Die sog. 'Zweiquellentheorie' für die synoptischen Evangelien gilt heute als Konsens in der neutestamentlichen Exegese: Danach haben Matthäus und Lukas neben Markus auch noch eine zweite schriftliche Quelle benutzt. Da sie hauptsächlich Worte Jesu enthält, nennt man sie die Spruch- oder Logienquelle Q. Diese Quelle führt uns somit an die älteste heute greifbare Jesus-Überlieferung zurück. Daraus erklärt sich auch das große Interesse der neutestamentlichen Exegese an einer möglichst genauen Rekonstruktion. Von 1989 bis 1996 hat ein Team von 42 europäischen und nordamerikanischen Wissenschaftlern an ihrer exakten Rekonstruktion gearbeitet. Das Ergebnis wurde in einem umfangreichen Werk publiziert (Peeters Publishers/Leuven, 2001). Hier liegt nun die Studienausgabe für den allgemeinen Gebrauch vor. Sie bietet in synoptischer Gegenüberstellung den griechischen Text und die deutsche Übersetzung von Q und gibt in einer ausführlichen Einleitung über die Forschungsgeschichte und die Kriterien der Rekonstruktion des Textes Rechenschaft. Damit liegt ein unverzichtbares Basisbuch für die exegetische Arbeit am Neuen Testament und das Theologiestudium vor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2002Was Goldhagen einmal lesen sollte
Gleichzeitig mit Daniel Goldhagens umstrittener Diskussionsreise durch Deutschland, aber ohne Trommelwirbel, brachte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft die erste deutschsprachige Ausgabe eines der frühesten christlichen Dokumente auf den Markt, der sogenannten Spruchquelle Q: eines christlichen Dokuments aus dem Innern des antiken Judentums, eines Dokuments, in dem heftig innerjüdisch polemisiert und zugleich eine Wurzel abendländischen Pazifismus gelegt wurde (Paul Hoffmann [Hrsg.]: "Die Spruchquelle Q". Studienausgabe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002. 476 S., geb., 19,90 [Euro]). In der explosiven Situation vor und während des nahöstlichen Jüdischen Krieges gegen die Römer (66 bis 70 nach Christus) bildeten die Träger dieses Büchleins eine der wenigen pazifistischen Gruppen innerhalb Israels, die gegen das Eskalieren der Gewalt zu wirken suchten. Ihre Texte wurden im letzten Viertel des ersten Jahrhunderts von den Evangelisten Matthäus und Lukas aufgegriffen und vermochten so, über Jahrtausende hinweg, den abendländischen Wertekanon mitzubestimmen.
Sie waren fromme Juden, sie folgten den Vorschriften der Tora. Doch zugleich verkündeten sie Jesus von Nazareth als in naher Zukunft wiederkommenden Weltenrichter. Sie sammelten die Aussprüche, die von diesem Propheten umliefen. Sie predigten das von dem Nazarener propagierte Gottesbild - und zogen die ethischen Konsequenzen daraus: "Wie euer Vater barmherzig ist, so seid selber barmherzig." "Er läßt seine Sonne aufgehen über Schlechte und Gute", deshalb "liebt eure Feinde, damit ihr Kinder eures Vaters werdet". "Dem, der dich auf die Wange schlägt, halte auch die andere hin." Wer "Königreiche der Welt" begehre, lasse sich auf einen Pakt mit Satan ein. Die gewaltsame Machtprobe mit den Römern war für diese jüdischen Jesusanhänger keine Option.
Kein Wunder, wenn solch unbequeme Mahner nicht nur auf Gegenliebe stießen. Auf die Ablehnung reagierten sie ihrerseits mit deftiger - innerjüdischer - Polemik: "Diese Generation ist böse." Sie solle sich an einer Ausländerin wie der Königin von Saba ein Beispiel nehmen, die, anstatt Wahrheit zu verachten, dereinst Reisestrapazen nicht scheute, um Salomos Weisheit zu hören. Im Weltgericht werde "von dieser Generation" Israels das Blut aller Propheten "eingefordert" werden, die Israel in seiner langen Geschichte tötete. "Wehe euch, ihr baut die Grabdenkmäler für die Propheten, die eure Väter getötet haben." Starke Worte aus dem Mund von Juden - aber keine "antisemitischen" Äußerungen, wie Goldhagen glauben machen will.
