Das Schweigen des Vatikans zum millionenfachen Morden der Nazis ist und bleibt eine der großen Kontroversen unserer Zeit. Bis heute wird diskutiert, warum Papst Pius XII. öffentlich nicht deutlicher intervenierte. Mark Rieblings fesselnde Aufarbeitung der Rolle des Vatikans im Widerstand gegen Hitler fügt der historischen Wahrheitssuche neue, wichtige Facetten hinzu. Denn während Papst Pius noch Geburtstagskarten an Hitler schrieb, unterstützte er im Geheimen die Attentatspläne des deutschen militärischen Widerstands. Riebling beschreibt das doppelte Spiel des Papstes historisch präzise und zugleich "spannend und faszinierend" (Wall Street Journal).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2017Der Widerstand gegen Hitler schuf seine eigene Ökumene
Starke Behauptungen: Der Historiker Mark Riebling wirbt um Verständnis für das Verhalten von Papst Pius XII. im Zweiten Weltkrieg
Zu keinem anderen Thema der neueren Kirchengeschichte dürfte mehr publiziert worden sein als zur Haltung des Papstes Pius XII. in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Dabei liegen die Grundkoordinaten fest: Wie kaum ein Zweiter wusste der Pontifex um die prekäre Lage der Katholiken in Nazi-Deutschland, die auch durch eine Protestenzyklika ("Mit brennender Sorge", 1937) nicht verbessert worden war. In allen Phasen des Krieges war er bestens über die nationalsozialistischen Greueltaten im Reich und in den besetzten Gebieten im Bilde.
Obgleich er mehrfach seine Stimme zugunsten der Bedrängten erhob und seine Proteste seinerzeit in beiden Lagern verstanden wurden, blieb er doch seltsam unkonkret - das Wort "Jude" vermied er sorgsam. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth karikierte schon 1963 die päpstlichen Ansprachen ("Worte, Worte, (...) ohne etwas zu sagen") und ließ auch das Argument nicht gelten, dass offene Anklagen nur zu einer verschärften Verfolgung geführt hätten.
Der amerikanische Historiker Mark Riebling will den Papst nicht vom Vorwurf des Schweigens angesichts des Holocausts exkulpieren. Er räumt ein: "Angesichts der größten moralischen Krise der Welt schienen ihrem obersten moralischen Führer die Worte zu fehlen." Dennoch wirbt er in seinem Buch um Verständnis für Pius XII., indem er an dessen Nähe zum Widerstand gegen Hitler erinnert. So lässt sich anhand der Quellen rekonstruieren, dass die Mitglieder des militärischen Widerstands (Canaris, Beck, Oster, Halder) den Papst seit 1940 als Vermittler gegenüber den Alliierten einspannen wollten, um durch ihn Zusagen für einen gerechten Frieden nach einem Attentat auf Hitler zu erreichen.
Als Verbindungsmann diente der Münchner Rechtsanwalt Josef Müller, der zum Papst über den Jesuiten Robert Leiber und den ehemaligen Zentrumspolitiker Ludwig Kaas einen direkten Draht hatte. Die Verschwörer ließen dem Pontifex vor den Angriffen auf Norwegen, Belgien und Holland Warnungen zukommen, die an die Alliierten weitergeleitet werden sollten, um so ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen.
Pius XII. war über die gescheiterten Attentatspläne der Jahre 1940 bis 1944 detailliert informiert, um für die "Stunde X" als Fürsprecher Deutschlands bei den Alliierten bereitzustehen und als erster Souverän eine Übergangsregierung anzuerkennen. Es sei nicht ohne Einfluss auf die - von dem Katholiken Stauffenberg abgesehen - überwiegend protestantischen Verschwörer gewesen, dass sich der Papst entsprechend der katholischen Schultradition mit einem "Tyrannenmord" leichter tat. Als nach dem 20. Juli 1944 die Aktivitäten von Canaris und seiner Mitverschwörer bekannt wurden, fanden sich auch Dokumente, die ihre Verbindungen zum Vatikan belegten.
