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Die vorliegende Arbeit ist eine grundlegende Studie zur Bedeutung der Kabbala-Rezeption bei der Ausbildung der ästhetischen Moderne. Friedrich Schlegel notiert 1799 unter dem Titel 'Zur Rhetorik und Poesie' - "Die Ästhetik = Kabbala - eine andre gibts nicht." Den Berührungspunkt von Kabbala und Ästhetik bildet eine Theorie der Sprache, die durch die hebräische Sprachmetaphysik der Kabbala einerseits und die ästhetischen und rhetorischen Parameter der poetischen Sprache andererseits bestimmt ist.

Produktbeschreibung
Die vorliegende Arbeit ist eine grundlegende Studie zur Bedeutung der Kabbala-Rezeption bei der Ausbildung der ästhetischen Moderne. Friedrich Schlegel notiert 1799 unter dem Titel 'Zur Rhetorik und Poesie' - "Die Ästhetik = Kabbala - eine andre gibts nicht." Den Berührungspunkt von Kabbala und Ästhetik bildet eine Theorie der Sprache, die durch die hebräische Sprachmetaphysik der Kabbala einerseits und die ästhetischen und rhetorischen Parameter der poetischen Sprache andererseits bestimmt ist.
Autorenporträt
Andreas B. Kilcher, geb. 1963; Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Basel und München; Promotion in Basel und Jerusalem; von 1993 bis 1996 wissenschaftlicher Assistent für Neuere deutsche Literatur in Basel; Prof. für neuere deutsche Literatur in Tübingen
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.1998

Das himmlische Scrabble
Am Anfang spielte Gott mit Buchstaben, am Ende der Leser: Andreas Kilcher verwandelt die Kabbala in die Rhetorik

Jede Kultur, die etwas auf sich hält, verfügt über - mindestens - einen Ursprungsmythos. Das Judentum kennt neben einer doppelten Schöpfungsgeschichte mehrere Mythen der Spracherfindung: In der Tora tritt Adam als Namengeber der Geschöpfe auf, eine Haggada berichtet, wie sich die Buchstaben vor dem "Heiligen" aufstellen und sich ihm als Instrumente der Weltschöpfung andienen. Erwählt wird der Buchstabe Beth, das erste Wort der Bibel lautet "Bereschit: im Anfang". Am Anfang also, noch bevor er die Welt schuf, spielte Gott mit Buchstaben. Die Tora umfaßt nicht nur den Bericht von der Erschaffung der Welt, sie liefert selbst das Muster der Schöpfung. Wenn aber der Text vor der Welt war, wird die Welt als Text lesbar.

Für die jüdische Mystik, insbesondere die Kabbala, ist eine Auffassung der Sprache kennzeichnend, nach der diese die Ordnung der Dinge nicht repräsentiert, sondern konstituiert. Diesen emphatischen Sprachbegriff deutet Andreas Kilcher als "Bedingung der Möglichkeit" dafür, daß mit der Kabbala eine religiöse Deutungstradition zum Organon weltlichen Wissens, ein metaphysisches Sprachmodell zur Metapher einer poetischen Sprache werden konnte. Seine Studie zeichnet die Geschichte der Rezeption der Kabbala von der Frühen Neuzeit bis zur späten Moderne als fortschreitende "Transformation von Mythos in Stil, von Mystik in Ästhetik, von Theologie in Rhetorik" nach.

