Big Data trifft Big Beasts: Wie neueste Technologien unser Wissen über das verborgene Leben der Wale radikal verändern.
Nachdem er den Zusammenstoß mit einem Buckelwal nur knapp überlebt hat - das Video, wie dieser direkt vor ihm in die Höhe schießt und auf seinem Kajak landet, ging viral -, lässt Filmemacher Tom Mustill die Faszination nicht mehr los. Er besucht Wissenschaftler:innen und Expert:innen auf der ganzen Welt, sammelt unzählige Geschichten über Begegnungen zwischen Mensch und Wal und erkennt: Wir beginnen gerade erst, diese hochintelligenten Meeressäuger zu erforschen und zu verstehen.
Der Kommunikationssinn der Wale ist extrem ausgeprägt: Ihr vielfältiger Gesang entwickelt sich wie Sprache ständig weiter. Dank neuester Technologie gibt es inzwischen Möglichkeiten, Walgeräusche auch in entlegensten Gewässern aufzuzeichnen, mit künstlicher Intelligenz auszuwerten und Muster zu entdecken, die kein menschliches Ohr wahrnehmen würde. Doch das ist erst der Anfang. Tom Mustill zeigt, dass sich tatsächlich eine Revolution in der Tierkommunikation anbahnt - und was das für unsere Welt bedeuten könnte.
Nachdem er den Zusammenstoß mit einem Buckelwal nur knapp überlebt hat - das Video, wie dieser direkt vor ihm in die Höhe schießt und auf seinem Kajak landet, ging viral -, lässt Filmemacher Tom Mustill die Faszination nicht mehr los. Er besucht Wissenschaftler:innen und Expert:innen auf der ganzen Welt, sammelt unzählige Geschichten über Begegnungen zwischen Mensch und Wal und erkennt: Wir beginnen gerade erst, diese hochintelligenten Meeressäuger zu erforschen und zu verstehen.
Der Kommunikationssinn der Wale ist extrem ausgeprägt: Ihr vielfältiger Gesang entwickelt sich wie Sprache ständig weiter. Dank neuester Technologie gibt es inzwischen Möglichkeiten, Walgeräusche auch in entlegensten Gewässern aufzuzeichnen, mit künstlicher Intelligenz auszuwerten und Muster zu entdecken, die kein menschliches Ohr wahrnehmen würde. Doch das ist erst der Anfang. Tom Mustill zeigt, dass sich tatsächlich eine Revolution in der Tierkommunikation anbahnt - und was das für unsere Welt bedeuten könnte.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Man lernt nicht nur viel über Tiersprachen aus diesem Buch, so Rezensentin Pia Heinemann, Tom Mustill ist außerdem ein guter Geschichtenerzähler. Zum Beispiel geht es in diesen Anekdoten, lernen wir, um Wale, die möglicherweise bewusst menschliches Leben schonen, oder auch darüber, wie es sich anfühlt, neben einem Wal zu schwimmen. Der Biologe stellt in diesem Buch laut Heinemann das Feld der Bioakustik vor, also die Erforschung tierischer Kommunikation, die unter anderem mit KI-Unterstützung vorangetrieben wird. Eigenwillige Forscher haben Auftritte, stellt die Rezensentin dar, man erfährt sowohl etwas über den Penis eines Wals als auch über den Unterschied zwischen menschlichen und tierischen Sprachen. Ziel der Forschung ist, weiß die von dem Buch angetane Heinemann nach der Lektüre zu berichten, nichts weniger als ein Google Translate für die Sprache der Pottwale.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2024Ein Google-Translate für Wale?
Wenn Meeresrobotik, Biologie, Linguistik und KI gemeinsame Sache machen: Tom Mustill zeigt, wie die Erforschung der Tierkommunikation voranschreitet.
Ein Buckelwal springt aus dem Wasser und landet fast auf einem Kajak. Die Gischt spritzt hoch, die zwei Kajakfahrer werden aus dem Boot geschleudert, aber ihnen passiert nichts weiter. Der Wal schwimmt davon. Ende der Geschichte.