Ganz neu sind die hier vorgetragenen Fakten nicht. Riebling stützt sich im Wesentlichen auf die Arbeiten des amerikanischen Historikers Harold C. Deutsch, der 1945 im Auftrag des Pentagons überlebende Mitglieder des Widerstands gegen Hitler befragt und seine Erkenntnisse in den sechziger Jahren publiziert hat. Daneben standen dem Autor wichtige Quellen zu Leiber offen. Kaas dagegen hat all seine Dokumente beim Einmarsch der deutschen Truppen in Rom verbrannt. Auch wenn also insgesamt wenig Unbekanntes geboten wird, so wird doch das Bekannte geschickt zu einem Handlungsstrang verbunden - das Buch liest sich über weite Strecken wie ein Politthriller.
Suggestiv etwa sind die Schilderungen der Gespräche Dietrich Bonhoeffers mit den Papstvertrauten in den Ausgrabungen unter St. Peter oder der Installation einer hochmodernen Abhöranlage in der päpstlichen Privatbibliothek. Nicht weniger erfindungsreich agierten die "Spione des Papstes" im Reich, wie etwa der "Ausschuss für Ordensangelegenheiten" belegt. Als Kronzeuge wird Willy Brandt bemüht, der nach amerikanischen Geheimdienstquellen äußerte, die katholische Kirche sei "die verbreitetste und am besten organisierte Opposition in Deutschland" gewesen.
Riebling weist zu Recht darauf hin, dass der konfessionelle Gegensatz im Widerstand gegen Hitler an Bedeutung verlor. Dies zeigte sich nicht nur in der Zusammenarbeit von Vatikan und militärischem Widerstand, sondern auch im Engagement von Jesuiten (Delp, Rösch) im Kreisauer Kreis des preußisch-protestantischen Junkers Moltke. Es wäre zu ergänzen, dass sich die Annäherung der Konfessionen aufgrund des Drucks von Seiten des Regimes, dem beide Seiten ausgesetzt waren, auf verschiedenen Ebenen vollzog - ein Phänomen, das man als "Ökumene im Dritten Reich" beschreiben kann. Wenige Wochen nach Kriegsende berichtete Müller dem Papst von seiner Absicht, eine christlich-soziale Partei zu gründen, die aus den Erfahrungen des Widerstands überkonfessionell und der europäischen Einheit verpflichtet sein müsse. Müller wurde bald darauf Mitbegründer und erster Vorsitzender der CSU.
Dennoch bleiben Fragen. Sicher sprechen zahlreiche Indizien für das behauptete Engagement des Papstes. Aber dass dieser eingewilligt habe, "zum außenpolitischen Agenten der Verschwörer" zu werden, ist denn wohl doch zu stark. Pius XII. hat sich selbst nicht zugunsten des Widerstands oder der Alliierten öffentlich exponiert. Letztlich bleibt sein Agieren im Graubereich - so lange zumindest, bis das Vatikanische Archiv die Bestände dieses Pontifikates vollständig für die Forschung freigibt. Etwas besser dokumentiert ist übrigens die Beteiligung des Vatikans am Sturz Mussolinis.
Überdies könnte man das, was von Riebling offenkundig zur Verteidigung des Papstes vorgebracht wird, ebenso gegen diesen wenden: Wenn seine Ablehnung Hitlers derart entschieden war, dass er sich sogar auf geheime Kontakte mit dem deutschen Widerstand einließ und dessen Anliegen bei den Alliierten ventilierte, dann wiegt es umso schwerer, dass er die Weltöffentlichkeit nicht gegen den Diktator mobilisierte. Für deutsche Erwartungen bietet das Buch sicher eine deutlich zu positive Sicht auf Pius XII. Auch wenn man die Motive seines Handelns nach der Lektüre besser versteht: eine Absolution mag man dem "Papst des Schweigens" dennoch nicht erteilen.