Kilcher hat auch eine Archäologie der Gegenwartsphilosophie im Sinn. In seine Darstellung der hebräischen Kabbala des Mittelalters übernimmt er die forschungsübliche Unterscheidung zwischen einer theosophischen und einer ekstatischen Kabbala. Beiden gemeinsam ist das Verständnis der Sprache als der "metaphysischen Form der Dinge", sie unterscheiden sich hinsichtlich dessen, was sie als die Grundelemente der göttlichen Grammatik annehmen: die zehn Sefiroth oder die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Sie unterscheiden sich auch in der "Richtung" ihrer Hermeneutik. Die vertikal ausgerichtete Hermeneutik der theosophischen Mystik befragt den bestehenden Text auf seinen verborgenen Sinn hin, die horizontale der ekstatischen Mystik zielt auf Reorganisation der Tora: "Der absolute Text ist nicht schon da, sondern muß erst hergestellt werden." In dieser von ihm zugespitzten Unterscheidung von Tiefenhermeneutik und horizontaler Semiose sieht Kilcher zugleich die Kluft zwischen zwei grundsätzlichen Spielarten der Rezeption von Texten, die Alternative von "Entsprachlichung" und "Versprachlichung", bezeichnet.

Seine Reflexionen zur Methode lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig, auch nicht an Klarheit darüber, welcher dieser hermeneutischen Positionen die Sympathie des Autors gilt. Wenn er etwa das Projekt der Gadamerschen Hermeneutik knapp und vernichtend als den Versuch umreißt, "die Sprache wegzunehmen, um an die Bedeutung zu gelangen", plädiert Kilcher rhetorisch geschickt für jene "rhetorische" Lesart, die er für den philosophisch reflektierteren und ästhetisch fruchtbareren Ansatz hält. Die Kabbala selbst gibt das "Modell einer Sprachtheorie und -praxis" ab, nach der "die Bedeutsamkeit der Sprache gerade in ihren semiologischen Eigenschaften besteht".

Mit dieser (anti)hermeneutischen Vorentscheidung wendet sich Kilcher auch gegen Gershom Scholems Differenzierung zwischen "echter" und "unechter" Kabbala und dessen disqualifizierende Rede von einer "Pseudo-Kabbala". Kilcher bekennt sich ausdrücklich zum produktiven Mißverständnis als einer "hermeneutikkritischen Kategorie". Er möchte zeigen, "wie der Name der Kabbala zu einem verfügbaren Ort wurde, zu einer Chiffre, die mit den unterschiedlichsten Bedeutungen aufgeladen werden konnte, und unter der die verschiedensten theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Projekte präsentiert werden konnten".

Die vielfältigste Rezeption kabbalistischer Inhalte und Techniken erfolgte in der Frühen Neuzeit. Die Transposition der jüdischen, hebräischen in eine christliche, lateinische Kabbala lenkte die Aufmerksamkeit auf die bestimmte Sprache, in der die "linguistische Metaphysik" der Kabbala verfaßt ist. Sie führte so einerseits zur Würdigung des Hebräischen als der heiligen Sprache der Offenbarung und einer möglichen Natursprache, andererseits zu von Raimundus Lullus bis Leibniz wiederholten Bemühungen um eine artifizielle philosophisch-mathematische Sprache, eine characteristica universalis. Die Frühe Neuzeit las die kabbalistischen Texte im Sinne einer "Theorie einer universalen Sprache und eines universalen Wissens". Neu war der Versuch, die Kabbala auf das "Buch" der Natur anzuwenden. Neben das philologische Wissen um die "Geheimnisse der Schrift" trat die naturmystische Kenntnis der "arcana der Dinge".

