstadtroman, erweist sich beim Wiederlesen als zwar respektables, aber doch ein wenig angestaubtes Kunststück. Denn daß der freigeistige und unglücklich liebende Tagebuchschreiber, der hier über Moral und Unmoral nach dem "Tode Gottes" philosophiert und schließlich die Apologie eines Mordes konstruiert, den er infolgedessen auch begeht - daß dieser Schreiber von ganz anderen Mächten angetrieben wird als einem vorurteilsfreien Intellekt, daß er aus tief protestantischer Gewissensnot und enttäuschtem Begehren handelt und daß er darum am Ende nicht als befreiter Übermensch triumphieren, sondern im Elend verdämmern wird: das zu bemerken fällt uns nach einem Jahrhundert freudianischen Trainings leichter als den vor Staunen und Erregung bebenden Zeitgenossen.
So gescheit Söderberg hier Tiefenpsychologie und Gesellschaftsanalyse arrangiert, so wenig überrascht uns noch diese Melange aus Kierkegaard und Maupassant, aus Baudelaire, Dostojewski und sehr viel Nietzsche. Während es also mit dem Roman hinabgeht in die Grüfte der frühen Moderne, haben die kürzeren Erzählungen mit der Zeit an Lebendigkeit eher noch gewonnen. Das gilt für die frühe Kurzprosa, noch mehr aber für deren späte Reprisen. Im Jahr 1929, als sein Stil schon nicht mehr gefragt ist und er sich politischer Publizistik zugewandt hat, läßt Söderberg ein letztes Mal "jene Zeit der späten neunziger Jahre" erwachen. Beinahe wie im Selbstgespräch zaubert er in "Aprilveilchen" noch einmal einen erotischen Reigen aus Sehnsucht, Zufall und Verrat - eine perfekt inszenierte Choreographie der Irrungen, über deren Schärfe schon der müde humoristische Glanz eines Spätwerks liegt.
Welch eine Zeit! Ein Hauch von Hofmannsthal weht durch diese Stockholmer Interieurs; zuweilen liegt ein schweres Parfüm von Bang in der Luft, und es mischt sich sonderbar mit dem scharfen, leicht ätzenden des jungen Thomas Mann. Daß neben diesen Namen derjenige Hjalmar Söderbergs beinahe in Vergessenheit geraten ist, scheint den Pessimismus des Doktor Glas zu bestätigen: "Das Gedächtnis der Menschheit ist lückenhaft und ungerecht." Dem der Deutschen hilft die "Andere Bibliothek" auf, für die Hans Magnus Enzensberger einen Zyklus aus zwölf Erzählungen und dem kleinen Roman zusammengestellt hat. Der früheste Text stammt von 1898, der letzte von 1929. In Wahrheit freilich kennt Söderbergs Welt keine Chronologie. Deshalb beginnt die erste Erzählung genau dort, wo die letzte endet: im falschen Frühling, im April. Söderbergs Zeit ist immer der grausamste Monat.
Hjalmar Söderberg: "Die Spieler". Zwölf Erzählungen und ein Roman. Aus dem Schwedischen von Güner Dallmann und Helen Opatka. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000. 367 S., geb., 49,50 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Um die Liebe kreisten fast alle hier versammelten Texte, läßt uns der Kritiker mit dem Kürzel "c. hr." wissen. Und präzisiert: nicht um die "sinnliche, lebensbejahende, sondern die problembehaftete Seite", deren Ursachen in den Erzählungen scharfsinnig analysiert würden. Der Rezensent taucht kurz in die Stockholmer Welt um 1900 ein, als dortige Bürger "noch Zeit hatten, morgens auszureiten und mit weiblichen Bekannten ein paar muntere Worte zu wechseln" und "von Verehrern geschenkte Veilchenbuketts am Dekolleté befestigt wurden". Doch vermisst man in diesen kurzen Impressionen des Rezensenten schmerzlich die beschriebene scharfsinnige Analyse Söderbergs. "Illusionslos und düster", findet der Rezensent, sei Söderbergs Welt und wir finden, Stockholmer Bürger um 1900 müßte man sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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