JÖRG ERNESTI
Mark Riebling: "Die Spione des Papstes". Der Vatikan im Kampf gegen Hitler.
Aus dem Englischen von Enrico Heinmann und Norbert Juraschitz. Piper Verlag, München 2017. 496 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Starke Behauptungen: Der Historiker Mark Riebling wirbt um Verständnis für das Verhalten von Papst Pius XII. im Zweiten Weltkrieg
Zu keinem anderen Thema der neueren Kirchengeschichte dürfte mehr publiziert worden sein als zur Haltung des Papstes Pius XII. in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Dabei liegen die Grundkoordinaten fest: Wie kaum ein Zweiter wusste der Pontifex um die prekäre Lage der Katholiken in Nazi-Deutschland, die auch durch eine Protestenzyklika ("Mit brennender Sorge", 1937) nicht verbessert worden war. In allen Phasen des Krieges war er bestens über die nationalsozialistischen Greueltaten im Reich und in den besetzten Gebieten im Bilde.
Obgleich er mehrfach seine Stimme zugunsten der Bedrängten erhob und seine Proteste seinerzeit in beiden Lagern verstanden wurden, blieb er doch seltsam unkonkret - das Wort "Jude" vermied er sorgsam. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth karikierte schon 1963 die päpstlichen Ansprachen ("Worte, Worte, (...) ohne etwas zu sagen") und ließ auch das Argument nicht gelten, dass offene Anklagen nur zu einer verschärften Verfolgung geführt hätten.
Der amerikanische Historiker Mark Riebling will den Papst nicht vom Vorwurf des Schweigens angesichts des Holocausts exkulpieren. Er räumt ein: "Angesichts der größten moralischen Krise der Welt schienen ihrem obersten moralischen Führer die Worte zu fehlen." Dennoch wirbt er in seinem Buch um Verständnis für Pius XII., indem er an dessen Nähe zum Widerstand gegen Hitler erinnert. So lässt sich anhand der Quellen rekonstruieren, dass die Mitglieder des militärischen Widerstands (Canaris, Beck, Oster, Halder) den Papst seit 1940 als Vermittler gegenüber den Alliierten einspannen wollten, um durch ihn Zusagen für einen gerechten Frieden nach einem Attentat auf Hitler zu erreichen.
Als Verbindungsmann diente der Münchner Rechtsanwalt Josef Müller, der zum Papst über den Jesuiten Robert Leiber und den ehemaligen Zentrumspolitiker Ludwig Kaas einen direkten Draht hatte. Die Verschwörer ließen dem Pontifex vor den Angriffen auf Norwegen, Belgien und Holland Warnungen zukommen, die an die Alliierten weitergeleitet werden sollten, um so ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen.
Pius XII. war über die gescheiterten Attentatspläne der Jahre 1940 bis 1944 detailliert informiert, um für die "Stunde X" als Fürsprecher Deutschlands bei den Alliierten bereitzustehen und als erster Souverän eine Übergangsregierung anzuerkennen. Es sei nicht ohne Einfluss auf die - von dem Katholiken Stauffenberg abgesehen - überwiegend protestantischen Verschwörer gewesen, dass sich der Papst entsprechend der katholischen Schultradition mit einem "Tyrannenmord" leichter tat. Als nach dem 20. Juli 1944 die Aktivitäten von Canaris und seiner Mitverschwörer bekannt wurden, fanden sich auch Dokumente, die ihre Verbindungen zum Vatikan belegten.
Ganz neu sind die hier vorgetragenen Fakten nicht. Riebling stützt sich im Wesentlichen auf die Arbeiten des amerikanischen Historikers Harold C. Deutsch, der 1945 im Auftrag des Pentagons überlebende Mitglieder des Widerstands gegen Hitler befragt und seine Erkenntnisse in den sechziger Jahren publiziert hat. Daneben standen dem Autor wichtige Quellen zu Leiber offen. Kaas dagegen hat all seine Dokumente beim Einmarsch der deutschen Truppen in Rom verbrannt. Auch wenn also insgesamt wenig Unbekanntes geboten wird, so wird doch das Bekannte geschickt zu einem Handlungsstrang verbunden - das Buch liest sich über weite Strecken wie ein Politthriller.