Salomon Maimons Charakterisierung der Kabbala als einer "Kunst, mit Vernunft zu rasen", vereint den Reiz, den rationales Kalkül auf das Zeitalter der Vernunft ausübte, mit der Warnung vor dem Wahn einer kombinatorischen Nachschöpfung des Weltzusammenhangs. Die Aufklärung definierte sich selbst geradezu als "Anti-Kabbala" (Kant). Gerade dies macht sie als Epoche der kritischen Rezeption besonders interessant. Kritik bedeutet Unterscheidung. Wie die jüdische Tradition eine schriftliche Tora, eine Art imaginären Urtext, von der mündlichen unterschied, unter die auch der überlieferte schriftliche Tora-Text fiel, wie die christliche Kabbala ihrerseits den "Geist" der Kabbala von ihrem "Buchstaben" trennte, wobei der Geist sich als ein esoterisches Christentum entpuppen sollte, so unterstellten die Aufklärer der Kabbala trotz ihrer mystischen und mythologischen Sprache einen "vernünftigen Kern und Gehalt". Diese philosophische Sublimation erwies sich jedoch als ebenso unhaltbar wie die christliche Interpretation. Sie wich einem ästhetischen Begriff der Kabbala. Schon die Aufklärung äußerte ihre Kritik, indem sie ästhetische Kategorien verwendete, den Kabbalisten etwa vorwarf, "grammaticalische Lustspiele" zu inszenieren. Gott darf mit Buchstaben spielen, die Wissenschaft der Menschen aber hat ernsthaft und sprachfrei zu sein.

Die Kabbala fand Eingang in Kompendien, die Kuriositäten versammelte, in Wörterbüchern erschien sie - wie im Titel des Schillerschen Dramas - als ein Synonym der Intrige. Nicht mehr der fromme Rabbiner, sondern der freche Betrüger galt als prominentester Vertreter der kabbalistischen Zunft: Cagliostro und Casanova beherrschten die Szene. In der Ironisierung durch den "aufgeklärten Okkultismus" schlug die Rettung der Kabbala in Kritik um.

Die Romantik dagegen zeigte sich fasziniert durch das, was schon die Frühe Neuzeit favorisierte: Sprachmetaphysik und Sprachmagie. Aus dem Schimpf- wurde wieder ein Zauberwort. Indem sie die Kabbala als Ursprung der Sprache und Urform des Wissens rehabilitierte, schöpfte die Romantik erstmals jenes "ästhetische Potential" aus, welches das kabbalistische Sprachmodell birgt. Sie tat dies allerdings mehr in der ästhetischen Theorie als in der poetischen Produktion. Sowohl Friedrich Schlegel als auch Novalis suchten in der Kabbala Winke für die Vermittlung zwischen Fichtescher Philosophie und hermetischer Tradition. Mit Schlegels Formel "Die Ästhetik = Kaballa, eine andre giebts nicht" ist Kilcher bei jenem rätselhaften Gleichheitszeichen angelangt, als dessen Explikation er seine Arbeit einleitend verstanden wissen wollte. Es scheint nun weit weniger kryptisch: In der Romantik wurde die Kabbala zum Paradigma einer neuen Sprache, die nicht mehr heilig und hebräisch ist, auch nicht die universale Sprache des Wissens, sondern eine poetische der Wendungen und Tropen.

Man kann zu Mythen des Ursprungs zurückkehren und die jeweils eigene säkularisierende Interpretation zur eigentlichen Intention des Urtextes erklären. Für Harold Bloom ist die Kabbala "immer schon die Theorie einer poetischen figurativen Sprache" gewesen. So findet die Kabbala, die ihrem hebräischen Namen nach nichts anderes als Überlieferung, Tradition und Rezeption ist, ihre Vollendung in einer "Tradition ohne Tradition", die sich durch "Fehllektüren und Traditionsbrüche" statt durch "Verstehensakte und Horizontverschmelzungen" fortschreibt. Es ist die Leistung von Kilchers Arbeit, daß sie diese Verkehrung des Begriffs als seine letzte Konsequenz, die Brechung als besonders produktive Art der Rezeption plausibel macht. Hier folgt aus dem Bekenntnis zur Fehlleistung in der Lektüre nicht Frivolität, sondern Feinsinn im Umgang mit den Texten. Das Buch widerlegt eindrucksvoll das Vorurteil, die philosophische oder literaturtheoretische Avantgarde müsse das gelehrte Gepäck abwerfen. MARTINA BRETZ

Andreas Kilcher: "Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma." Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 1998. VII, 403 S., geb., 98,- DM.

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