Und Anfang einer viel größeren, die Tom Mustill in seinem Buch "Die Sprache der Wale" aufgeschrieben hat. Der Biologe und Tierfilmer ist einer der beiden Kajakfahrer, und nach dem ersten Schreck beginnt seine Mission. Denn eine befreundete Walforscherin, Joy Reidenberg, bringt ihn, nachdem sie auf Youtube ein Video des Vorfalls gesehen hat, auf die Idee, dass er nicht nur Glück gehabt hat: Der Wal habe im Sprung eine ungewöhnliche Bewegung ausgeführt. In letzter Sekunde hat er sich so gedreht, dass seine Masse nicht direkt auf dem Boot, sondern daneben landet: "Ich glaube, ihr zwei habt überlebt, weil der Wal versucht hat, euch nicht zu treffen."
Es ist kaum erstaunlich, dass ein Biologe nach einem solchen Erlebnis und der Spekulation einer Forscherin über das rücksichtsvolle Verhalten eines Wals verstehen will, was wirklich passiert ist. Mustill telefoniert also mit Wissenschaftlern, besucht sie, lässt sich von ihnen die Anatomie und das Verhalten der Meeressäuger erklären. Seine Leser wiederum nimmt er mit auf eine Reise in die Welt der Cetaceen, führt sie zu entlegenen Orten und stellt ihnen skurrile Forscher vor. Etwa Joy Reidenberg, die Mustill anruft, als sie zu einem verendeten Wal am Strand von Kent gerufen wird, um seine Todesursache zu bestimmen. Mustill fährt hin und wird Teil einer bizarren Nekroskopie, bei der die Wissenschaftlerin das Tier zerlegt, tief in seine Innereien eintaucht und erklärt, was sie sieht. Und so erfährt der Leser detailliert, wie der Stimmapparat (aber auch der Penis) eines Wales aufgebaut ist und wieso das Walrat, die fettreiche Substanz im Kopf, wichtig für die oft viele Kilometer unter Wasser überspannende Kommunikation der großen Meeressäugetiere ist.
Auch wenn die Reise von Tom Mustill eigentlich den Walen gilt, erzählt er vieles über die Grundsätze von Kommunikation, sei es tierische oder menschliche. Wie lernt eine Maus kommunizieren? Nutzt sie verschiedene Laute, um Angst, Wohlbefinden oder Aggression auszudrücken? Wie schafft es ein Menschenbaby vom Weinen übers Quäken bis zum Erlernen einer Sprache? Und was unterscheidet menschliche Sprache von der Kommunikation der Tiere?
Mustill unternimmt auch immer wieder Ausflüge in die Geschichte der Bioakustik-Forschung, etwa zu den ersten Aufnahmen von nichtmenschlichen Stimmen, die der Ornithologe Arthur Allen am Ufer des Cayuaga-Sees in Ithaca, New York, aufgenommen hat. Allen arbeitete damals an der Cornell University, der bis heute weltweit wichtigsten Institution zur Erforschung des Vogelgesangs. Er wusste, auf welchem Baum sich jeden Tag eine Singammer niederließ, um ihre Triller in die Welt zu schmettern. Der Gesang wurde aufgezeichnet - und setzte den Grundstein zu einer Stimmenbibliothek, die ständig und immer schneller wächst. Darunter sind Tondokumente von Tieren, die inzwischen ausgestorben sind, etwa Rufe des Elfenbeinspechts, die Allen bei einer Expedition nach Louisiana aufgenommen hatte.
In einem Kapitel erzählt Mustill von einer Konferenz der International Bioacustic Society, an der er teilnehmen konnte. Die Bioakustik ist ein wachsendes Forschungsfeld und hat sich längst von den schrulligen Wissenschaftlern, die mit Mikrofonen durch die Wälder schlichen, entfernt. Heute nehmen Mikrofone am Meeresboden, in Baumwipfeln des Amazonas oder in abgelegenen Höhlen auf, wenn jemand piept oder fiept. Dank der Miniaturisierung können Tonaufnahmen vom Rücken eines Vogels oder Wals in die Labore übermittelt werden. Zudem helfen KI und maschinelles Lernen, die Abermillionen Tondateien zu sichten. So können einzelne Wale, die an verschiedenen Orten aufgenommen wurden, anhand ihres charakteristischen Gesangs oder Pfiffs wiedererkannt und ihre Route bestimmt werden.
Die Maschinen können zudem schneller als menschliche Forscher Muster in den Tonaufnahmen erkennen. In Kombination mit automatischen Programmen, die ohne Grammatik oder Wörterbuch (und ohne irgendetwas zu verstehen) übersetzen können, werden bei den Bioakustikern Erwartungen geweckt: Wenn nur genügend gute Daten da sind, hoffen sie, dann ist es möglich, die Sprache der Tiere zu entschlüsseln.