Suggestiv etwa sind die Schilderungen der Gespräche Dietrich Bonhoeffers mit den Papstvertrauten in den Ausgrabungen unter St. Peter oder der Installation einer hochmodernen Abhöranlage in der päpstlichen Privatbibliothek. Nicht weniger erfindungsreich agierten die "Spione des Papstes" im Reich, wie etwa der "Ausschuss für Ordensangelegenheiten" belegt. Als Kronzeuge wird Willy Brandt bemüht, der nach amerikanischen Geheimdienstquellen äußerte, die katholische Kirche sei "die verbreitetste und am besten organisierte Opposition in Deutschland" gewesen.
Riebling weist zu Recht darauf hin, dass der konfessionelle Gegensatz im Widerstand gegen Hitler an Bedeutung verlor. Dies zeigte sich nicht nur in der Zusammenarbeit von Vatikan und militärischem Widerstand, sondern auch im Engagement von Jesuiten (Delp, Rösch) im Kreisauer Kreis des preußisch-protestantischen Junkers Moltke. Es wäre zu ergänzen, dass sich die Annäherung der Konfessionen aufgrund des Drucks von Seiten des Regimes, dem beide Seiten ausgesetzt waren, auf verschiedenen Ebenen vollzog - ein Phänomen, das man als "Ökumene im Dritten Reich" beschreiben kann. Wenige Wochen nach Kriegsende berichtete Müller dem Papst von seiner Absicht, eine christlich-soziale Partei zu gründen, die aus den Erfahrungen des Widerstands überkonfessionell und der europäischen Einheit verpflichtet sein müsse. Müller wurde bald darauf Mitbegründer und erster Vorsitzender der CSU.
Dennoch bleiben Fragen. Sicher sprechen zahlreiche Indizien für das behauptete Engagement des Papstes. Aber dass dieser eingewilligt habe, "zum außenpolitischen Agenten der Verschwörer" zu werden, ist denn wohl doch zu stark. Pius XII. hat sich selbst nicht zugunsten des Widerstands oder der Alliierten öffentlich exponiert. Letztlich bleibt sein Agieren im Graubereich - so lange zumindest, bis das Vatikanische Archiv die Bestände dieses Pontifikates vollständig für die Forschung freigibt. Etwas besser dokumentiert ist übrigens die Beteiligung des Vatikans am Sturz Mussolinis.
Überdies könnte man das, was von Riebling offenkundig zur Verteidigung des Papstes vorgebracht wird, ebenso gegen diesen wenden: Wenn seine Ablehnung Hitlers derart entschieden war, dass er sich sogar auf geheime Kontakte mit dem deutschen Widerstand einließ und dessen Anliegen bei den Alliierten ventilierte, dann wiegt es umso schwerer, dass er die Weltöffentlichkeit nicht gegen den Diktator mobilisierte. Für deutsche Erwartungen bietet das Buch sicher eine deutlich zu positive Sicht auf Pius XII. Auch wenn man die Motive seines Handelns nach der Lektüre besser versteht: eine Absolution mag man dem "Papst des Schweigens" dennoch nicht erteilen.
JÖRG ERNESTI
Mark Riebling: "Die Spione des Papstes". Der Vatikan im Kampf gegen Hitler.
Aus dem Englischen von Enrico Heinmann und Norbert Juraschitz. Piper Verlag, München 2017. 496 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mark Rieblings fesselnde Aufarbeitung der Rolle des Vatikans im Widerstand gegen Hitler fügt der historischen Wahrheitssuche neue, wichtige Facetten hinzu. (...) Riebling beschreibt das doppelte Spiel des Papstes historisch präzise und zugleich spannend und faszinierend.", Passauer Neue Presse, 18.12.2017