In der innerjüdischen Streitkultur wurde stets mit scharfen Waffen gefochten. Und die Propheten, die dieses Spruchbüchlein zusammenstellten, zögerten nicht, auch ihre eigenen Jesus-gläubigen Anhänger innerhalb Israels mit dem Zorngericht Gottes zu bedrohen: "Wer zwar hört, aber nicht tut, baut sein Haus auf den Sand. Die Sturzbäche kommen, und der Einsturz ist gewaltig." Treulose Diener wird der Weltenrichter "vierteilen". Zimperlich waren sie nicht mit ihren Worten, diese Propheten, die sich innerhalb Israels auf Jesus beriefen.
Problematisch wurde ihre Polemik erst, als diese später in einer vornehmlich heidenchristlichen, von Israel abgenabelten Kirche hämisch zitiert wurde. Einem Evangelisten Matthäus, auch er Jude von Geburt und dem Toragehorsam verpflichtet, ist zugute zu halten, daß er die schroffen Gerichtsaussagen der Spruchquelle Q gegen Israel noch nicht aus schadenfroher Distanz überlieferte, sondern seinen von den Synagogen bereits getrennten Christengemeinden ein ebensolches Gericht in Aussicht stellte, wenn sie nicht "Gerechtigkeit" übten. Bei Judenchristen wie Matthäus und Paulus war Kritik an Israel unauflösbar mit christlicher Selbstkritik verbunden, was eine unbequeme, aber bleibende Herausforderung des Neuen Testaments für die abendländische Kultur darstellt.
"Antisemitisch" wurden markige Zitate wie die aus der Spruchquelle Q erst dort, wo sie in der abendländischen Rezeption des Neuen Testaments ohne solche Selbstkritik und ohne die neutestamentliche Besinnung auf Gewaltverzicht und Liebe ungeliebten Juden um die Ohren geschlagen wurden. Diese Geschichte läßt sich ebensowenig ungeschehen machen, wie das Neue Testament umgeschrieben werden kann. Verantwortlich und informiert mit diesem geschichtlichen Erbe umzugehen ist die Aufgabe der Heutigen, nicht Geschichtskosmetik, wie sie Goldhagen fürs Neue Testament vorschlägt.
Die jetzt vorliegende deutschsprachige Ausgabe der Spruchquelle Q trägt zu solcher Informiertheit bei. Eine internationale Forschergruppe rekonstruierte in jahrelanger philologischer und historischer Kleinarbeit den griechischen Wortlaut des Spruchbüchleins, dessen Stoffe nicht nur von den Evangelisten Matthäus und Lukas, sondern auch außerbiblischen Autoren wie dem des Thomasevangeliums zitiert wurden. Die Bamberger Neutestamentler Paul Hoffmann und Christoph Heil machen das Resultat des Forschungsprojekts der breiten deutschen Öffentlichkeit zugänglich, indem sie es mit einer geglückten deutschen Übersetzung versehen, eine historische Einleitung in das Werk liefern und Interessierte sogar den Rekonstruktionsprozeß nachvollziehen lassen. Auf diese Weise wird ein frühchristlich-jüdisches Dokument erschlossen, das einmal mehr die Pluriformität des frühen Christentums illustriert. Die romantische Vorstellung, das Christentum sei anfänglich monolithisch aufgetreten und habe erst später sich in verschiedene Richtungen aufgespalten, ist von der Forschung seit langem widerlegt, aber der Öffentlichkeit wenig bekannt. Das Spruchbüchlein Q, ein Dokument des Juden- wie des Christentums gleichermaßen, wird den jüdisch-christlichen Dialog befruchten.