Ein ambitioniertes Projekt will diesen Traum für Wale nun Realität werden lassen, die Cetacean Translation Initiative. Und natürlich erklärt Tom Mustill genau und dennoch leicht lesbar, wie die Experten für Walbiologie, Meeresrobotik, Linguistik, Kryptographie und Künstliche Intelligenz vorgehen. Sie nehmen jede Lautäußerung und Bewegung von Pottwalen in der Karibik auf und kombinieren die Daten miteinander. Ihr Ziel ist ein Google-Translate für die Pottwalsprache. 2026 wollen sie fertig sein.
Zudem ist Mustill ein guter Geschichtenerzähler: Am Ende des Buchs beschreibt er eine weitere Begegnung mit einem Buckelwal. Dieser springt nicht, sondern singt. Mustill schwimmt neben dem Wal im Wasser, die Schallwellen laufen durch seinen Körper hindurch. Es fühle sich an, schreibt er, als ob man sich bei einem Rave gegen die Lautsprecher presst. Der Wal singt, taucht auf, um zu atmen, taucht ab und singt weiter. Mehrmals hintereinander. Mustill erkennt ein Muster, das Lied endet immer mit derselben Sequenz. Er wisse nicht, was das Lied bedeutet, sagt Mustill. Aber über die Kommunikation der Tiere hat er dennoch manches gelernt. PIA HEINEMANN
Tom Mustill: "Die Sprache der Wale". Eine Reise in die Welt der Tierkommunikation.
Aus dem Englischen von Christel Dormagen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 400 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Meeresrobotik, Biologie, Linguistik und KI gemeinsame Sache machen: Tom Mustill zeigt, wie die Erforschung der Tierkommunikation voranschreitet.
Ein Buckelwal springt aus dem Wasser und landet fast auf einem Kajak. Die Gischt spritzt hoch, die zwei Kajakfahrer werden aus dem Boot geschleudert, aber ihnen passiert nichts weiter. Der Wal schwimmt davon. Ende der Geschichte.
Und Anfang einer viel größeren, die Tom Mustill in seinem Buch "Die Sprache der Wale" aufgeschrieben hat. Der Biologe und Tierfilmer ist einer der beiden Kajakfahrer, und nach dem ersten Schreck beginnt seine Mission. Denn eine befreundete Walforscherin, Joy Reidenberg, bringt ihn, nachdem sie auf Youtube ein Video des Vorfalls gesehen hat, auf die Idee, dass er nicht nur Glück gehabt hat: Der Wal habe im Sprung eine ungewöhnliche Bewegung ausgeführt. In letzter Sekunde hat er sich so gedreht, dass seine Masse nicht direkt auf dem Boot, sondern daneben landet: "Ich glaube, ihr zwei habt überlebt, weil der Wal versucht hat, euch nicht zu treffen."
Es ist kaum erstaunlich, dass ein Biologe nach einem solchen Erlebnis und der Spekulation einer Forscherin über das rücksichtsvolle Verhalten eines Wals verstehen will, was wirklich passiert ist. Mustill telefoniert also mit Wissenschaftlern, besucht sie, lässt sich von ihnen die Anatomie und das Verhalten der Meeressäuger erklären. Seine Leser wiederum nimmt er mit auf eine Reise in die Welt der Cetaceen, führt sie zu entlegenen Orten und stellt ihnen skurrile Forscher vor. Etwa Joy Reidenberg, die Mustill anruft, als sie zu einem verendeten Wal am Strand von Kent gerufen wird, um seine Todesursache zu bestimmen. Mustill fährt hin und wird Teil einer bizarren Nekroskopie, bei der die Wissenschaftlerin das Tier zerlegt, tief in seine Innereien eintaucht und erklärt, was sie sieht. Und so erfährt der Leser detailliert, wie der Stimmapparat (aber auch der Penis) eines Wales aufgebaut ist und wieso das Walrat, die fettreiche Substanz im Kopf, wichtig für die oft viele Kilometer unter Wasser überspannende Kommunikation der großen Meeressäugetiere ist.