PETER LAMPE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gleichzeitig mit Daniel Goldhagens umstrittener Diskussionsreise durch Deutschland, aber ohne Trommelwirbel, brachte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft die erste deutschsprachige Ausgabe eines der frühesten christlichen Dokumente auf den Markt, der sogenannten Spruchquelle Q: eines christlichen Dokuments aus dem Innern des antiken Judentums, eines Dokuments, in dem heftig innerjüdisch polemisiert und zugleich eine Wurzel abendländischen Pazifismus gelegt wurde (Paul Hoffmann [Hrsg.]: "Die Spruchquelle Q". Studienausgabe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002. 476 S., geb., 19,90 [Euro]). In der explosiven Situation vor und während des nahöstlichen Jüdischen Krieges gegen die Römer (66 bis 70 nach Christus) bildeten die Träger dieses Büchleins eine der wenigen pazifistischen Gruppen innerhalb Israels, die gegen das Eskalieren der Gewalt zu wirken suchten. Ihre Texte wurden im letzten Viertel des ersten Jahrhunderts von den Evangelisten Matthäus und Lukas aufgegriffen und vermochten so, über Jahrtausende hinweg, den abendländischen Wertekanon mitzubestimmen.
Sie waren fromme Juden, sie folgten den Vorschriften der Tora. Doch zugleich verkündeten sie Jesus von Nazareth als in naher Zukunft wiederkommenden Weltenrichter. Sie sammelten die Aussprüche, die von diesem Propheten umliefen. Sie predigten das von dem Nazarener propagierte Gottesbild - und zogen die ethischen Konsequenzen daraus: "Wie euer Vater barmherzig ist, so seid selber barmherzig." "Er läßt seine Sonne aufgehen über Schlechte und Gute", deshalb "liebt eure Feinde, damit ihr Kinder eures Vaters werdet". "Dem, der dich auf die Wange schlägt, halte auch die andere hin." Wer "Königreiche der Welt" begehre, lasse sich auf einen Pakt mit Satan ein. Die gewaltsame Machtprobe mit den Römern war für diese jüdischen Jesusanhänger keine Option.
Kein Wunder, wenn solch unbequeme Mahner nicht nur auf Gegenliebe stießen. Auf die Ablehnung reagierten sie ihrerseits mit deftiger - innerjüdischer - Polemik: "Diese Generation ist böse." Sie solle sich an einer Ausländerin wie der Königin von Saba ein Beispiel nehmen, die, anstatt Wahrheit zu verachten, dereinst Reisestrapazen nicht scheute, um Salomos Weisheit zu hören. Im Weltgericht werde "von dieser Generation" Israels das Blut aller Propheten "eingefordert" werden, die Israel in seiner langen Geschichte tötete. "Wehe euch, ihr baut die Grabdenkmäler für die Propheten, die eure Väter getötet haben." Starke Worte aus dem Mund von Juden - aber keine "antisemitischen" Äußerungen, wie Goldhagen glauben machen will.
In der innerjüdischen Streitkultur wurde stets mit scharfen Waffen gefochten. Und die Propheten, die dieses Spruchbüchlein zusammenstellten, zögerten nicht, auch ihre eigenen Jesus-gläubigen Anhänger innerhalb Israels mit dem Zorngericht Gottes zu bedrohen: "Wer zwar hört, aber nicht tut, baut sein Haus auf den Sand. Die Sturzbäche kommen, und der Einsturz ist gewaltig." Treulose Diener wird der Weltenrichter "vierteilen". Zimperlich waren sie nicht mit ihren Worten, diese Propheten, die sich innerhalb Israels auf Jesus beriefen.
Problematisch wurde ihre Polemik erst, als diese später in einer vornehmlich heidenchristlichen, von Israel abgenabelten Kirche hämisch zitiert wurde. Einem Evangelisten Matthäus, auch er Jude von Geburt und dem Toragehorsam verpflichtet, ist zugute zu halten, daß er die schroffen Gerichtsaussagen der Spruchquelle Q gegen Israel noch nicht aus schadenfroher Distanz überlieferte, sondern seinen von den Synagogen bereits getrennten Christengemeinden ein ebensolches Gericht in Aussicht stellte, wenn sie nicht "Gerechtigkeit" übten. Bei Judenchristen wie Matthäus und Paulus war Kritik an Israel unauflösbar mit christlicher Selbstkritik verbunden, was eine unbequeme, aber bleibende Herausforderung des Neuen Testaments für die abendländische Kultur darstellt.
"Antisemitisch" wurden markige Zitate wie die aus der Spruchquelle Q erst dort, wo sie in der abendländischen Rezeption des Neuen Testaments ohne solche Selbstkritik und ohne die neutestamentliche Besinnung auf Gewaltverzicht und Liebe ungeliebten Juden um die Ohren geschlagen wurden. Diese Geschichte läßt sich ebensowenig ungeschehen machen, wie das Neue Testament umgeschrieben werden kann. Verantwortlich und informiert mit diesem geschichtlichen Erbe umzugehen ist die Aufgabe der Heutigen, nicht Geschichtskosmetik, wie sie Goldhagen fürs Neue Testament vorschlägt.
Die jetzt vorliegende deutschsprachige Ausgabe der Spruchquelle Q trägt zu solcher Informiertheit bei. Eine internationale Forschergruppe rekonstruierte in jahrelanger philologischer und historischer Kleinarbeit den griechischen Wortlaut des Spruchbüchleins, dessen Stoffe nicht nur von den Evangelisten Matthäus und Lukas, sondern auch außerbiblischen Autoren wie dem des Thomasevangeliums zitiert wurden. Die Bamberger Neutestamentler Paul Hoffmann und Christoph Heil machen das Resultat des Forschungsprojekts der breiten deutschen Öffentlichkeit zugänglich, indem sie es mit einer geglückten deutschen Übersetzung versehen, eine historische Einleitung in das Werk liefern und Interessierte sogar den Rekonstruktionsprozeß nachvollziehen lassen. Auf diese Weise wird ein frühchristlich-jüdisches Dokument erschlossen, das einmal mehr die Pluriformität des frühen Christentums illustriert. Die romantische Vorstellung, das Christentum sei anfänglich monolithisch aufgetreten und habe erst später sich in verschiedene Richtungen aufgespalten, ist von der Forschung seit langem widerlegt, aber der Öffentlichkeit wenig bekannt. Das Spruchbüchlein Q, ein Dokument des Juden- wie des Christentums gleichermaßen, wird den jüdisch-christlichen Dialog befruchten.
PETER LAMPE
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Spruchquelle Q ist "eines der frühesten christlichen Dokumente", entstanden innerhalb der frühchristlichen Kreise Israels und somit Zeugnis innerchristlicher Auseinandersetzungen. Gefordert wird in dem pazifistisch orientierten Text "Barmherzigkeit" auch gegen den Feind - wenngleich dem Widerspruch nicht immer sanft, sondern mit "deftiger - innerjüdischer - Polemik" geantwortet wird. Gott werde, heißt es, wenig zimperlich, die Treulosen "vierteilen". Keinesfalls aber, mahnt der Rezensent Peter Lampe, dürfe man den Kontext außer Acht lassen: sonst nämlich ließe sich die Polemik - was geschehen ist - "antisemitisch" instrumentalisieren. Umso wichtiger der "verantwortliche" Umgang mit dieser Quelle - den, kritisiert Lampe, etwa Goldhagen vermissen lasse. Die Ausgabe selbst sei im übrigen vorbildlich: die Übersetzung wie die Einleitung sind "geglückt", der Text werde so einer "breiten deutschen Öffentlichkeit" zugänglich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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