Auch wenn die Reise von Tom Mustill eigentlich den Walen gilt, erzählt er vieles über die Grundsätze von Kommunikation, sei es tierische oder menschliche. Wie lernt eine Maus kommunizieren? Nutzt sie verschiedene Laute, um Angst, Wohlbefinden oder Aggression auszudrücken? Wie schafft es ein Menschenbaby vom Weinen übers Quäken bis zum Erlernen einer Sprache? Und was unterscheidet menschliche Sprache von der Kommunikation der Tiere?
Mustill unternimmt auch immer wieder Ausflüge in die Geschichte der Bioakustik-Forschung, etwa zu den ersten Aufnahmen von nichtmenschlichen Stimmen, die der Ornithologe Arthur Allen am Ufer des Cayuaga-Sees in Ithaca, New York, aufgenommen hat. Allen arbeitete damals an der Cornell University, der bis heute weltweit wichtigsten Institution zur Erforschung des Vogelgesangs. Er wusste, auf welchem Baum sich jeden Tag eine Singammer niederließ, um ihre Triller in die Welt zu schmettern. Der Gesang wurde aufgezeichnet - und setzte den Grundstein zu einer Stimmenbibliothek, die ständig und immer schneller wächst. Darunter sind Tondokumente von Tieren, die inzwischen ausgestorben sind, etwa Rufe des Elfenbeinspechts, die Allen bei einer Expedition nach Louisiana aufgenommen hatte.
In einem Kapitel erzählt Mustill von einer Konferenz der International Bioacustic Society, an der er teilnehmen konnte. Die Bioakustik ist ein wachsendes Forschungsfeld und hat sich längst von den schrulligen Wissenschaftlern, die mit Mikrofonen durch die Wälder schlichen, entfernt. Heute nehmen Mikrofone am Meeresboden, in Baumwipfeln des Amazonas oder in abgelegenen Höhlen auf, wenn jemand piept oder fiept. Dank der Miniaturisierung können Tonaufnahmen vom Rücken eines Vogels oder Wals in die Labore übermittelt werden. Zudem helfen KI und maschinelles Lernen, die Abermillionen Tondateien zu sichten. So können einzelne Wale, die an verschiedenen Orten aufgenommen wurden, anhand ihres charakteristischen Gesangs oder Pfiffs wiedererkannt und ihre Route bestimmt werden.
Die Maschinen können zudem schneller als menschliche Forscher Muster in den Tonaufnahmen erkennen. In Kombination mit automatischen Programmen, die ohne Grammatik oder Wörterbuch (und ohne irgendetwas zu verstehen) übersetzen können, werden bei den Bioakustikern Erwartungen geweckt: Wenn nur genügend gute Daten da sind, hoffen sie, dann ist es möglich, die Sprache der Tiere zu entschlüsseln.
Ein ambitioniertes Projekt will diesen Traum für Wale nun Realität werden lassen, die Cetacean Translation Initiative. Und natürlich erklärt Tom Mustill genau und dennoch leicht lesbar, wie die Experten für Walbiologie, Meeresrobotik, Linguistik, Kryptographie und Künstliche Intelligenz vorgehen. Sie nehmen jede Lautäußerung und Bewegung von Pottwalen in der Karibik auf und kombinieren die Daten miteinander. Ihr Ziel ist ein Google-Translate für die Pottwalsprache. 2026 wollen sie fertig sein.
Zudem ist Mustill ein guter Geschichtenerzähler: Am Ende des Buchs beschreibt er eine weitere Begegnung mit einem Buckelwal. Dieser springt nicht, sondern singt. Mustill schwimmt neben dem Wal im Wasser, die Schallwellen laufen durch seinen Körper hindurch. Es fühle sich an, schreibt er, als ob man sich bei einem Rave gegen die Lautsprecher presst. Der Wal singt, taucht auf, um zu atmen, taucht ab und singt weiter. Mehrmals hintereinander. Mustill erkennt ein Muster, das Lied endet immer mit derselben Sequenz. Er wisse nicht, was das Lied bedeutet, sagt Mustill. Aber über die Kommunikation der Tiere hat er dennoch manches gelernt. PIA HEINEMANN
Tom Mustill: "Die Sprache der Wale". Eine Reise in die Welt der Tierkommunikation.
Aus dem Englischen von Christel Dormagen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 400 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tom Mustill zeigt, wie die Erforschung der Tierkommunikation voranschreitet. Zudem ist er ein guter Geschichtenerzähler. Pia Heinemann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240417